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Nachhaltige Krankenkassen: „Es gab auch Maßnahmen, die erst nicht verstanden wurden“

Foto: imago/Ikon Images

Beim Thema Krankenkasse denkt man nicht sofort an Nachhaltigkeit. Doch in der konservativen Branche gibt es Vorreiter*innen. Andreas Eurich von der Barmenia und Andreas Schöfbeck von der BKK ProVita erklären, welche Rolle gerade Versicherungen beim Klimaschutz zukommen kann.

Warum ist Nachhaltigkeit in Ihren Häusern ein zentrales Thema?

Eurich: Wir haben uns bei der Barmenia vor langer Zeit dazu entschlossen, nachhaltige Krankenversicherungen anzubieten und haben alternative Behandlungsmethoden in die Produkte eingebaut, etwa Naturheilverfahren. Das war damals völlig unüblich. Zudem haben wir beschlossen die Alterungsrückstellungen, also das Geld unserer Kund*innen, erst teilweise, später fast ausschließlich nachhaltig zu investieren. Die Idee ist vor fast 20 Jahren im Austausch mit einem wichtigen Vertriebspartner entstanden. Heute sind wir ein Haus, dessen gesamte Kultur nachhaltig geprägt ist.

Gab es politische oder persönliche Erlebnisse im Team, die für die Entscheidung, sich als nachhaltige Krankenkasse aufzustellen, wichtig waren?

Eurich: Wir haben das Thema aus persönlicher Überzeugung vorangetrieben.

Schöfbeck: Bei mir gibt es auch einen persönlicheren Hintergrund. Mein Sohn wurde im Alter von zwei Jahren schwer krank. Daraufhin haben wir als Familie unseren Lebensstil grundlegend verändert. Später ist auch meine eigene Gesundheit dazugekommen. Ich hatte mehrere Bypässe und habe meine Ernährung komplett umgestellt, lebe heute vegan. Außerdem kann man das Thema Gesundheit nicht von Umweltfaktoren trennen. Ich habe mich intensiv mit „Planetary Boundaries“, den Belastungsgrenzen unseres Planeten, beschäftigt. Fakten zeigen Zusammenhänge auf. Wir müssen den Menschen Zusammenhänge erklären, dann verändern sie ihr Verhalten.

War es anfangs schwierig, Bewusstsein zu schaffen?

Eurich: Natürlich war nicht sofort die gesamte Belegschaft dem Thema zugänglich. Je intensiver die Auseinandersetzung ist, umso leichter geht es in die Kultur über – und wird langsam eine Selbstverständlichkeit. Nachhaltigkeit kann man nicht von oben verordnen. Es gab auch Maßnahmen, die erst nicht verstanden wurden. Als in den Nassbereichen nur noch jeder zweite Hahn warmes Wasser hatte, haben einige mit den Köpfen geschüttelt. Dies war eine Maßnahme unseres Energie- und Umweltmanagements. Durch unseren Nachhaltigkeitsbeauftragten ist der Austausch mittlerweile institutionalisiert.

Schöfbeck: Ich habe die Transformation von der Unternehmensspitze angefangen, es geht natürlich – wie bei der Barmenia – auch umgekehrt. Unsere erste Gemeinwohl-Bilanz (Unternehmensbewertung hinsichlich ökologischer, sozialer und weiterer Aspekte neben rein ökonomischen Kategorien, Anm. d. Red.) für die Jahre 2014/15 war vor allem eine Situationsbeschreibung – eine tolle Erfahrung. Der Fragenkatalog der Gemeinwohl-Ökonomie wurde für uns zu einem wunderbaren Instrument der Organisationsentwicklung. Wir haben erstmals klar gesehen, was wir gemeinsam im Unternehmen verändern können. Natürlich gab es anfangs auch große Skepsis. Ein Kollege hat zunächst gesagt: „Das sind ja kommunistische Ansätze.“ Durch den Prozess und die Auseinandersetzung mit den Themen der Gemeinwohl-Ökonomie hat sich seine Meinung geändert. Wir haben festgestellt: Es braucht einen hauptamtlichen Nachhaltigkeitsbeauftragten im Unternehmen, der Themen und Kommunikation zusammenführt.

Wollen Bewerber*innen zu Ihnen, weil sie sich als nachhaltige Krankenkasse positioniert haben?

Eurich: Nachhaltigkeit ist bei uns kein ausschließlicher Treiber für Bewerbungen. Würden wir das Thema aber negieren, wären wir, so das Feedback der Bewerber*innen, kein spannender Arbeitgeber. Wir verwalten als Unternehmensgruppe 15 Milliarden Euro an Kund*innenengeldern. Wenn wir Geld in Staaten oder Unternehmen investieren würden, die gegen Sozialkriterien wie Menschenrechte oder Umweltstandards verstoßen, wäre dies schnell sichtbar. Bewerber*innen würden uns das zu Recht um die Ohren hauen.

Schöfbeck: Wir bekommen mittlerweile Initiativbewerbungen, die sich auf unsere Gemeinwohl-Bilanz beziehen.

Krankenkasse wechseln
Auch wenn alle Krankenkassen erst mal recht ähnlich wirken – einige davon sind richtig grün! (Foto: CC0/pixabay/Free-Photos)

Wo wird bei Ihnen im Unternehmen der Impact messbar?

Eurich: Wir haben 2014 die Prinzipien für verantwortungsvolles Investieren der Vereinten Nationen unterzeichnet und Ausschlusskriterien für Staaten und Unternehmen festgelegt. Damit können wir viel beeinflussen. Natürlich haben wir auch in regenerative Energien investiert, aber zu einer echten Impact-Messung gehört in der Kapitalanlage mehr. Wir beschäftigen uns derzeit damit, diese Zuordnungen genauer zu analysieren. Dazu gehört es auch, die gesetzlichen Vorschriften der EU im Rahmen des Green Deal zu berücksichtigen. Unser Wuppertaler Hauptsitz mit mehr als 90 Prozent unserer Mitarbeiter*innen wirtschaftet seit 2015 klimaneutral. Da, wo wir den CO2-Ausstoß noch nicht komplett vermeiden können, kompensieren wir durch Investitionen in internationale Klimaschutzprojekte nach Gold-Standard. Wir haben feste Ziele und Produkte, in die explizit nachhaltige Komponenten eingebaut sind. Ein Beispiel sind die von uns angebotenen Hausratversicherungen: Unsere Kund*innen können kaputte Elektrogeräte durch Modelle der besten Energieeffizienzklasse ersetzen, auch, wenn das viel teurer ist. Unsere Einkaufsrichtlinien haben ebenfalls Strukturen geschaffen, da sie neben den wirtschaftlichen Aspekten auch Sozial- und Umweltkriterien berücksichtigen. So bieten wir in unserer Kantine Produkte von regionalen Anbieter*innen an, die klaren Nachhaltigkeitskriterien entsprechen. Unsere IT wurde energieeffizient umgerüstet.

Schöfbeck: Die Gemeinwohl-Bilanz funktioniert über ein Bewertungssystem, das alle relevanten Werte und Berührungsgruppen anspricht. Wir haben bei unserer dritten Bilanz für die Jahre 2018/19 stolze 790 von 1.000 Punkten erreicht – eine deutliche Steigerung innerhalb der drei Gemeinwohl-Bilanzen. Beispielsweise nutzen wir 100 Prozent Ökostrom, heizen mit Fernwärme und verwenden Regenwasser für die Toilettenspülungen. Und wir versuchen, die Arbeitswege der Mitarbeitenden zu reduzieren. Aufgrund unserer Gemeinwohl-Bilanzen haben wir festgestellt, dass 70 Prozent unseres CO2-Ausstoßes darauf entfallen. Deshalb haben wir schon vor Corona alternierende Heimarbeit eingeführt. So war bereits eine Grundstruktur vorhanden und die Situation während des Lockdowns einfacher zu bewältigen. Unser Vertrieb wird mehr und mehr auf Telefonberatung umgestellt. Früher war ein Außendienstmitarbeitender etwa 80 Prozent der Zeit im Auto unterwegs, heute sind es nur noch 30 bis 40 Prozent.

Eurich: Auch bei uns ist das Thema mobiles Arbeiten durch Corona noch stärker im Fokus. Zeitweise waren bis zu 90 Prozent der Belegschaft im Homeoffice. Neu ist auch die Videoberatung von Kund*innen. Wir hoffen, die Fahrten nach der Coronakrise so auch weiter zu reduzieren.

Wie stellen Sie sicher, Kund*innengelder wirklich nachhaltig zu investieren?

Eurich: Unsere Kapitalverwaltungsgesellschaft und die Assetmanager*innen kennen unsere Ausschlusskriterien und wissen, welches Werteverständnis sie bei der Vorauswahl der Investitionen ansetzen müssen. Hinzu kommt ein Screening mithilfe des externen, spezialisierten Beraters MSCI ESG (Anbieter von Nachhaltigkeitsanalysen und -ratings, Anm. d. Red.). Unser Portfolio ist weltweit diversifiziert. Unser System ist doppelt gesichert. Im Kapitalanlagebereich haben wir eine eigene Nachhaltigkeitsbeauftragte. Unser Controlling schließt fragwürdige Konstellationen nahezu gänzlich aus.

Schöfbeck: Als gesetzliche Krankenkasse funktioniert die BKK ProVita anders als die Barmenia. Wir verwalten nicht derartig große Summen und tätigen keine langfristigen Anlagen. Wir haben unsere Liquiditätsreserve zu verwalten, das sind in etwa 50 Millionen Euro. Darum kümmern wir uns im Haus selbst. Die gesetzlichen Vorgaben sind streng, wir arbeiten meist mit Termingeld-Anlagen und achten darauf, dass unsere Anlagen nachhaltig investiert werden. Dazu haben wir einen Anlage-Leitfaden entwickelt.

Wie bewerten Sie den aktuellen Stellenwert der Nachhaltigkeit in unserem Gesundheitssystem?

Eurich (lacht): Dort schlummern erhebliche Effizienzpotenziale. Nur ein konkretes Beispiel: Ich kann anhand unserer Abrechnungsdaten erkennen, wie viele Untersuchungen, etwa in der Radiologie, unnötig doppelt stattfinden. Das kann eigentlich nicht sein.

Schöfbeck: Das Krankenversicherungsgeschäft ist ein sehr konservatives. Wir arbeiten zwar an dem Thema, aber die Konsequenzen des Klimawandels für die Gesundheit sind trotz wissenschaftlicher Belege noch nicht ausreichend im Bewusstsein der Akteur*innen und Verantwortlichen angekommen. Ich bemerke allerdings ein zartes Erwachen. Der Dachverband der Betriebskrankenkassen und unser Landesverband haben uns darum gebeten, auf Klausurtagungen unsere Nachhaltigkeits-Kompetenz einzubringen. Ein kleiner Workshop hat bereits Anfang des Jahres stattgefunden – bei dem auch ein Mitarbeiter des Bundesgesundheitsministeriums dabei war. Mittlerweile gibt es dort nämlich ein Referat zum Thema Nachhaltigkeit. Die dortigen Mitarbeiter*innen fragen sogar bei uns nach. Das freut mich sehr. Ich hoffe, dass spätestens nach der Bundestagswahl 2021 neue Impulse aus der Politik kommen.

Rechtlich ist die Situation der gesetzlichen Kassen aber nicht einfach, oder?

Schöfbeck: Nach dem Sozialgesetzbuch V (SGB V) sind wir verpflichtet, wirtschaftlich und sparsam zu handeln. Stünde dort auch „nachhaltig“, wäre mir rechtlich eine große Sorge genommen. Es ist normal, dass Vorreiter*innen für eine gute Sache oft Widerstände erfahren und mitunter höhere Hürden – auch rechtlicher Art – nehmen müssen. Im Bundeskanzleramt ist Nachhaltigkeit fest verankert und spielt eine große Rolle. Leider wird aber der gleiche Maßstab noch nicht bei Körperschaften des öffentlichen Rechts, wie wir es sind, angelegt. Hier wäre eine rechtliche Klarstellung vonseiten des Gesetzgebers erforderlich. Ich würde mir wünschen, dass im Sozialgesetzbuch formuliert wird, dass wir zur Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit, Gemeinwohlorientierung und Nachhaltigkeit verpflichtet sind.

Eurich: Bei unserer Aufsichtsbehörde, der BaFin, ist das anders. Man hat uns eingeladen, um darüber zu sprechen, wie das Thema in der Versicherungswirtschaft überhaupt platziert ist. Wir merken gerade auf der für uns regulativ wichtigen, europäischen Ebene, dass das Thema Nachhaltigkeit an Bedeutung zunimmt – sowohl in der Kapitalanlage als auch im Kerngeschäft.

Wie sieht es konkret in der Gesundheitspolitik aus?

Eurich: Zwischen der Situation vor fünf Jahren und heute liegen Welten. Man akzeptiert, dass wir als Versicherer mit der Frage, wo und ob wir ökologisch sinnvoll investieren, einen wichtigen Hebel haben. Man ist auf nationaler und europäischer Ebene nun deutlich zugänglicher.

Schöfbeck: Ich befürchte aber, dass die Politik die Wichtigkeit und Dringlichkeit des Problems noch nicht ausreichend erkannt hat. Planetary Health und die öko-sozialen Zusammenhänge spielen eine so große Rolle für die Gesundheit der Menschen und des Planeten. Ich finde kaum Politiker*innen, die dies ausreichend berücksichtigen. Die nötigen Änderungen müssen aber schnell ins Gesetz geschrieben werden.

Hat der europäische Green Deal direkten Impact auf die Branche?

Eurich: Finanzdienstleistungen und damit auch wir Versicherer sind mehr im Fokus. Man hat erkannt, dass man über unser Geschäftsmodell eine indirekte Hebelwirkung hat. Der Green Deal wird flächendeckend Wirkung entfalten.

Welche Maßnahmen würden unser Gesundheitssystem unmittelbar nachhaltiger machen?

Eurich: Man muss die regionalen Versorgungsstrukturen und die Krankenhauslandschaft überprüfen. Wenn jede*r alles machen darf, ist das aus meiner Sicht nicht ideal. Man muss das Thema Digitalisierung im Gesundheitswesen vorantreiben. Damit sind Effizienzgewinne verbunden. Darüber hinaus sollte zukünftig noch mehr in den Bereich der Bildung zum Thema Gesundheit investiert werden.

Schöfbeck: Ich würde bereits im Kindergarten und in den Schulen beginnen, ein entsprechendes Unterrichtsfach „Gesundheitskompetenzen“ einführen, in dem es um Achtsamkeit, Resilienz, Umweltschutz und Ernährung geht. Dann würde ich Anreize – durchaus finanzieller Art – für die Klimaneutralität von Gesundheitseinrichtungen schaffen, denn Pflichten sind oft kontraproduktiv. Und: Ich würde das Angebot der pflanzlichen Ernährung in allen Bereichen unseres Gesundheitssystems und des öffentlichen Lebens massiv ausweiten. Ich würde den Themen frühkindliche Bindung, Psychoneuroimmunologie und Epigenetik einen höheren Stellenwert verschaffen, damit diese Themen unmittelbare Auswirkungen auf unser Gesundheitsverständnis – auch im Sinne von Planetary Health – haben.

Interview: Jan Scheper

Andreas Eurich ist seit 2013 Vorstandsvorsitzender der Barmenia Krankenversicherung AG und der Barmenia Versicherungen a. G. in Wuppertal. Andreas Schöfbeck ist seit 2001 Vorstand der gesetzlichen Krankenkasse BKK ProVita, die in München sitzt. Foto: BKK ProVita

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