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Unsere Zivilisation zerbricht – ein Kommentar

Foto CC0 Unsplash

Wer dachte, das Thema Migration sei schon zur Bundestagswahl viel zu bestimmend gewesen und hysterisch behandelt worden, darf jetzt einmal ebenso hysterisch lachen ob der derzeitigen Diskussion. Dabei sollte uns alles andere als zum Lachen zumute sein. Wir geben gerade unsere humanistischen Ideale und den Kern unserer Gesellschaft auf.

Auf der Seite 3 ihrer aktuellen Ausgabe macht die Wochenzeitung „Die Zeit“ unter der Überschrift „Oder soll man es lassen?“ folgende Diskussion auf: „Private Helfer retten Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeer aus Seenot. Ist das legitim? Ein Pro und Contra“.

Das Thema können wir kurz abhandeln: Menschen aus Seenot zu retten ist legitim. Es ist vertretbar, vernünftig, berechtigt, begründet, moralisch einwandfrei. Menschen in einer Notsituation vor dem Tod zu bewahren ist in einer humanistisch geprägten Gesellschaft, deren gesellschaftliche Grundpfeiler die Menschenrechte bilden, ein No-Brainer.

Doch wenn diese Diskussion selbst von einer vermeintlich „zivilisierten“ Zeitung wie der „Zeit“  überhaupt aufgemacht wird, zeigt das, dass unsere Zivilisation, unsere Gesellschaft zerbricht. Es gibt keine Werte mehr, die wir noch verteidigen könnten, alles steht offensichtlich zur Disposition. Mit einer gesunden Portion Zynismus mag man aber sagen: Das ist gar nicht so schlimm, weil unser gesellschaftlicher Konsens von der Gleichheit aller Menschen offensichtlich sowieso nicht unserer Weltanschauung entspricht.

Flüchtlinge, Migranten – und ganz klarer Rassismus

Dazu einmal folgendes Gedankenexperiment: Man ersetze in der Zeile der „Zeit“ einfach nur „Flüchtlinge und Migranten“ durch irgendjemanden anderes – irgendjemanden. Sei es „Ärzte“, „Bauarbeiter“, „Fischer“, „Urlauber“ oder halt einfach mal „Menschen“, das Ergebnis bleibt gleich. Diese Diskussion würde im Gegenzug niemand anfangen zu führen. „Ist es legitim, Lehrer aus Seenot zu retten? Ein Pro und Contra.“

Heißt also: Wir führen diese Diskussion nur, weil es um „Flüchtlinge und Migranten“ geht. Um die anderen. Die, die wir hier nicht haben wollen, wie es Bauminister Horst Seehofer seit Wochen impliziert, sei es zunächst auch eher Taktik im Vorfeld der Landtagswahl in Bayern gewesen. Alles, was sein „Masterplan Migration“ sagt, ist: Wir wollen diese Leute hier nicht haben, deswegen setzen wir alles daran, dass sie die deutsche Grenze erst gar nicht überschreiten.

Und das ist Rassismus in offener und klarster Form. Wir behandeln diese Menschen anders, weil wir in ihnen eben keine gleichberechtigten Menschen sehen, denen wir die gleichen Menschenrechte zugestehen wie unsereins. Die wollen in unsere Sozialsysteme. Die können ja Schlepper bezahlen. Die wissen ja, worauf sie sich einlassen.

Dazu ein zweites Gedankenexperiment: Was muss passieren, damit Du Deine Heimat und Deine Familie verlässt? Damit Du alles verkaufst, um einen Kriminellen für eine Bootsüberfahrt zu bezahlen? Wie schlecht muss es Dir gehen, damit Du Dein Leben riskierst, um es irgendwo, irgendwann auch nur ein bisschen besser zu haben?

Akzeptieren wir den Zivilisationsbruch?

Dabei ist es mir völlig egal, ob es sich um Flüchtlinge oder Migranten handelt. Diese Menschen wollen irgendwo hin, wo es ihnen besser geht. Sie setzen ihr Leben aufs Spiel, weil alles besser ist als ihre derzeitige Situation. Wir können das nicht nachempfinden, weil wir satt, zufrieden, fett und Profiteure in einem kaputten System sind. Asyl will man den Leuten irgendwie noch zugestehen, sobald sie aber vor Hunger und Armut fliehen und als Migranten einfach nur ein anderes Label bekommen, schreit unsere Gesellschaft: Wir haben viel zu viel, um Euch was abzugeben.

Die gesamte Debatte – dass wir sie überhaupt führen – zeigt, dass wir nicht an so etwas wie die Gleichheit aller Menschen glauben. Humanismus und Menschenrechte wurden gebaut auf einer Lüge, die über Jahrhunderte wiederholt und bestärkt wurde. Das hat sie nur nicht wahrer gemacht. Wir haben über eben die gleichen Jahrhunderte immer in „wir“ und „die anderen“ gedacht. Die Grenzen haben sich mal verschoben, mal waren es die Afrikaner, mal die Juden. Am grundsätzlichen, nach unseren eigentlichen zivilisatorischen Standards völlig verqueren Menschenbild hat sich nichts geändert.

Dabei ist Rassismus ganz offensichtlich Einstellungssache: Es ist eine Entscheidung, die Welt in „wir“ und „die“ zu teilen; oder eben an die Gleichheit aller Menschen zu glauben, egal, wo sie geboren sind. Dazu gehört auch, Menschen in Not zu retten, egal, warum sie gerade in dieser Not sind. Und es gibt auch – noch – genügend Menschen, die eine Frage wie die der „Zeit“ nie aufmachen würden. Weil das die Grundfesten unserer Zivilisation von jetzt auf gleich vernichtet.

Wir haben also zwei Möglichkeiten: Wir sagen es, wie es ist, und geben unsere Utopie von Humanismus und universellen Menschenrechten auf; wir akzeptieren unseren Zivilisationsbruch. Oder wir arbeiten einfach mal an unserer verdammten Einstellung.

Gastbeitrag aus Enorm
Text: Vincent Halang

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