Wer nachts allein nach Hause geht, kennt das beklemmende Gefühl, das dunkle Unterführungen und verwaiste Plätze auslösen. Wulf Kramer meidet abstoßende Orte nicht – sondern gestaltet sie mit seinem Architekturbüro „Yalla Yalla!“. Im Interview erzählt der Mannheimer, wie man Unorten Qualität zurückgibt und warum die Politik das nicht kann.
Herr Kramer, was ist ein Unort?
Unorte sind Transiträume, an denen man sich nicht aufhält, weil sie keine Qualität haben. Oft sind es Angsträume, wie Straßen, die nachts kaum beleuchtet sind, oder Plätze, an denen keine soziale Kontrolle stattfindet. Manchmal werden sie auch gar nicht wahrgenommen und geraten in Vergessenheit, zum Beispiel Räume unter Brücken, Unterführungen oder Brachflächen.
Wie reaktiviert man einen Unort?
Der Ort muss Potential haben und die Umgebung stimmen. Eine Grünfläche bietet Raum für Konzerte, eine Bar oder Urban Gardening. Befindet sie sich auf einer Kreuzung oder neben einer Haltestelle, sehen ihn automatisch viele Menschen. Manchmal kommen wir an einem Unort vorbei und denken sofort: Hier müssen wir etwas machen! Manchmal müssen wir aber auch länger überlegen, bis uns eine realistische Idee kommt.
Welche Unorte haben Sie schon wiederbelebt?
Unsere „Haltestelle Fortschritt“ in Mannheim ist ein gutes Beispiel für Placemaking. Der Platz neben einer Haltestelle war bekannt für Drogen, Dunkelheit und sogar einen Mordfall. Die Menschen hatten jedes Vertrauen in diesen Ort verloren. Wir veranstalteten dann ein zehntägiges Kulturfestival mit Vorträgen, Filmvorführungen, Konzerten, Diskussionen und einem Urban-Hacking-Workshop. Es kamen täglich zwischen 50 und 200 Gäste. Jetzt bringen die Menschen den Ort wieder mit positiven Gefühlen in Verbindung. Mit der Stadt sind wir bereits im Gespräch, dass sie nächstes Jahr ein Budget zur Verfügung stellt.
Sie haben auch ein Kino auf zwei Lastenräder montiert.
Ja, alle zwei Wochen trafen wir uns im Stadtzentrum mit den Teilnehmern, um gemeinsam in Vororte zu radeln. Dort schauten wir Filme auf einer alten Radrennbahn, am Fluss und auf einer Fähre. Wir wollten zeigen: Die Stadt besteht nicht nur aus ihrem Zentrum. Die Peripherie bietet mit Wald, Wasser, Feldern und Brücken Orte mit vielseitiger Qualität.
Wie lange machen Sie das schon?
Robin Lang und ich gründeten „Yalla Yalla! – studio for change“ vor drei Jahren. Unsere erste Projektidee war ein Badeschiff, um Mannheims Uferflächen aufzuwerten. Leider wurde daraus bislang nichts. Wir verstehen uns als Architekten, aber nicht im klassischen Sinne. Wir entwerfen keine Gebäude, sondern betreiben mit temporären Interventionen Stadtentwicklung. Der soziale Effekt eines Pop-up-Projekts soll eine Gemeinschaft entstehen lassen, in der Menschen Verantwortung für ihr Lebensumfeld übernehmen können. Die Stadtverwaltung kann solche Projekte aber nicht allein umsetzen. Wir stoßen sie mit unseren Ideen von Außen an.
Sind Sie also die Avantgarde der Stadtentwicklung?
In dem Sinn, dass wir neue Wege bei der Stadtentwicklung gehen, ja. Bei der Projektumsetzung eher weniger: Die Avantgarde reitet ja immer allein vorneweg. Wir dagegen versuchen günstige Akteurskonstellationen aus Verwaltung, Nachbarschaftsvereinen und weiteren Initiativen zu schaffen. Die Ideen der kreativen Macher prallen oft auf das starre Baurecht und den Brandschutz. Es ist ja nicht nur schlecht, dass die Verwaltung unflexibel ist.
Das hört man nicht oft. Warum denken Sie das?
Es gibt viele Leute, die etwas bewegen möchten. Solange die Verwaltung aber ihre Silo-Struktur nicht abschafft oder viele neue Mitarbeiter einstellt, kann sie auf diese Macher kaum eingehen. Diese Lücke an der Schnittstelle zwischen Verwaltung und Quartier bietet neuen Akteuren wie uns die Chance, sich in der Stadtentwicklung zu etablieren. Wir können uns als Bindeglied einbringen. Trotzdem würde ich mir von der Politik mehr Mut zum Experiment wünschen.
Wie reagiert die Politik denn auf Sie?
Die Verwaltung weiß, dass sie von uns profitiert. Auf Zwischennutzung, also temporäre Projekte, reagierten Verwaltungen lange sehr skeptisch. Sie wollten, dass die Projekte zehn Jahre stehen. Doch wir sehen, dass sie sich öffnen und umdenken. Inzwischen beschäftigen manche Städte schon Zwischennutzungsbeauftrage. Noch ordnet die Stadt unsere Projekte dem Kulturressort zu, aber wir hoffen, dass sie unsere Aktionen bald als Stadtentwicklung begreift.
Wollen Sie nicht auch langfristige Projekte machen?
Das machen wir bereits! Wir geben kurzfristigen Input, der langfristige Wirkung erzielen soll. Erstmal zeigen wir das Potential eines Ortes auf. Beim Fahrradkino entdeckten die Teilnehmer die Qualität von Vororten. Dann leisten wir einen strategischen Beitrag, indem wir Nutzungen und Akteurskonstellationen testen und eine Vorstellung schaffen, wie Orte genutzt und bespielt werden können. Muss die Stadt dabei sein? Welche Initiativen bindet man ein? Gründet man einen neuen Verein? Dieses Wissen generiert mittel- und langfristige Effekte.
Was raten Sie Leuten, die Placemaking in ihrer Stadt betreiben möchten?
Einfach machen und ausprobieren! Natürlich muss man auch beantragen, abklären und anmelden, aber man darf sich nicht entmutigen lassen, wenn es kompliziert wird. Ich glaube, es gibt immer mehr Leute, die mitmachen wollen und sich für eine Sache begeistern lassen, als welche, die etwas dagegen haben.
GASTBEITRAG aus enorm
Text: Jan Menke
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