Lange war Wien eine reine Autostadt. Doch das ändert sich gerade: Wien möchte Fahrradhauptstadt werden. Mit einer „Radweg-Offensive“ leitet die Zwei-Millionen-Metropole an der Donau eine echte Radverkehrswende ein – mit messbarem Erfolg, wie unser Autor festgestellt hat.
Das Fahrrad und Wien? In der Vergangenheit war das keine Liebesbeziehung. In den 90er Jahren wurde das Zweirad nur für drei Prozent aller Wege genutzt; das Auto deckte 40 Prozent der Wege ab und blieb damit sogar vor dem gut ausgebauten öffentlichen Personennahverkehr für lange Zeit das wichtigste Verkehrsmittel in der österreichischen Hauptstadt.
Wien: Fahrradverkehr verdreifachte sich
Doch in den letzten Jahrzehnten setzte eine langsame, aber stetige Veränderung ein. Immer mehr Menschen stiegen plötzlich aufs Rad, die Bedeutung des Autos nahm kontinuierlich ab. Der Anteil des Fahrradverkehrs kletterte auf zehn Prozent, der Anteil des Autoverkehrs sank auf 26 Prozent. Mit einem Anteil von 32 Prozent sind Bus und Bahn gegenwärtig die wichtigste Säule der Wiener Mobilität, doch der größte Gewinner ist das Fahrrad. Die österreichische Hauptstadt befindet sich im Wandel – ein Wandel, der mit der „Radweg-Offensive” jetzt weiter verstärkt werden soll. Unser Autor hat sich Wiens Fahrradpläne genau angesehen.
„Radweg-Offensive“ als politisches Großprojekt
Die Radweg-Offensive ist ein Projekt der Wiener SPÖ (Sozialdemokratische Partei Österreichs): Seit 1945 regiert sie in der Hauptstadt ununterbrochen; in der vergangenen Amtszeit mit den Grünen, seit Ende 2020 mit den NEOS, der liberalen Partei Österreichs. Im Gegensatz zu den deutschen Liberalen nehmen die österreichischen NEOS die Klimakrise ernst, sind für den Abbau klimaschädlicher Subventionen und setzen sich in der Verkehrspolitik für weniger Autos und den „massiven Ausbau von sicheren und baulich getrennten Radwegen, Gehwegen“ und öffentlichen Verkehrsmitteln ein.
Eine gute Basis, um den Radwege-Ausbau in der Stadt weiter voranzutreiben. Die rot-pinke Koalition startete mit Amtsantritt nach eigenen Angaben die bisher „größte Radweg-Ausbau-Offensive“ in der Geschichte Wiens. 20 Kilometer neue und qualitativ hochwertige Radwege sollen pro Jahr entstehen.
In den ersten beiden Jahren wurde das Ziel mit elf bzw. 17 Kilometern zwar noch verfehlt, doch 2023 war man erstmalig im Soll: 20,2 Kilometer Radwege wurden an 53 verschiedenen Stellen gebaut, auch 2024 werden die Ausbauziele aller Voraussicht nach erreicht. Bis zur nächsten Gemeinderatswahl im kommenden Jahr will die Koalition insgesamt 100 Millionen Euro in die Radinfrastruktur investieren.
Derzeit sind es rund 60 Millionen Euro. Das Geld fließt in neue Radschnellwege, Fahrradstraßen, Einbahnstraßen und generell neue Radwege, um Lücken im bestehenden Radnetz zu schließen. Die Qualität der neuen Radwege ist dabei entscheidend: 80 Prozent werden baulich vom Autoverkehr getrennt und entsprechen damit höchsten Sicherheitsstandards. Die restlichen 20 Prozent teilen sich auf in fahrradfreundliche Einbahnstraßen und neue Fahrradstraßen.
Argentinierstraße: So sieht die neue Fahrradstraße in Wien aus
Eine solche neue Fahrradstraße entsteht gerade in der Argentinierstraße. Sie verläuft im vierten Bezirk auf 1,3 Kilometer Länge vom Hauptbahnhof bis ins Zentrum zum Karlsplatz. Das Besondere: Sie ist Österreichs erste Fahrradstraße nach niederländischem Vorbild. Dafür wurde die Straße von Grund auf neu gestaltet und kernsaniert. Derzeit wird der alte graue Belag entfernt und neuer roter Asphalt aufgetragen.
Der Geheimtipp: Die rote Farbe wird nach niederländischer Art nicht erst im Nachhinein aufgemalt, sondern im Voraus mit dem Asphalt vermischt. Dadurch haftet die rote Farbe länger und verleiht der Fahrradstraße einen edlen Look.
Neben dem neuen Asphalt werden am Straßenrand viele Parkplätze abgeschafft, um Platz für 100 neue Grünbeete zu schaffen, in denen derzeit 50 Sträucher und 70 Bäume gepflanzt werden. Noch sind die Umbauarbeiten nicht final abgeschlossen, doch das bisherige Ergebnis kann sich sehen lassen. Aus einer unscheinbaren Straße entsteht ein Meisterwerk gelungener Radinfrastruktur, das über die Grenzen Österreichs hinaus wahrgenommen wird.
Zweirichtungsradwege erhöhen die Sicherheit
Etwas weniger farbig, dafür genauso beeindruckend sind die neuen geschützten Radwege, die bereits im Rahmen der Radweg-Offensive entstanden sind. Wien setzt – anders als Deutschland – vielerorts auf sogenannte „Zweirichtungsradwege“, also Wege, auf denen Radfahrer:innen in beide Richtungen unterwegs sein können. Das hat den Vorteil, dass die Wege an manchen Stellen bis zu fünf Meter breit sind und sich bei wenig Gegenverkehr gut zum Überholen eignen. Außerdem erhöhen Zweirichtungsradwege die Sichtbarkeit und die Sicherheit der Radfahrenden.
Weniger und teure Parkplätze schaffen Freiräume
Den Platz für die neuen Radwege nimmt die Stadt vor allem von ehemaligen Parkplätzen oder Fahrspuren für Autos. 2022 führte Wien eine Parkraumbewirtschaftung im gesamten Stadtgebiet ein. Diese Neuerung machte die gesamte Stadt zur kostenpflichtigen Kurzparkzone.
Das bescherte der Stadt die nötigen Flächen, da ein Teil der Autobesitzer:innen ihre Fahrzeuge nun auf privatem Grund abstellten oder gänzlich aus der Stadt verlagerten – eine Strategie, die besonders in den bevölkerungsreichen Außenbezirken wie Floridsdorf oder Donaustadt erfolgsvorsprechend war. Auch diese Gegenden will die Stadt besser an das Radwegenetz anschließen, um Menschen mit weniger Einkommen die Möglichkeit zu geben, kostengünstig und umweltfreundlich mobil zu sein.
Wiener Idee: Einbahnstraßen und Radwege kombinieren
Eine weitere Strategie der Wiener Radweg-Offensive ist, Straßen zu Einbahnstraßen umzuwandeln und die so gewonnene Fahrspur in einen Radweg umzubauen. So geschieht es demnächst in der Mariahilfer Straße, die bereits in den vergangenen Jahren großteils in eine Fußgängerzone umgewandelt wurde und nun mit dem Bau einer Einbahnstraße auf der gesamten Länge verkehrsberuhigt wird.
Wien bedient sich hierbei eines Tricks: Wann immer in eine Straße baulich eingegriffen werden muss, sei es zum Verlegen neuer Wasser- und Wärmeleitungen oder für Straßenbahn-Renovierungen, nutzt die Stadt die Gelegenheit und plant die umweltfreundliche Neugestaltung der Straße gleich mit. So waren in der Vergangenheit Straßen nach der Renovierung plötzlich mit einem neuen Radweg oder Grünanlagen ausgestattet.
Dies minimiert einerseits die Anzahl an Baustellen und schont gleichzeitig Steuergelder und Nerven der Bevölkerung – denn Baustellen sind in Wien alltäglicher Begleiter und sorgen mancherorts neben Lärm für lästige Verzögerungen. Gleichzeitig sind sie ein Zeichen dafür, das eine Stadt ein neues Gesicht erhält. Das ist in Wien definitiv der Fall.
Wien kommuniziert Verkehrswende anders als Amsterdam und Paris
Kommunikativ fährt Wien eine andere Strategie als beispielsweise Amsterdam oder Paris. Statt groß anzukündigen, wie viele Parkplätze man pro Jahr abschaffen möchte, vermeidet man, das auch hier heiß diskutierte Thema zu sehr in den Vordergrund zu rücken. Stattdessen richtet die Stadt den Fokus vor allem auf den Zugewinn an Lebensqualität, den verkehrsberuhigte Maßnahmen bewirken. Der Wegfall von Parkplätzen wird somit nur als notwendiges Mittel kommuniziert und nicht als Zweck an sich. So vermeidet man, von rechtskonservativen Parteien in die Ideologie-Ecke gestellt zu werden.
Die Folge: Der Ausbau von Radwegen auch auf Flächen des Autoverkehrs verläuft in Wien im Vergleich zu anderen Städten relativ ruhig.
Ob das auch für die Zukunft gilt, ist ungewiss. Die Radweg-Offensive hat gerade erst begonnen und die Erfolge tragen langsam Früchte. Auf der Praterstraße, die zum gleichnamigen Freizeitpark führt, leuchtet ein grüner, fünf Meter breiter Radweg auf. Auf der Prager Straße entsteht dieses Jahr noch ein 335 Meter langer Zweirichtungsradweg und die Universitätsstraße, eine derzeit bis zu sechsspurige Hauptverkehrsachse, wird mit neuem Radweg und Grünstreifen autoarm verschlankt.
Diese und viel andere Straßen und Plätze werden in den nächsten Jahren „klimafit“ gemacht, wie die Wiener Stadtregierung ihre Strategie nennt. Perspektivisch soll der Anteil von Fuß-, Rad- und öffentlichem Verkehr 80 Prozent an den Verkehrswegen haben. Der Anteil des Autos soll dagegen auf 20 Prozent sinken.
Fazit: Wien bewegt sich, ist aber noch keine Fahrradhauptstadt
Noch gibt es viel zu tun und Kritiker:innen geht der Wandel nicht schnell genug. In der Tat ist Wien immer noch weit von einem Fahrradparadies entfernt. Das Auto dominiert weiterhin Luft, Lärm und Raum der österreichischen Hauptstadt, auch wenn seine Bedeutung schwindet.
Doch die Verkehrswende ist kein Sprint, sondern ein Marathon und die Fehler der autogerechten Stadt und Gewohnheiten der Menschen kann man nicht von heute auf morgen korrigieren. Was zählt, ist die Entwicklung und der politische Wille, eine einst autozentrierte Stadt in eine sichere und lebenswerte Stadt für alle zu verwandeln.
Auf diesem Weg macht Wien die ersten mutigen Schritte. Städte wie Paris haben eindrucksvoll gezeigt, wie schnell Veränderung möglich ist, wenn das politische und gesellschaftliche Momentum dafür vorhanden sind. Und so wächst die Wahrscheinlichkeit, dass es Bilder von vollen Radwegen, wie man sie aus Amsterdam, Utrecht oder Paris kennt, auch in Zukunft aus Wien geben wird.
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