Carla Reemtmsa ist eines der bekanntesten Gesichter der jungen Klimabewegung in Deutschland. Mit der Autorin Anja Schauberger hat sie über den Sinn des Lebens, Aktivismus und die Verantwortung der Konzerne gesprochen.
Das hier veröffentlichte Interview ist entnommen aus dem Buch „Auf der Suche nach dem Sinn“ von Anja Schauberger und Susanne Schramke, das am 20. Januar 2022 beim Knesebeck Verlag erschien.
Carla Reemtsma kümmert sich bei Fridays for Future in Deutschland um die Öffentlichkeitsarbeit. Sie hat vor Jahren den ersten Streik in Münster mitorganisiert – mittlerweile ist die Arbeit für die Organisation zum unbezahlten Vollzeitjob geworden. Nebenbei hat sie den Bachelor in Politik und Wirtschaft gemacht, nun folgt noch ein Studium in Ressourcenökonomie. Wir treffen Carla an einem sehr heißen Sommertag in Berlin – zu heiß eigentlich für einen Juni in Deutschland. Am Ufer vom
Lietzensee, einem ihrer Lieblingsorte in Berlin, lässt es sich frühmorgens noch gut aushalten. Eine kleine Brise weht, als Carla uns von der Waldbrandgefahr im Umland erzählt.
Carla Reemtsma: „Es lohnt sich um jedes Zehntel Grad zu kämpfen“
Waldbrände, Hochwasser, Klimaflüchtlinge – hast du nicht manchmal auch das Gefühl, das hat doch alles keinen Sinn?
Tatsächlich nicht, weil eine Erhitzung von 1,7 Grad immer noch besser ist als eine von zwei Grad. Die Auswirkungen sind dermaßen katastrophal, dass es sich lohnt, um jedes Zehntel Grad zu kämpfen. Und wenn man damit auch nur einen Bewusstseinswandel in der Bevölkerung erreicht.
Dass Leute diese Ungerechtigkeiten sehen, endlich verstehen, wie schlimm die Klimakrise ist und wie sie mit den rassistischen, sexistischen und kapitalistischen Ungerechtigkeiten unserer Gesellschaft zusammenhängt und diese noch weiter verstärkt.
Aber natürlich habe ich trotzdem diese Tage, an denen die Nachrichten so überwältigend sind und ich mich so unendlich klein fühle. Wir sind immer noch nur ein paar junge Menschen mit Laptop und Handy. Wie krass ist es eigentlich, dass wir das gerade machen müssen?
Wann kam es bei dir zum Umdenken? Wann war für dich klar: Ich muss da mitmachen?
Das war kein spezieller Moment. Ich fand Klima und Politik schon immer spannend. Als ich dann von zu Hause ausgezogen bin, musste ich viele Konsumentscheidungen zum ersten Mal treffen. Schnell hab ich verstanden: Es bringt wenig, in unserer WG Ökostrom zu beziehen, wenn meine Uni gleichzeitig sechs Millionen Euro bei RWE investiert.
Mein Klimaaktivismus hat dann bei Fossil Free angefangen – einer Gruppe, die sich dafür einsetzt, dass öffentliche Institutionen nicht mehr in Kohle, Öl und Gasunternehmen anlegen. Ein sehr einschneidendes Erlebnis war sicherlich, als ich bei einer Protestaktion am Tagebau in Hambach war. Ich stand vor diesem riesigen Loch, es ging 350 Meter in die Tiefe – so tief, dass man das Ende nicht sehen konnte. Bis zu dem Tag fand ich es immer etwas pathetisch, wenn Leute gesagt haben, wir beuten unseren Planeten aus, aber da war es so offensichtlich.
Was hast du dort gelernt − worauf kannst du gut verzichten?
Definitiv auf den fossilen Kapitalismus und auf alte weiße reiche Männer in Machtpositionen.
„Wie katastrophal die Folgen sind, das ist vielen nicht so richtig bewusst“
Wir wissen um die Folgen der Klimakrise, spüren sie teilweise schon. Warum machen viele trotzdem weiter wie bisher?
Ich glaube, wie katastrophal die Folgen sind, das ist vielen nicht so richtig bewusst. Wie zum Beispiel der drohende Wassermangel – schon letzten Sommer war Wasser in einigen Kommunen in Deutschland knapp. Und dieses Jahr wurde bereits im Juni die höchste Waldbrandstufe in Brandenburg ausgerufen. Im Zweifelsfall werden auch in Deutschland in zwanzig Jahren lebenswichtige Ressourcen knapp sein. Viele wissen das entweder nicht oder können es gut verdrängen – die Folgen fühlen sich noch zu weit weg an.
Hinzu kommt: Die Politik ist zu langsam, denkt nur in Legislaturperioden, in denen kurzfristige Interessen oft eine größere Rolle spielen als das große Thema Klima. Die Hälfte der Leute, die wählen gehen, sind über fünfzig – für viele ist da die Rente vielleicht doch einfach wichtiger.
Was kann man denn wirklich machen, um nachhaltiger zu leben?
Ich brauche jetzt nicht die zwanzig Tipps runterzubeten, die wir alle kennen: mehr Fahrrad, weniger Auto, weniger Fliegen, mehr regional und saisonal essen – alles gut und wichtig. Das Problem ist nur, dass das so eine Erzählung ist, die wir aufrechterhalten – von wegen jeder kann etwas mit seinem Verhalten ändern. Und das ist leider Quatsch.
Denn für 71 Prozent der weltweiten Emissionen sind hundert große Konzerne verantwortlich. Deutschlandweit ist allein der Ölkonzern Shell für zehn Prozent der Emissionen zuständig! Wenn wir zu jedem Einzelnen sagen: So, du musst das Klima-Thema nun alleine lösen, verkennen wir, wo die Hebel sind – nämlich in der Politik und Wirtschaft.
Für eine klimagerechte Zukunft braucht es klare Gesetze, anstatt darauf zu hoffen, dass achtzig Millionen Leute die richtigen Entscheidungen treffen, die sie an vielen Stellen auch gar nicht treffen können. Wer auf dem Land wohnt, muss Auto fahren. Wer wenig Geld hat, kann nicht immer nachhaltig einkaufen.
Aber zurück zu deiner Frage: Was wirklich jeder tun kann, ist, sich zu informieren und zu engagieren. Und das reicht oft schon! Von wählen gehen bis dazu eine Demo zu organisieren, mit Freunden und Verwandten über das Thema zu sprechen. Wir müssen weg von der Illusion, die wir von nachhaltigem Konsum haben. Bambus-Zahnbürsten werden nicht die Welt retten!
„Sinn des Lebens – das klingt so groß. Ich denke im Moment nicht über ein ganzes Leben nach, sondern eher kürzer: Macht das, was ich gerade tue eigentlich Sinn?“
Findest du deinen Sinn vor allem in deiner Arbeit als Aktivistin?
Auf jeden Fall, aber nicht nur. Denn Aktivismus macht man ja immer, weil man im jeweiligen Thema einen größeren Sinn sieht. Es ist keine Arbeit, für die man bezahlt wird, sondern man macht sie, weil es wichtig und richtig ist.
Wann fühlst du dich denn hierbei besonders lebendig?
Wenn wir Aktionen planen: Am Anfang ist da immer viel Strukturgerödel, Überlegungen und Orga. Alles ist ein bisschen zäh, aber dann gibt es diesen Punkt, an dem es losgeht. Ich komme dann in einen sehr schönen Modus, in dem ich viel schaffe, aber auch viel um mich herum passiert.
Ich fühle mich aber auch sehr lebendig, wenn ich zum Beispiel dachte, ich gehe heute Abend früher nach Hause und plötzlich sitze ich um zwei Uhr morgens beim Späti und trinke noch ein Bier: „Muss ich nicht eigentlich morgen früh aufstehen? Ach, egal!“
Und was ist für dich persönlich der Sinn des Lebens?
Ich habe eigentlich nie aktiv drüber nachgedacht und festgelegt: Mein Sinn ist, die Welt besser zu machen und deswegen werde ich Klimaaktivistin. Oder: Ich möchte irgendwann Kind, Haus und Garten. Das ist vielleicht auch eher ein Ziel als ein Sinn.
Sinn des Lebens – das klingt so groß. Ich denke im Moment nicht über ein ganzes Leben nach, sondern eher kürzer: Macht das, was ich gerade tue eigentlich Sinn? Geht es meinen Mitmenschen und mir gut damit? Stellt es die Ungerechtigkeiten unserer Welt infrage?
Welche Rolle spielt denn die Beziehung zu deinen Mitmenschen, wenn es um den Sinn des Lebens geht?
Beziehungen zu anderen Menschen machen für mich sehr viel aus. Theoretisch könnte ich viele der aktivistischen Aufgaben auch ohne eine persönliche Beziehung zu den anderen Menschen alleine vor dem Laptop erledigen, aber für mich ist das ein ganz elementarer Bestandteil davon. Ohne die klugen Gedanken, motivierenden Ideen und das Gefühl nicht alleine zu sein, hätten viele sicherlich schneller aufgehört, für eine klimagerechte Gesellschaft zu streiten.
„Mehr machen und weniger denken“
Welchen Ratschlag würdest du jenen mitgeben, die noch auf der Suche nach ihrem Sinn sind?
Mehr machen und weniger denken. Meistens trägt man schon in sich, welche Werte einem grundsätzlich wichtig sind. Wenn man dann in diese Richtung geht, merkt man recht schnell, ob sich das sinnvoll anfühlt oder nicht. Vor allem das Machen ist wichtig! Lieber verschiedene Dinge ausprobieren, als immer zu hadern, weil man denkt, man könnte scheitern.
Also geht Freiheit immer vor Sicherheit?
Wenn man Freiheit sehr egalitär denkt, dann ist sie auch immer eine Form von Sicherheit. Man kann in einer Welt nur frei sein, in der es materielle Sicherheit gibt. Das bedeutet, dass eine materielle Grundversorgung gewährleistet ist und man keine Angst vor staatlicher Repression, vor Terror, Übergriffen und Rassismus haben muss. Erst wenn das gesichert ist, dann kann jede und jeder die Freiheit auch nutzen.
Sehr wahr! Was hast du sonst bisher über das Leben gelernt?
Dass vieles anders kommt, als man denkt – und dass man sich da weniger Stress machen sollte. Außerdem dass es wichtig ist, Dinge zu hinterfragen und sich eine Meinung zu bilden, auch wenn es anstrengend ist. Und für die Dinge einzustehen, von denen man überzeugt ist, und zu kämpfen für das, was man richtig findet.
Das Buch: Auf der Suche nach dem Sinn
Anja Schauberger (Interviews), Susanne Schramke (Fotos): Auf der Suche nach dem Sinn. 40 Gespräche über das Leben.
Knesebeck Verlag
Klappenbroschur, 272 Seiten, mit 120 farbigen Abbildungen
Preis: 28 Euro [D], 28,80 Euro [A]
ISBN 978-3-95728-520-1
Erscheinungstermin: 20. Januar 2022
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