Wenn es nach dem Wirtschaftsministerium geht, soll das Energiewende-Monitoring zum Ausgangspunkt einer neuen Energiepolitik werden. Doch Expert:innen haben Zweifel – vor allem an den Ableitungen von Ministerin Reiche. Utopia.de hat bei der bekannten Ökonomin und Energieexpertin Claudia Kemfert nachgefragt, wo sie Fehler und wo Chancen sieht.
Das Wirtschaftsministerium unter Ministerin Katherina Reiche (CDU) hat ihren lange angekündigten „Realitätscheck“ der Energiewende veröffentlicht und daraus zehn „Schlüsselmaßnahmen“ abgeleitet.
Im Kern steht eine neue Prognose für den zukünftigen Strombedarf und die Forderung, dass sich der Ausbau von erneuerbaren Energien, Netzen und Speichern daran orientiert – und dass die Kosteneffizienz über allem steht.
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Wird die Energiewende jetzt abgewürgt?
Bereits vorab warnten zahlreiche Stimmen aus Politik, Industrie und Gesellschaft vor der Energiepolitik der Wirtschaftsministerin. Die renommierte Energieökonomin und Politikberaterin Claudia Kemfert etwa forderte: Die jetzige Regierung sollte keinesfalls „den mühselig erarbeiteten Ausbau der erneuerbaren Energien, insbesondere der Windenergie, abwürgen unter dem Deckmantel der ‘Kosteneffizienz’ oder dem angeblich fehlenden Netzausbau.“
Nun argumentiert Ministerin Reiche unter Berufung auf den Monitoringbericht: Etwas weniger Ausbau, etwas mehr „Technologieoffenheit“ und Kostenersparnisse seien drin – schließlich brauche Deutschland gar nicht so viel Strom wie angenommen. Ist die Befürchtung der Energieexpertin also eingetreten?
Utopia.de hat Claudia Kemfert gebeten, den Monitoringbericht und Reiches Zehn-Punkte-Plan kurz einzuordnen.
Energieökonomin Claudia Kemfert im Kurz-Interview
Utopia.de: Der Energiewende-Monitoringbericht geht von einem niedrigeren zukünftigen Strombedarf aus (600-700 Terawattstunden im Jahr 2030) als noch die Ampel-Regierung (750 TWh). Wird der künftige Strombedarf ihrer Ansicht nach realistisch eingeschätzt?
Claudia Kemfert: Ein Strombedarf von 600 bis 700 Terawattstunden bis 2030 ist zu niedrig. Wenn wir Industrie, Wärme und Verkehr wirklich elektrifizieren, brauchen wir deutlich mehr Strom.
Ministerin Reiche deutet einen geringeren Ausbau bei Offshore-Windanlagen und weniger Netzausbau dank mehr intelligenter Steuerung und Planung an. Zu Recht?
Intelligente Steuerung und Flexibilität sind wichtig, aber sie ersetzen keinen Ausbau. Wir brauchen mehr Windkraft auf See und an Land sowie starke Netze – sonst gefährden wir Versorgungssicherheit und Klimaziele.
Sie haben kürzlich im Magazin für Energiewirtschaft geschrieben, das Monitoring berge Chancen – aber nur, wenn es auch die volkswirtschaftlichen Kosten der Klimakrise berücksichtige. Das ist nicht passiert. Stecken trotzdem Chancen drin?
Ja, wenn wir die Chancen für ein flexibles Energiesystem nutzen: Speicher, Lastmanagement und Digitalisierung senken Systemkosten und machen die Energiewende effizienter.
Ansätze für ein Gesamtkonzept sind erkennbar – Flexibilität, Netzintegration und Sektorkopplung. Entscheidend ist, dass jetzt auch die Umsetzung folgt.
Wasserstofffähige Gaskraftwerke: „leeres Versprechen“
Wo stehen wir Ihrer Einschätzung nach 2030 und wo 2045, wenn die Bundesregierung die Maßnahmen aus Reiches Zehn-Punkte-Plan umsetzt?
2030 sind 80 Prozent Erneuerbare erreichbar – wenn wir den Ausbau von Netzen, Speichern und Flexibilitäten endlich beschleunigen. 2045 erreichen wir Klimaneutralität nur mit einem ganzheitlich gedachten Energiesystem.
Dazu zählt die Wirtschaftsministerin auch neue Gaskraftwerke, die „perspektivisch“ auf Wasserstoff umstellbar sein sollen. Wie realistisch ist es, dass bis 2030 „H2-ready“ Gaskraftwerke stehen?
Das ist unwahrscheinlich. Wasserstoffproduktion und Infrastruktur sind bis dahin nicht im nötigen Umfang vorhanden – ‚H2-ready‘ bleibt vorerst ein leeres Versprechen.
Und was ist mit der Ankündigung der Ministerin, in Zukunft stärker auf importierten blauen („kohlenstoffarmen“) Wasserstoff zu setzen?
Blauer Wasserstoff ist keine Lösung. Er verlängert fossile Abhängigkeiten und ist weder nachhaltig noch klimafreundlich.
„Bürger-Solar ist Rückgrat der Energiewende“
Ein weiterer Plan von Frau Reiche: Sie will die Einspeisevergütung für private Photovoltaik-Anlagen beenden – angeblich rechnen sich die Anlagen auch so. Wie sehen Sie das?
Die Abschaffung der Einspeisevergütung für private Photovoltaik ist ein Fehler. Bürger-Solar ist Rückgrat und Akzeptanzmotor der Energiewende – dafür braucht es Investitionssicherheit.
Haben Sie einen Rat für Bürger:innen, die jetzt vor der Entscheidung für eine neue Solaranlage oder Heizung stehen?
Jetzt handeln: PV-Anlagen und Wärmepumpen lohnen sich. Sie machen unabhängig, sparen Kosten und bringen Flexibilität ins Energiesystem.
Über Claudia Kemfert
Prof. Dr. Claudia Kemfert leitet seit 2004 die Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und ist Professorin für Energiewirtschaft und Energiepolitik an der Leuphana Universität. Sie ist Ko-Vorsitzende im Sachverständigenrat für Umweltfragen beim Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit, sowie im Präsidium der deutschen Gesellschaft des Club of Rome.