Ein Kind, das heute verhungert, wird ermordet. Mit diesem radikalen Perspektivwechsel bekämpft Jean Ziegler unsere kannibalistische Wirtschaftsordnung. Barbarische Banken, gewissenlose Wirtschaftskonzerne und widersinnige internationale Vereinigungen brandmarkt er als die Schuldigen für den Hunger der Welt. Aber reicht die Verantwortung auch bis zu jedem Einzelnen von uns?
„Zunächst schwillt das Gesicht des Kindes an, dann zerfrisst die Nekrose allmählich alle weichen Gewebe. Lippen und Wangen verschwinden, klaffende Löcher tun sich auf. Die Augen hängen nach unten, da der Knochen der Augenhöhle zerstört wird. Der Kiefer wird unbeweglich. Die Narbenbildung entstellt das Gesicht. Da der Kiefer blockiert wird, kann das Kind den Mund nicht mehr öffnen. Daraufhin bricht die Mutter die Zähne an der einen Seite heraus, um dem Kind Hirsesuppe einflößen zu können … in der verzweifelten Hoffnung, die graue Flüssigkeit könne verhindern, dass das Kind verhungert“.
Wer den Hunger gesehen hat, kann mit Worten erschüttern – vielleicht noch mehr als es jene Momentaufnahmen von dürren Kindern mit Blähbäuchen vermögen, die in den Medien zur traurigen Gewohnheit geworden sind. Die obige Beschreibung der „Noma“ – eine Hungerkrankheit, die als Folge von Mangelernährung auftritt und zu ihrem Beginn noch mit einfachsten Mitteln (angemessene Ernährung und Desinfektionsmittel) aufgehalten werden könnte – stammt aus Jean Zieglers neuestem Buch „Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der dritten Welt“. Der Schweizer Autor war der erste UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Zurzeit ist er Vizepräsident des beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrates. Seit Jahren gibt Jean Ziegler mit seiner Arbeit dem Hunger ein Gesicht und den Hungernden eine Stimme. Formal gleicht seine Arbeit der eines organisierten Samariters, inhaltlich ist sie ein diskursiver Kampf, mit dem er sich viele Feinde macht.
Ein Kind, das heute verhungert, wird ermordet
„In Afrika verhungern Kinder“ – ist das heute noch eine Nachricht? Verhungernde Kinder in den ärmsten Ländern der Welt erscheinen im neoliberalen Kollektivbewusstsein irgendwie als legitim, fast wie ein unabänderliches Naturgesetz. Jean Ziegler hat dieses Weltbild des Hungers umgestürzt. Sein Blick lässt für die Legitimation des Welt-Hungers „natürliche“ Gründe allein nicht mehr gelten. Naturkatastrophen können zwar konjunkturell Hungerkrisen verursachen, aber anders als noch vor einigen Jahrzehnten gibt es heute keinen permanenten objektiven Mangel an Lebensmitteln mehr – das Problem ist nicht die Produktion, sondern der Zugang zu Nahrung. „Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. Und das auf einem Planeten, der grenzenlosen Überfluss produziert“, schreibt Ziegler. 57000 Menschen sterben pro Tag an Hunger. Eine Milliarde Menschen sind permanent schwerst unterernährt. Nicht weniger als zwölf Milliarden Menschen könnten mit dem augenblicklichen Zustand der Weltlandwirtschaft ausreichend versorgt werden. Wir haben es also nicht mit natürlicher Knappheit, sondern mit einem menschgemachten Problem der Verteilungsgerechtigkeit zu tun: „Insofern ist die Situation alles andere als unabwendbar. Ein Kind, das am Hunger stirbt, wird ermordet.“, meint Jean Ziegler.
Jean Ziegler (2012) Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der dritten WeltMünchen: Bertelsmann. ISBN: 3570101266
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Die mörderischen Mechanismen der kannibalistischen Wirtschaftsordnung
Wenn es keine „natürlichen“ Umstände mehr sind, die Menschen verhungern lassen, muss jemanden dafür verantwortlich sein. Jean Ziegler schreibt die Schuld entmenschlichten Akteuren zu, die unsere globale Welt lenken: Zehn monströse Wirtschaftskonzerne, die 85 Prozent der weltweit gehandelten Lebensmittel kontrollieren, barbarisch spekulierende Banken und internationale Organisationen (z.B. WTO, IWF und Weltbank), die fatale Entscheidungen treffen und damit das Hungerproblem verschärfen. In einer „kannibalistischen Wirtschaftsordnung“ sorgen diese machtvollen Dirigenten insbesondere durch vier „mörderische Mechanismen“ für den Hunger auf der Welt: (1.) Die Börsenspekulation mit Grundnahrungsmitteln – sie lässt die Rohstoffpreise für Nahrungsmittel explodieren, so dass sich die Menschen in den ärmsten Ländern diese nicht mehr leisten können. (2.) Der zunehmende Einsatz von Agrartreibstoffen – hunderte Millionen Tonnen Nahrungsmitteln werden als Treibstoff verbrannt, obwohl alle fünf Sekunden ein Kind verhungert. (3.) Die Überschuldung der ärmsten Länder – diese haben schlichtweg kein Geld, um in Bewässerung, Agrartechnik oder Dünger zu investieren. (4.) Agrardumping – aus Europa eingeführte Lebensmittel werden zu Billigpreisen angeboten, so dass einheimische Bauern nicht konkurrieren und für ihr Existenzminimum sorgen können.
Der Neoliberalismus produziert pro Jahr so viele Opfer wie das Dritte Reich
Verteilungsgerechtigkeit bedeutet also nicht nur, dass man hier ein wenig zu viel und anderswo zu wenig Nahrungsmittel hat und man den Unterschied durch eine kleine Umverteilung wettmachen könnte. Unsere kannibalistische Wirtschaftsordnung produziert systemischen Hunger. Ihre entmenschlichten Akteure – oder doch einfach wir? – entscheiden jeden Tag, wer isst und lebt, wer hungert und stirbt. Laut Ziegler sind vergangenes Jahr 52 Millionen Menschen Epidemien, verseuchtem Wasser, Hunger und Mangelkrankheiten zum Opfer gefallen. „Der deutsche Faschismus brauchte sechs Kriegsjahre, um 56 Millionen Menschen umzubringen – die neoliberale Wirtschaftsordnung schafft das locker in wenig mehr als einem Jahr.“
Wie weit geht die Verantwortung für den Hunger in der Welt?
Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind. Wer Jean Ziegler zuhört – oder auf anderem Weg über den Hunger in der Welt nachdenkt –mag sich betroffen, aber machtlos fühlen. Wenn die Schuld für den Hunger insbesondere bei anonymen Wirtschaftskonzernen und unnahbaren Größen wie internationalen Organisationen liegt, fällt es schwer, Handlungsspielräume zu denken. Dennoch: Ziegler benutzt die kollektive Ansprache: „WIR lassen sie verhungern“. Kann also doch jeder einzelne von uns etwas dafür, dass in Afrika Kinder verhungern? Die Frage nach der Verantwortung mündet unweigerlich in einer zweiten: „Was kann ich tun?“.
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