„Kam ums Leben“ – warum wir anders über Verkehrstote berichten müssen

Verkehrsunfall mit Feuerwehreinsatz
Foto: CC0 Public Domain / Pixabay -bayern-reporter

„Radfahrer bei Verkehrsunfall schwer verletzt“ oder „Fußgängerin von Lkw übersehen“ – solche Meldungen gehören zur täglichen Berichterstattung. Doch die Art, wie wir von Verkehrsunfällen berichten, ist falsch und spielt Gefahren im Straßenverkehr herunter. Das sagt ein neuer Leitfaden, den Sprachwissenschaftler:innen mit der Polizei und weiteren Expert:innen erarbeitet haben.

„Wurde von einem Pkw erfasst“ oder „kam bei einem Zusammenstoß ums Leben“: Wenn Polizei und Medien von Verkehrsunfällen berichten, verwenden sie meist eine passive, distanzierte und formelhafte Sprache. Doch so nehmen wir Verkehrsunfälle nicht als systemisches Problem wahr – stattdessen erscheinen sie als unveränderliche (Einzel-)Schicksale. Ein neuer Leitfaden will das ändern. Utopia.de hat bei einem der mitwirkenden Wissenschaftler nachgefragt, wie wir sprachlich besser über Unfälle berichten und was sich dadurch ändern kann.

Verkehrsunfälle: Jedes Jahr sterben fast 3.000 Menschen

Im Schnitt starben 2024 jeden Tag acht Menschen durch einen Verkehrsunfall, 138 weitere Menschen verletzten sich schwer und 859 Personen leicht (Zahlen des Statistischen Bundesamtes). Die Zahl von insgesamt 2.770 Verkehrstoten ist erschreckend hoch – auch wenn sie ganz leicht unter den Zahlen von 2023 und 2022 liegt. Damals starben 2.839 bzw. 2.788 Menschen im Straßenverkehr.

Die Vision Zero von null Getöteten und Schwerverletzten bleibt damit in weiter Ferne, obwohl sich das Bundesverkehrsministerium zu diesem Ziel bekennt und bis 2030 die Zahl der Verkehrstoten um 40 Prozent senken möchte. Dafür muss die Politik stärker in die Verkehrssicherheit investieren und unter anderem Rad- und Fußwege räumlich von Autospuren trennen. Doch das Projekt „Sprachkompass“ kommt zum Schluss: auch eine andere Sprache in der Unfallberichterstattung könnte helfen.

Appell: Verkehrsunfälle nicht als Schicksale beschreiben

Fachleute aus Linguistik und Sozialwissenschaften des Forschungsinstituts für Nachhaltigkeit (RIFS), des Centre for Development and Environment der Universität Bern und des Instituts für Sprachwissenschaft der Universität Wien sowie Expert:innen von Polizei, Mobilitätsplanung und Medien analysierten Unfallberichte aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sie stellten fest: Verkehrsunfälle werden meistens als schicksalhafte, unvermeidbare Einzelereignisse beschrieben.

„Die Art, wie wir über Unfälle sprechen, prägt unser Verständnis von Verantwortung und Prävention. Polizei und Medien berichten aber oft nur knapp und formelhaft über Verkehrsunfälle, die dadurch als unvermeidlich wahrgenommen werden“, erklärt Sprachwissenschaftler und Projektleiter Hugo Caviola. Medien und Polizei sollten deshalb sprachlich und inhaltlich anders über Unfälle, Verletzte und Verkehrstote berichten.

Dirk von Schneidemesser, wissenschaftlicher Projektleiter am RIFS, hat den Leitfaden mitgestaltet und ergänzt gegenüber Utopia.de: „Die systematische Gewalt, die von unserem Mobilitätssystem ausgeht, wird konsequent ausgeblendet. Erst, wenn wir uns als Gesellschaft die Gefahrenquellen bewusst machen, werden wir ernsthaft überlegen können, ob und wie wir dem entgegentreten.“

Was genau sich in der Berichterstattung ändern muss, fassen Dirk von Schneidemesser und seine Kolleg:innen im kürzlich veröffentlichten Leitfaden „Unfallsprache – Sprachunfall“ zusammen.

Neuer Leitfaden zur richtigen Sprache für Verkehrsunfälle

Die Projektbeteiligten identifizierten Änderungsbedarf in drei großen Bereichen, damit sprachlich deutlich wird, dass Verkehrsunfälle fast immer durch menschliche Entscheidungen in enger Verbindung mit unserem Verkehrssystem erfolgen:

  • Den Eindruck des Schicksalhaften vermeiden: Medien sollten die individuelle Verantwortung klar benennen, ohne dass die Unfallbeteiligten vorverurteilt werden.
  • Sicherheitsrelevante Faktoren berücksichtigen: Das bedeutet, dass Verkehrsunfälle untrennbar mit dem gegenwärtigen Verkehrssystem verbunden sind.
  • Kontext berücksichtigen: Unfälle dürfen nicht als isolierte Einzelereignisse erscheinen, deshalb sollte man sie in einen Zusammenhang mit vergleichbaren Ereignissen bringen.

Wie wir besser über Unfälle berichten

Die genannten Punkte wirken etwas abstrakt, werden aber durch die konkreten Empfehlungen klar, die der Leitfaden für Medien- und Polizeiberichterstattung gibt. Üblich ist zum Beispiel folgende Formulierung: „Es kam zur Kollision.“

Der Satz versteckt die handelnden Personen. Um zu zeigen, dass Menschen Zusammenstöße im Straßenverkehr verursachen, sind Verben deshalb besser als Nomen. Der Leitfaden schlägt diese Verbesserung vor: „A und B kollidierten“ oder „A kollidierte mit B.“

Ein weiteres gängiges Problem: Es werden Fahrzeuge statt der beteiligten Personen genannt. So wie im Satz: „Lastwagen kollidiert mit Radfahrerin.“ Besser wäre: „Lastwagenfahrer kollidiert mit Radfahrerin.“ So sind beide Beteiligten klar benannt.

Zudem formulieren Medien oft schicksalhaft wie: „Die Motorradfahrerin geriet auf die Gegenfahrbahn.“ Besser, weil aktiver formuliert ist: „Die Motorradfahrerin fuhr (aus ungeklärten Gründen) auf die Gegenfahrbahn.“

Zu oft fehlt auch der Kontext, so wie in diesem Beispiel: „Am Samstag prallte am Escher-Wyss-Platz ein Radfahrer in einen Fußgänger. Beide wurden verletzt und ins Krankenhaus gebracht.“

Besser wäre ein Zusatz wie: „Das ist die vierte Kollision auf dieser Kreuzung in diesem Jahr.“ So können Leser:innen systemische Zusammenhänge von Kollisionen besser verstehen und die Zusammenstöße erscheinen nicht als Einzelfälle.

Dirk von Schneidemesser zählt gegenüber Utopia.de die Unfallstatistik als weiteres Negativbeispiel auf: Zwar werden dort die Opfer erfasst, die Verursacher:innen aber oft nicht aufgezählt. Wie und weshalb die Verkehrstoten getötet wurden, bleibt damit oft offen. Hinzu kommt: Menschen, die sich selbstverschuldet verletzten oder töten, werden in derselben Kategorie geführt mit diejenigen, die durch das Handeln anderer Menschen verletzt bzw. getötet werden. Für von Schneidemesser „wird die Gefahrenquelle dabei ausgeblendet“.

Der Leitfaden des Projekts Sprachkompass (PDF) enthält weitere Beispiele, wie Unfallberichte bislang meist aussehen und wie man sie besser formulieren kann.

Kann Berichterstattung die Verkehrswende beschleunigen?

Dirk von Schneidemesser schätzt uns gegenüber das Potenzial als groß ein, dass mit einer sprachlich präziseren Unfallberichterstattung ein gesellschaftliches Umdenken stattfinden kann.

„Sprache prägt das Bewusstsein. Wir sprechen aber nicht über die Gefahrenquellen. Täten wir das, würden wir, glaube ich, eine größere Unterstützung für Mobilitätswendemaßnahmen sehen, wie zum Beispiel niedrigere Geschwindigkeiten oder die Umnutzung von Straßenflächen.“

Dies belegten auch die Ergebnisse einer aktuellen experimentellen Studie: Proband:innen, die Versionen eines fiktiven Unfallberichts lasen, in dem aktuell gängige Sprachmuster nach dem Leitfaden „korrigiert“ wurden, unterstützten eher strukturelle Maßnahmen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit als solche, die einen ähnlichen Bericht lasen, der aber sehr nahe an dem Status-Quo der Berichterstattung war.

Auch wenn diese Studienergebnisse Mut machen, werden solche Veränderungen Zeit brauchen. Wissenschaftler von Schneidemesser weist auf Anfrage darauf hin, dass eine präzisere Sprachnutzung bei der Polizei auch anders ablaufen würde als bei unabhängigen und dezentraler organisierten Journalist:innen. Und doch: „Alles greift ineinander und wenn die einen anfangen, vorbildlich zu texten, könnte das schnell Auswirkungen zeigen. Würde die dpa [Anm.d.Red.: Deutsche Presse-Agentur] bspw. unseren Leitfaden anwenden, wäre schnell viel in Gang gesetzt.“

Utopia meint: Nur mit Aufmerksamkeit ist Veränderung möglich

Unfallberichterstattung gehört zum journalistischen Alltag – ein möglicher Grund dafür, dass ihr sprachlich bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Das Projekt Sprachkompass rückt eingeschleifte sprachliche Formulierungen deshalb zurecht in den Fokus und zeigt, dass sie ein Hindernis sind, um eine ganzheitliche Verkehrswende in Deutschland umzusetzen.

Nur wenn ein gesellschaftliches Bewusstsein dafür entsteht, dass Verkehrsunfälle kein notwendiges Übel, sondern Symptome eines veränderbaren Verkehrssystems sind, kann eine nachhaltige Veränderung entstehen. Medien können hierzu einen wichtigen Teil beitragen – nicht nur damit, worüber sie berichten, sondern auch wie sie es tun. Ein überzeugendes Beispiel ist die aktuelle Kolumne von Ingwar Perowanowitsch bei Utopia.de: 843 vermeidbare Verkehrstote: Warum Deutschland nicht von Oslo und Co. lernt

Auch Dirk von Schneidemesser sieht einen kleinen Sensibilisierungsprozess, aufseiten der Medien unter anderem beim Berliner Tagesspiegel. Auch ein Blick in die Berichte der Berliner Polizei deuten auf ein Bemühen für eine bessere Unfallberichterstattung hin, etwa die Meldung vom 12.08.25: „Autofahrer verletzt Fußgängerin tödlich„.

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