Toxische Weiblichkeit beschreibt, wie sich weiblich gelesene Personen unter dem Druck des Patriarchats gegenseitig schaden und dabei Fortschritt verhindern. Hier erfährst du mehr zu dem soziokulturellen Phänomen.
Toxische Männlichkeit ist mittlerweile ein bekannter Begriff. Er beschreibt die Verhaltensweisen, mit denen einige männlich gelesene Personen Macht und Kontrolle ausüben. Dabei gilt die Annahme: Wer am ehesten männlichen Stereotypen entspricht, hat die größte Chance auf sozialen Aufstieg und Anerkennung. Toxische Männlichkeit äußert sich zudem in Gewalt und Diskriminierung gegenüber anderen Geschlechtern. Aber auch männlich gelesene Personen selbst, die männlichen Rollenbildern nicht oder nur bedingt entsprechen, leiden unter dem Phänomen.
Nun ist aber die Rede von toxischer Weiblichkeit. Ist dies ein direktes Pendant zu toxischer Männlichkeit? Tragen auch die Verhaltensweisen von weiblich gelesenen Personen dazu bei, das Patriarchat aufrechtzuerhalten? Und wenn ja, wie äußern sich diese, woher kommen sie und wie können wir toxische Weiblichkeit überwinden?
Beachte: Im Folgenden findest du die Begriffe „Frauen*“ und „Männer*“. Das Gendersternchen hinter den beiden Begriffen verweist dabei darauf, dass es sich um soziale Konstrukte und keine feststehenden biologischen Kategorien handelt. Die Bezeichnung Frau* schließt dementsprechend alle Personen ein, die sich selbst als solche definieren, so definiert werden oder sich unter diesem Begriff sichtbar gemacht sehen.
Was ist toxische Weiblichkeit?
Vielleicht kennst du Hollywood-Blockbuster wie „Duff“, „Bride Wars – Beste Feindinnen“ oder „Mean Girls“. In diesen und zahlreichen weiteren Filmen siehst du weibliche Charaktere, die sich (meist getrieben von Eifersucht) untereinander missgünstig und intrigant verhalten und einander schaden wollen. Zum Beispiel hat die Protagonistin dabei ein Problem mit dem „beliebtesten Mädchen der Schule“, das immer perfekt gestylt ist, größere Brüste hat und auch noch gute Noten schreibt. Diese zwei Charaktere ziehen dann gegeneinander ins Feld und schmieden hinterhältige Pläne gegen die jeweils andere.
Genau das ist eine Form von toxischer Weiblichkeit. Die US-amerikanische Bloggerin Tavi Gevinson prägte in diesem Zusammenhang den Begriff „Girl Hate“: Erfüllt eine andere Frau* Rollenbilder und männliche Erwartungen besser als wir selbst, verurteilen wir uns selbst für unsere Unzulänglichkeit, empfinden Missgunst, Neid und den Drang, die andere Person aufhalten zu wollen.
Solche Empfindungen und Gedanken gehen daraus hervor, dass Frauen* in einer patriarchalen Gesellschaft weiblich sozialisiert sind. Sie wachsen also in einem System auf, in dem primär Männer* Werte, Normen, Denk- und Verhaltensmuster prägen und kontrollieren.
Als Mädchen* und Frauen* lernen wir in einer solchen Gesellschaft, einen starken Widerwillen gegenüber anderen Menschen, die unserem Geschlecht angehören, zu empfinden, wenn diese scheinbar besser sind als wir. Gevinson zufolge liege das vor allem daran, dass es nur „ONE cool girl, ONE funny girl, ONE smart girl“ in einer Gruppe von Menschen geben könne. Diese Denkweise ist ein zentraler und historisch gewachsener Bestandteil des Patriarchats. So sind viele Frauen* es gewöhnt, nur untereinander, aber nicht mit Männern* zu konkurrieren. Für Männer* gibt es dadurch zum Beispiel mehr Chancen auf sozialen Aufstieg.
Das führt dazu, dass Frauen* auch in Vorständen, Unternehmen und Vereinen in der Regel deutlich in der Unterzahl sind. Aus Angst, dann von einer anderen weiblichen Person verdrängt zu werden, wird häufig „Girl Hate“ praktiziert, statt das Patriarchat an sich zu bekämpfen.
Sich als Frau* von toxischer Weiblichkeit freizumachen, ist nicht leicht. Schließlich handelt es sich dabei um Gedankenstrukturen und Verhaltensmuster, die wir seit unserer Kindheit internalisiert haben. Dass es nur dieses eine coole, hübsche und kluge Mädchen geben kann, zeigen uns zum Beispiel Pony Hütchen bei „Emil und die Detektive“, Hermine bei „Harry Potter“ oder Gaby bei „TKKG“. Eine der Ur-Vorbilder für dieses Prinzip ist Schlumpfine bei den Schlümpfen. Dementsprechend ist das Phänomen auch als das „Schlumpfine-Prinzip“ bekannt.
Toxische Weiblichkeit: Genauso schädlich wie toxische Männlichkeit?
Gevinson verdeutlicht, dass Girl Hate und toxische Weiblichkeit vor allem dazu dienen, das Patriarchat aufrechtzuerhalten. Denn statt solidarisch gemeinsam für mehr Gleichberechtigung zu kämpfen, sind viele Frauen* damit beschäftigt, sich gegenseitig in ihren Karrieren und Lebenswegen aufzuhalten.
Dies ist auch ein zentraler Aspekt, der toxische Weiblichkeit von toxischer Männlichkeit unterscheidet: Letztere schadet allen Geschlechtern und sorgt dafür, dass die scheinbar „männlichsten Männer“ in machtvolle Positionen gelangen. Toxische Weiblichkeit hingegen schadet nur weiblich gelesenen Menschen selbst und sorgt eventuell lediglich dafür, dass die „weiblichste und intriganteste Frau“ Teil einer von Männern* dominierten Gruppe (z. B. einem Verein oder Vorstand) bleiben darf.
Es handelt sich also bei beiden Phänomenen nicht um Gegensatzpaare, sondern um Aspekte desselben Problems. Teilweise wird toxische Weiblichkeit dabei auch als Bestandteil von toxischer Männlichkeit verstanden. Denn beide Formen sind darauf ausgerichtet, die patriarchale Gesellschaft zu reproduzieren und somit am Leben zu erhalten.
Psychologische Erklärungsansätze: Woher kommt das toxische Verhalten?
Dass sich viele Frauen* am Arbeitsplatz, in der Schule oder an der Uni untereinander kompetitiv verhalten und sich gegenseitig schaden wollen, belegen laut dem Online-Magazin Medical News Today mittlerweile auch zahlreiche wissenschaftliche Studien. Da der Wettkampf unter Frauen* dabei jedoch meist subtiler verläuft, als dies bei Männern* der Fall ist, wurde das Phänomen in der Forschung lange Zeit vernachlässigt. Neue psychologische und soziologische Erkenntnisse lassen aktuell folgende Schlüsse zu:
- Besonders jüngere Frauen* richten laut Medical News Today ihren Wettbewerb darauf aus, die größtmögliche Aufmerksamkeit von Männern* zu bekommen. Dies ermöglicht ihnen wiederum den Zugang zu Ressourcen, die im Patriarchat für Männer* leichter zu bekommen sind. Dementsprechend dreht es sich in dieser Form des Wettbewerbs vor allem um Jugend und Attraktivität – also Attribute, die von Männern* besonders angesehen und erwünscht sind.
- Auch Tavi Gevinson sieht einen Ursprung von „Girl Hate“ darin, dass Frauen* sich gegenseitig als Hindernisse in der Suche nach dem einen, richtigen Mann* wahrnehmen.
- Laut der Forscherin Joyce Benenson wählen Frauen* subtilere Formen des Wettbewerbs als Männer*, um sich vor körperlichen Auseinandersetzungen zu schützen. Dies sei vor allem auf den biologischen Aspekt zurückzuführen, dass Frauen* ihren Körper für eventuelle Schwangerschaften und Geburten vor Gewalt schützen müssen. Deshalb greifen Frauen* auf subtilere Formen der Aggression zurück, zum Beispiel auf passiv-aggressive Verhaltensweisen, verbale Beleidigungen oder abfällige Blicke.
- Auch Benenson geht davon aus, dass Frauen* andere weiblich gelesene Personen vor allem als Bedrohung wahrnehmen und das Gefühl haben, ihren eigenen sozialen Status ständig gegenüber möglicherweise attraktiveren und erfolgreicheren Konkurrentinnen verteidigen zu müssen.
Toxische Weiblichkeit: So können wir uns davon lösen
Toxische Weiblichkeit und Männlichkeit bringen uns also als Gesellschaft kein Stück weiter, sondern führen dazu, dass patriarchale Strukturen reproduziert werden. Alle Personen, die Rollenbildern und Schönheitsidealen nicht (ausreichend) entsprechen, werden dafür zudem bestraft, diskriminiert und sind in Schulen oder am Arbeitsplatz mit höherer Wahrscheinlichkeit Mobbing ausgesetzt.
Es gibt also mehr als genug Gründe dafür, toxische Weiblichkeit hinter uns zu lassen. Um dem Girl Hate zu entkommen, hat die Journalistin Ann Friedmann die Shine-Theory entwickelt. Diese richtet sich konkret an Frauen* und besagt in etwa: Wenn du eine andere Frau* siehst, die dich aufgrund ihrer Schönheit, Intelligenz oder ihrer beruflichen Karriere einschüchtert, freunde dich mit ihr an. Zusammen könnt ihr dann „noch heller strahlen“.
Diese Theorie ist jedoch umstritten. So gibt die Zeit-Autorin Emilia von Senger zu bedenken, dass diese Theorie in patriarchalen Rollenbildern gefangen bleibt. Denn sie basiert letztendlich auf einem weiblichen Streben nach Optimierung, im Sinne von: Wenn wir beide beruflichen Erfolg haben, gesellschaftlichen Schönheitsidealen einigermaßen entsprechen und auch noch intelligent sind, können wir die Ansprüche des Patriarchats an Frauen* vielleicht gemeinsam erfüllen. Dass Frauen* also immer attraktiv aussehen müssen, sich nicht beschweren und stets lächeln sollen, ist ein zentraler Teil dieser Theorie.
Um das Patriachat zu überwinden, ist das Konzept von „Sisterhood“ der US-amerikanischen Autorin bell hooks zielführender. Dabei geht es um Solidarität unter Frauen*, die sich bewusst sind, dass sie je nach ihrer sozialen Klasse, Herkunft oder Hautfarbe von unterschiedlichen Formen und Ausmaßen der gesellschaftlichen Diskriminierung betroffen sind. Im Wissen um unsere unterschiedlichen Erfahrungshorizonte und Hintergründe können wir uns zusammenschließen und gemeinsam für die Abschaffung von unterdrückenden Strukturen kämpfen.
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