„Wenn man an Fußverkehr denkt, soll man an Leipzig denken“

Superblock in Leipzig, Leipzigs Fußverkehrsbeauftragter F. Goerl
Fotos: Vincent Dino Zimmer, Katharina Stock

Die allermeisten Menschen gehen zu Fuß, doch bei der Verkehrsplanung spielt das oft kaum eine Rolle. Leipzig macht es anders und stellte als erste deutsche Stadt einen Fußverkehrsbeauftragten ein. Im Utopia.de-Interview erklärt Friedemann Goerl, wie eine Stadt mit kleinen Maßnahmen fußgängerfreundlicher wird – ohne jahrelange Bauarbeiten.

Während über das Verbrenner-Aus, Lastenradförderung und autonomes Fahren diskutiert wird, bleibt ein Verkehrsmittel im Hintergrund: der Fußverkehr. Dabei gehen alle, die es können, mal zu Fuß – und sei es nur auf dem Weg zur Bahn oder zum Auto. Leipzig hat das erkannt und 2018 als erste deutsche Stadt einen Fußverkehrsbeauftragten eingestellt.

Als Friedemann Goerl seine Stelle antrat, war der Druck groß: Die Medien berichteten und alle wollten schnell sichtbare Ergebnisse. Doch statt große Leuchtturmprojekte zu starten, setzte der Leipziger auf eine ganz andere Strategie: viele kleine, skalierbare Maßnahmen, die schnell umsetzbar sind, die Bürger:innen einbeziehen und das Stadtbild schrittweise verändern. 2025 erhielt Leipzig hierfür den Fußverkehrspreis Deutschland.

Im Utopia.de-Interview erzählt Goerl, wie sein Team Gehwege zur Priorität macht, warum Bußgelder fürs Falschparken zu niedrig sind und wie Leipzig das Kopenhagen des Fußverkehrs werden soll. Er ist überzeugt: Die Verkehrswende funktioniert am besten über den Fußverkehr.

Leipzigs Fußverkehrsbeauftragter im Utopia.de-Interview

Utopia.de: Sie traten 2018 Ihre Stelle als erster Fußverkehrsbeauftragter in Deutschland an. Wie groß waren die Erwartungen?

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Friedemann Goerl: Der Titel Fußverkehrsbeauftragter oder Fußverkehrsverantwortlicher bringt natürlich ein bisschen Druck mit, weil man das Thema besetzen muss und – im Gegensatz zur Arbeit als Sachbearbeiter – in der Öffentlichkeit steht. Wenn Zeitungen schreiben, dass die Stadt Leipzig jetzt jemanden hat, der sich für den Fußverkehr einsetzt, wollen die Menschen auch Resultate sehen. Glücklicherweise fing ich aber nicht bei null an, da sich die Stadt seit Jahrzehnten mit dem Thema beschäftigt. Wir haben zum Glück einen Oberbürgermeister, der das Thema sehr ernst nimmt und jedes Jahr eine eigene Sprechstunde zu Fuß anbietet, bei der es nur um Fußverkehrsthemen geht. Das gibt Rückhalt und stärkt das Thema immens.

Friedemann Goerl, Fußverkehrsbeauftragter der Stadt Leipzig
Foto: Katharina Stock

Friedemann Goerl

wurde zum ersten Fußverkehrsverantwortlichen Deutschlands ernannt und ist seit 2018 bei der Stadt Leipzig im Amt. Als Teil der Stadtverwaltung möchte er dem Fußverkehr als gleichberechtigtes Verkehrsmittel Aufmerksamkeit verschaffen und Leipzig Schritt für Schritt fußverkehrsfreundlicher umgestalten. Dass Leipzigs Maßnahmen erfolgreich sind, belegt unter anderem der 2025 gewonnene Fußverkehrspreis Deutschland.

Leipzig hat eine vergleichsweise gute Ausgangslage für den Fußverkehr, da es in der Innenstadt und in den Gründerzeitvierteln viele breite Straßen gibt, auf denen alle Verkehrsteilnehmer:innen Platz finden. Was waren die ersten wichtigen Schritte, die Sie unternommen haben?

Fußverkehr spielte in Leipzig schon immer eine starke Rolle, deswegen musste ich nicht allzu viel Pionierarbeit leisten. Doch auch wenn er historisch in der Stadt verankert ist, fiel der Fußverkehr bei Planungen gerne hinten runter. Eine Kernaufgabe in der Anfangszeit war deshalb, den Fußverkehr als eigenständige Verkehrsart zu promoten, damit er überall ernst genommen wird – in der Öffentlichkeit, aber auch bei konkreten Verkehrsplanungen.

Wie erreicht man das?

Es ging vor allem darum, eine Fußverkehrsstrategie zu schreiben, die am Ende vom Stadtrat beschlossen wurde. Bei allen anderen Verkehrsarten hatten wir schon lange entsprechende Verkehrsentwicklungspläne, der Fußverkehr schwamm oft nur als Unterkapitel in anderen Konzepten und Plänen mit. Jetzt wird Fußverkehr auf einer planerischen Ebene betrachtet und von Anfang an mitgedacht.

Wie kann man sich darüber hinaus den Arbeitsalltag eines Fußverkehrsverantwortlichen vorstellen?

Ich bin viel damit beschäftigt, Strategiepapiere zu entwerfen und Stellungnahmen für Baumaßnahmen oder ähnliches zu formulieren. Dort versucht man natürlich möglichst viel rauszuholen für eine fußverkehrsfreundliche Stadt.

Fußverkehrsverantwortlicher Goerl: Möchte auch Impulsgeber sein

Das klingt nach viel administrativem Papierkram.

Meine Aufgabe ist auch, Impulsgeber für neue Sachen zu sein und nicht bloß den Status quo zu verwalten. Mich störte zum Beispiel, dass an Straßen mit vielen Geschäften oftmals sehr viele Seitenstraßen angrenzen und man als Fußgänger den Autoverkehr vorlassen musste. Der Fußverkehr auf Einkaufsmagistralen sollte jedoch gegenüber den kleineren abbiegenden Autostraßen ins Quartier priorisiert werden. Deshalb trafen wir die Grundsatzentscheidung, dass der Fußverkehr Vorrang hat und der Gehweg möglichst durchgezogen wird. Der Autoverkehr kann zwar weiterhin abbiegen, fährt aber über eine erhöhte Gehwegüberfahrt und kann nicht mehr um die Kurve rauschen.

Werden diese baulichen Änderungen bereits umgesetzt?

An einer Handvoll abbiegender Straßen schon. Bei jedem neu anstehenden größeren Bauprojekt versuchen wir diese neuen Grundsätze zu integrieren, zum Beispiel werden demnächst an der Georg-Schumann-Straße viele Gehwegüberfahrten gebaut. So erhält die Stadt peu à peu ein neues Erscheinungsbild.

Leipzig ist Preisträger des Fußverkehrspreises 2025

Die Stadt Leipzig erhielt dieses Jahr den Fußverkehrspreis Deutschland vom FUSS e.V. (Fußgängerschutzverein und Fachverband Fußverkehr Deutschland). Wofür wurden Sie ausgezeichnet?

Wir haben uns bewusst nicht mit einem großen Leuchtturmprojekt beworben, sondern mit kleineren Maßnahmen, die skalierbar und gut finanzierbar waren und deshalb schneller und flächendeckender umsetzbar.

Welche Maßnahmen waren das?

Wir errichteten vor zwei Grundschulen temporäre Gehwegnasen [Gehwegverbreiterungen, um Straßen sicher überqueren zu können, Anm.d.Red.] mit Pollern, Baken und Schildern, damit die Kinder schon jetzt sicher zur Schule gehen können und nicht erst in fünf Jahren, wenn die Straße zur Fahrradstraße umgebaut ist.

Ein anderes Beispiel ist das Superblock-Projekt im Leipziger Osten, wo durch Poller-Begrenzungen Verkehrsströme so gelenkt werden, dass sie nicht mehr durchs Quartier fahren. Das wertete das Quartier immens auf.

Auf der Merseburger Straße sollte ein Abschnitt bereits zu DDR-Zeiten Fußgängerzone werden. In den Wirren der Wende passierte das aber nicht. Statt einer aufwendigen baulichen Änderung errichteten wir temporäre Elemente wie Hochbeete und Pflanzkübel, um die örtlichen Geschäfte zu unterstützen.

Leipzig errichtete Gehwegnasen vor Schulen.
Leipzig errichtete temporäre Gehwegnasen vor Grundschulen, damit der Schulweg sicherer wird. (Foto. Stadt Leipzig)

Hilft eine solche Preisverleihung bei der künftigen Verkehrsplanung?

Ja. Wir haben unsere Projekte für den Preis angemeldet, um eine Art Gütesiegel zu haben, das sagt: Das ist kein Spinnerprojekt von irgendwelchen Verwaltungsmitarbeitern – auch andere haben es für gut befunden. Das verleiht Rückenwind fürs weitere Vorangehen.

Leipziger Stadtgesellschaft befürwortet Verkehrswende

Wie groß ist die Bereitschaft der Leipziger Bürger:innen, sich bei solchen Veränderungen einzubringen?

Der Spirit von Leipzig ist geprägt durch ein sehr hohes bürgerschaftliches Engagement mit vielen Vereinen und Institutionen. Wir haben eine emanzipatorische Stadtgesellschaft und als Stadtverwaltung das Glück, überall mit Menschen zusammenarbeiten zu können, die progressiv Veränderung wollen. Alle drei genannten Projekte waren von lokalen Initiativen oder Anwohnern mitgetragen oder sogar initiiert.

Fußverkehrsbeauftragter: Wenn Planungen auf keine Widerstände stoßen, sind sie nicht progressiv genug

Meist erzeugen solche Pläne aber auch Gegenwind. Wie gehen Sie damit um?

Jegliche Veränderung im öffentlichen Raum löst auch Widerstände aus, weil es um die Verteilung von Privilegien geht und ich im Zweifel mein Privileg verliere, zum Beispiel dort mit dem Auto zu parken. Wenn unsere Planungen auf null Widerstand treffen, würde ich mich fragen, ob sie wirklich progressiv genug waren. Aus meiner Erfahrung macht es keinen Unterschied, ob wir eine wirkliche bauliche Veränderung für die kommenden Jahrzehnte vornehmen oder nur temporär Poller aufstellen. Der Wunsch nach Beteiligung ist gleich hoch.

Eröffnung eines Superblocks in Leipzig, in dem der Autoverkehr umgeleitet wird.
Eröffnung eines Superblocks in Leipzig, in dem der Autoverkehr umgeleitet wird. (Foto: Vincent Dino Zimmer)

Wo liegen jenseits der schnellen Skalierbarkeit und niedrigen Kosten dann die Vorteile der temporären Verbesserungen für den Fußverkehr?

Ob eine bauliche oder temporäre Lösung besser ist, braucht eine kritische Einzelfallprüfung. Wenn beispielsweise eine Fahrradstraße wegen eines Fernwärmeanschlusses erst in fünf Jahren gebaut wird, ist eine temporäre Umgestaltung besser, als zu warten oder zweimal zu bauen. An anderen Stellen ist es besser, mehr zu investieren und es gleich baulich umzugestalten – das bietet auch mehr Spielraum bei der Ästhetik und im Zweifel eine größere Zustimmung der Bürgerschaft.

Hat der Fußverkehr in Leipzig in den vergangenen Jahren zugenommen?

Ja, in Leipzig wird wieder mehr gelaufen. Repräsentative Verkehrsbefragungen zeigen, dass wir beim Fußverkehr sogar stark zugenommen haben, nicht nur prozentual, sondern auch in absoluten Zahlen. Seit 2018 fragen wir auch alle zwei Jahre das subjektive Empfinden zum Fußverkehr ab. Leider nimmt hier die Zufriedenheit für den Fußverkehr in Leipzig ab.

Mehr Menschen gehen in Leipzig zu Fuß – und sind unzufrieden damit

Wie erklären Sie sich das?

Die Wahrnehmung ist gestiegen. Wenn ich mir zuvor keine Gedanken über Fußverkehr gemacht habe, störte ich mich weniger an maroden Gehwegen, Baustellen und ähnlichem. Deshalb kann auch eine Stadt, die fast nichts in den Fußverkehr investiert, gute Zustimmungswerte haben. Mit mehr Investitionen steigt dagegen meist auch der Anspruch. Fußverkehrsförderung bedeutet auch, bei immer mehr Menschen die Erkenntnis zu wecken, hier muss dringend etwas getan werden.

Können Sie dieses Problem lösen?

Die größte Unzufriedenheit liegt bei der Qualität der Gehwege. Kaputte Gehwege und Schlaglöcher sind nach Ansicht der Leipziger:innen das größte Manko, gleichzeitig ist die Unzufriedenheit damit bei der älteren Bevölkerung überproportional stark ausgeprägt. Weil unsere Bevölkerung immer älter wird, wird die subjektive Einschätzung der Gehwegzustände berechtigterweise allzu bald nicht besser werden. Der demografische Wandel macht es aber notwendig, mehr in gute Fußverkehrsanlagen zu investieren.

Nachhaltige Mobilität in der Stadt bedeutet auch mehr Radverkehr. Wie lösen Sie in Leipzig mögliche Konflikte, die entstehen, wenn mehr Menschen mit dem Rad fahren und zu Fuß gehen – gerade wenn es sich um gemeinsame Wege handelt?

Wenn der Radverkehr auf dem Gehweg fährt, ist das natürlich ein Problem. Meist fehlt dann aber ein Radweg und ich würde mich für einen Radweg aussprechen, der das Problem nachhaltig löst. Glücklicherweise gibt es als Konterpart zu mir den Radverkehrsbeauftragten. Wir arbeiten in einem Team in derselben Organisationseinheit. Auch wenn wir vielleicht in einzelnen Aspekten anderer Meinung sind, verfolgen wir dieselben Ziele. Fuß- und Radverkehrsförderung funktioniert Hand in Hand. In Leipzig mit unseren großzügigen Straßenverhältnissen können wir getrennte Rad- und Fußwege oft einfacher verwirklichen als in einer engen mittelalterlichen Stadt.

Falschparken: Fußverkehrsbeauftragter fordert höhere Bußgelder

Welche Unterstützung wünschen Sie sich von der Bundesregierung für Ihre Arbeit?

Der Gesetzgeber sollte dringend beim Bußgeldkatalog nachbessern. Die Bußgelder im Fußverkehr wurden seit Jahren nicht angehoben, sind niedriger als im Radverkehr und decken oft nicht einmal den damit verbundenen Verwaltungsaufwand. Mit dem Auto auf einer Radverkehrsanlage zu parken, ist viel teurer als auf dem Gehweg. Das Ordnungsamt hat mir bestätigt, dass deshalb inzwischen mehr Autos auf Gehwegen parken. Bei einem Bußgeld für Parken im Kreuzungsbereich von Gehwegen in Höhe von zehn Euro ist das fast günstiger als ein Parkticket.

Was schlagen Sie vor?

Man muss den Bürgern nicht das Geld aus der Tasche ziehen, aber die Bußgelder zumindest auf das Niveau des Radverkehrs anheben. Das hat eine Lenkungswirkung und ist eine wichtige Maßnahme für die Verkehrssicherheit. Aktuell parken Autos auf Kreuzungsbereichen von Grundschulen und die Kinder müssen die Straße zwischen parkenden Autos überqueren. Das kann und will ich nicht tolerieren.

Fußverkehr polarisiert weniger als Radverkehr

Was können andere Städte von Leipzig lernen?

Radverkehr erreicht oftmals nicht alle und kann polarisieren. Deswegen ist mein Plädoyer, die Verkehrswende mehr über den Fußverkehr zu kommunizieren. Beim Fußverkehr sind wir alle Gewinner, denn jeder muss zu Fuß gehen, selbst wenn er mit Auto, Fahrrad oder Bahn fährt. Mit Barrierefreiheit oder Schulwegsicherheit kann man auch konservative Fraktionen überzeugen, die vielleicht beim Fahrrad nicht aufspringen. Wir könnten sagen: Wir machen Verkehrswende und das bedeutet, dass alle sicher zu Fuß zur Schule gehen können – deswegen bauen wir diese Straße um.

Wie bewegen sich die Menschen in Leipzig in fünf Jahren fort?

Ich hoffe, dass sich der Trend für mehr Fuß- und Radverkehr fortsetzt. Bereits jetzt nehmen die Pkw in Privatbesitz und die Autonutzung in der Stadt ab. In fünf Jahren könnten deutlich mehr Autos in der Stadt über Carsharing genutzt werden und nicht sinnlos 23 Stunden rumstehen. Es geht nicht darum, bestimmte Verkehrsarten zu verbannen, aber Verkehr sollte nach sinnvollen Prämissen in der Stadt nutzbar werden.

Vision: Leipzig wird zur Fußverkehrsstadt

Wann ist Ihre Arbeit erfolgreich beendet?

Wer an Radverkehr denkt, denkt an Kopenhagen und Amsterdam. Ich würde mir wünschen, dass wenn man an Fußverkehr denkt, an Leipzig denkt.

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