Paris, Gent, Groningen und Hamburg: Auf dem Fahrradsattel erkundige ich seit vier Wochen die schönsten Fahrradstädte Europas. Obwohl ich noch mitten auf der Reise bin, lernte ich schon jetzt: Nicht mehr, sondern weniger Autos beleben Innenstädte – und nur mit dem Fahrrad ist eine echte Verkehrswende möglich. Eine Kolumne von Ingwar Perowanowitsch.
Seit einem Monat bereise ich für meinen Dokumentarfilm „Cycling Cities“ per Fahrrad die schönsten Fahrradstädte Europas. Ich radelte durch Paris, Gent, Amsterdam, Utrecht, Groningen und Hamburg und sprach mit Planer:innen, Aktivist:innen und Politiker:innen darüber, wie sie den Wandel gestalten. Und obwohl ich noch mittendrin bin, konnte ich bereits fünf zentrale Erkenntnisse gewinnen:
Erkenntnis 1: Städte sind nicht laut – Autos sind laut
Diese Erfahrung durfte ich im belgischen Gent machen. Auf diese Stadt freute ich mich besonders, denn sie war die einzige auf meiner Liste, die ich noch nie besucht hatte. Ich kannte natürlich die Meldungen der vergangenen Jahre – dass die Stadt im Herbst 2017 quasi übers Wochenende ihr Zentrum autofrei machte, dass am Bahnhof das größte Fahrradparkhaus der Welt entstehen soll und dass Gent ein Geheimtipp gegenüber dem meist überlaufenen Brügge sei.
Ich erwartete eine tolle Fahrradstadt. Gesehen habe ich vor allem eine wunderbare Fußgängerstadt, in der das Fahrrad zwar omnipräsent ist, durch die Menschenmengen, die durch die Straßen, Gassen und über die zahlreichen kleinen Brücken flanieren, aber dennoch in den Hintergrund gerät.
Und das Auto? Es ist nicht komplett verschwunden. Es gibt Taxis und Lieferfahrzeuge, die die Geschäfte versorgen und ab und zu steuert ein Privatauto eine Tiefgarage im Zentrum an. Doch das stört nicht weiter. Denn das Auto dominiert Gent nicht – es bestimmt weder die Luftqualität noch die Geräuschkulisse.
In ganz Gent ist es herrlich leise, obwohl die Stadt voller Menschen ist, Straßenbahnen und Busse unterwegs sind und zahlreiche Fahrradfahrer:innen durch die Stadt radeln. Und auch wenn ich diese Erfahrung bereits in den vielen autobefreiten Straßen von Paris machen konnte, wurde sie in Gent mehr als bestätigt: Nicht die Städte sind laut – es sind die Autos.
Erkenntnis 2: Stau gibt es nur in Autostädten
Was in Deutschland Alltag ist, ist in den Fahrradstädten, die ich bislang besucht habe, die absolute Ausnahme: ein Autostau. Wie kann das sein? Stehen dem Auto dort nicht wesentlich weniger Flächen zur Verfügung? Und heißt es nicht ständig, dass breite Radwege zu Stau und längeren Fahrzeiten führen würden?
Dieses beliebte Argument gegen die Verkehrswende wird in fahrradgerechten Städten widerlegt. Je breiter und zahlreicher die Radwege, desto weniger stauen sich die Autos. Was auf den ersten Blick paradox wirkt, ergibt auf den zweiten Blick absolut Sinn. Denn: Wer Radwege sät, wird Radverkehr ernten. (Erst kürzlich zeigte eine Studie, welchen verblüffenden Effekt ein einziger Kilometer Radweg in einer Stadt haben kann.)
Sobald sich Menschen ausreichend geschützt fühlen, steigen sie aufs Fahrrad um und nehmen so den Druck von der Straße. Das sorgt dafür, dass all jene, die wirklich auf das Auto angewiesen sind, freie Fahrt haben. Genau das konnte ich in Städten wie Gent, Amsterdam, Utrecht, Groningen – und in Ansätzen auch in Paris – erleben.
Auch das Argument, der Autoverkehr würde sich nur verlagern und nicht reduzieren, hält in Fahrradstädten nicht stand. Tatsächlich geht der Autoverkehr mittelfristig zurück, sobald man Flächen umverteilt – besonders die Niederlande machen diese Erfahrung seit den 1970er-Jahren. In der Forschung wird dieses Phänomen „Verkehrsverdampfung“ genannt: Der Autoverkehr löst sich auf, weil Menschen beginnen, das neue Angebot zu nutzen.
Erkenntnis 3: Die Vorstellung, mehr Autos würden unsere Innenstädte beleben, ist absurd
Deutsche Innenstädte kämpfen mit Verödung und Leerstand. Kommunen finden immer weniger Argumente, um Menschen im Zeitalter von Amazon & Co. zum analogen Einkaufen zu bewegen. Um langfristig zu überleben, müssen sich unsere Innenstädte neu erfinden. Nur wie?
Auch hier können wir von unseren westlichen Nachbar:innen lernen. Besonders in niederländischen Innenstädten ist von Verödung keine Spur. Der Grund: Sie sind für all jene gestaltet, die sich gerne darin aufhalten – und nicht für diejenigen, die nur hindurchfahren. Der öffentliche Raum wird für Fußgängerzonen, großzügige Parks und ausreichend Fahrradstellplätze genutzt. Je weniger Autos, desto belebter die Straßen, so mein Eindruck.
In Deutschland scheint diese Erkenntnis noch nicht überall angekommen zu sein. Hier gilt oft noch der längst widerlegte Glaubenssatz, dass weniger Autos zur Verödung der Innenstädte beitragen würden – und noch mehr Autos die Lösung seien. Noch im vergangenen Jahr stellte die damalige Regierungspartei FDP einen Fünf-Punkte-Plan zur Wiederbelebung der Innenstädte vor, in dem sie unter anderem eine Parkflatrate und weniger Fußgängerzonen forderte.
Wer durch die belebten und nahezu autofreien Straßen von Amsterdam, Utrecht oder Groningen spaziert, kann bei solchen Forderungen nur ungläubig den Kopf schütteln. Sie sind Ausdruck von Mutlosigkeit, die Dinge neu zu denken und von Einfallslosigkeit, was nach dem Auto kommen soll. Doch wenn wir in Deutschland unsere Innenstädte retten wollen, müssen wir sie neu erfinden – mit weniger statt mehr Autos. Mit einer vielseitigen, kreativen und kleinteiligen Gewerbelandschaft statt der immer gleichen, seelenlosen Ladenketten – und mit attraktiven öffentlichen Orten, die auch zum konsumfreien Verweilen einladen.
Erkenntnis 4: Das Fahrrad bewahrte Städte vor dem Kollaps
Als ich die Fahrradschwärme in Paris, Amsterdam und Utrecht beobachtete, kam mir folgende Erkenntnis: Würden all diese Fahrradfahrer:innen für einen Tag demonstrativ in den ÖPNV oder ins Auto steigen, würde die Stadt im völligen Chaos versinken. Überfüllte Busse und Bahnen, verstopfte Straßen, Höllenlärm und kritische Luftverschmutzung wären die Folgen.
Um sich die Folgen vorzustellen, reicht ein Blick in die Vergangenheit: Die niederländischen Städte standen in den 1970er-Jahren an genau diesem Punkt, die französische Hauptstadt Anfang der 2000er-Jahre. In Amsterdam und Utrecht war es besonders dramatisch: Um ein Haar hätten sie ihre einzigartige Fahrradkultur endgültig dem Auto geopfert. Beinahe wären zahlreiche Kanäle trockengelegt und zu Autobahnen umgebaut worden. Fast hätten mittelalterliche Brücken und ganze Stadtviertel neuen Straßen weichen müssen – die Pläne dafür lagen bereits auf dem Tisch.
Glücklicherweise wurden sie nie umgesetzt. Das Fahrrad sprang ein, als das Auto zurückgedrängt wurde. Es machte die Luft besser, die Stadt ruhiger, die Straßen sicherer. Aber vor allem bewahrte es die alten niederländischen Städte vor der Zerstörung. Dann wären all die malerischen Brücken und Grachten, die engen Gassen und mittelalterlichen Gebäude, die heute jährlich Millionen Besucher:innen anlocken, nur noch Bilder der Vergangenheit.
Erkenntnis 5: Das Fahrrad ist nicht „nice to have“ – es ist systemrelevant und die Zukunft
Der Einfluss des Fahrrads auf all die genannten Städte ist kaum zu überschätzen. Er war die Grundlage einer Mobilitätsrevolution – in den Niederlanden schon vor Jahrzehnten, in Paris und Gent seit wenigen Jahren. Auch in Deutschland ist das Fahrrad längst eine tragende Säule, die unsere Städte vor dem Verkehrskollaps bewahrt. Denn in einer ohnehin angespannten Verkehrslage würde bereits ein kleiner Anstieg des Autoverkehrs reichen, um alles lahmzulegen.
Statt über Fahrradfahrer:innen und Radwege zu schimpfen, sollten wir allen danken, die sich täglich – zum Teil trotz widriger Bedingungen – aufs Rad setzen. Diese Menschen sind der Grund, warum unsere Städte noch funktionieren – und es auch in Zukunft werden.
Wenn immer mehr Menschen in unseren Städten leben wollen, müssen wir Mobilität grundlegend neu denken. Für noch mehr Autos ist schlicht kein Platz mehr. Wir brauchen ihn für andere Dinge: für neue Wohnungen, sichere Radwege, Bus und Bahn – und vor allem für mehr Grün, mehr Bäume und mehr Parks.
Diesen Platz bekommen wir, wenn das Auto seine Flächen abgibt und Menschen ihre Mobilität verändern. Das einzige Verkehrsmittel, das kurzfristig das Auto in großen Stil ersetzen kann, ist das Fahrrad. Es muss daher kommunikativ raus aus der Nische: Das Fahrrad ist kein Verkehrsmittel für irgendwelche „Ökos“, sondern eine zentrale Technologie, um unseren Städten eine Zukunft zu geben.
Und für alle, die noch immer an der Zukunft des Fahrrads zweifeln: Fahrt nach Paris, nach Gent oder in irgendeine niederländische Stadt. Ihr werdet danach anders denken – versprochen.
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