Ein Drei-Euro-T-Shirt macht die Menschen am Ende der Lieferkette zu Sklaven, sagt die BWL-Professorin Evi Hartmann im enorm-Interview. Das ist nicht neu. Trotzdem wird es gekauft. Ein Gespräch über die Gründe mangelnder Moral.
Evi Hartmann ist Betriebswirtschafts-Professorin. Spezialgebiet: Lieferketten-Management. Hartmann ist jemand, der jungen Leuten die Zukunft beibringt, wie sie selbst sagt. Die heißt in ihrem Fachgebiet: totaler Konsum auf Knopfdruck. Am anderen Ende der Lieferkette stehen Millionen Menschen, die sklavenähnlich arbeiten müssen. Das weiß jeder. Und konsumiert weiter, wie gewohnt. Moral? Schiebt der Kunde zu oft beiseite – und hat dem Manager keiner beigebracht.
Frau Hartmann, wir alle besitzen T-Shirts, für die Menschen in anderen Teilen der Erde unter den miesesten Bedingungen arbeiten mussten. Für Sie machen wir uns damit zu Sklavenhaltern?
Wie soll ich das sonst nennen, wenn jemand für 50 Cent am Tag, 14 Stunden lang bei einer Bullenhitze von 60 Grad, ein günstiges T-Shirt für mich näht? Wir alle halten Sklaven – ich eingeschlossen. Nachdem 2013 die Textilfabrik in Sabhar in Bangladesch einstürzte, bin ich die Frage nicht mehr losgeworden, wie etwas so Schreckliches passieren kann – und bei mir und in meinem Umfeld ändert sich nichts. Wir kaufen weiter ein wie bisher. Das hat mich erschreckt. Und ich habe beschlossen, das Thema bis zum Ende durchzudenken. Bis zu den Sklaven.
Sie sind BWL-Professorin, Expertin für Lieferketten-Management. In den Lehrbüchern Ihrer Studenten taucht das Wort Sklavenhaltung vermutlich nicht auf.
Nein. Wenn ich im Hörsaal vor den jungen Leuten stehe, die bald die Welt durch Konsum, Produktion, Beschaffung oder eben Versorgung regieren werden, plagt mich zunehmend das Gewissen. Ich erzähle ihnen etwas über die Agilität der Wertschöpfungskette oder über Supply Chain Risk Management – und in Bangladesch sterben über tausend Näherinnen beim Zusammenbruch ihres Endes der Versorgungskette.
Ob Manager, Politiker, Wissenschaftler oder Konsument, jeder schleiche mit einem schlechten Gewissen um den Elefanten in seinem Wohnzimmer herum, schreiben Sie in Ihrem Buch. Es wissen also alle Bescheid, tun aber nichts?
Die meisten glauben, dass sie überhaupt nichts tun können. Die Verantwortung wird auf Unternehmen und Manager geschoben, auf korrupte Regierungen, die den Mindestlohn nicht durchsetzen. Aber das ist zu kurz gedacht. Jeder kann mit kleinen Schritten etwas im großen System bewegen. Sich zum Beispiel fragen, wie viele Sklaven er hält. Bei mir sind es rund sechzig, das habe ich mir auf der Website slaveryfootprint.org ausrechnen lassen. Ich arbeite daran, dass es weniger werden, will jede Woche ein neues Produkt unter die Lupe nehmen und sehen, wo ich es halbwegs fair produziert kaufen kann.
Dass unter diesen Bedingungen überhaupt jemand Fairtrade-Kaffee kauft, grenzt an ein Wunder.“
Unsere Ignoranz erklären Sie auch mit dem psychologischen Phänomen des „Bystander Bias“. Was bedeutet das in diesem Zusammenhang?
Im Prinzip ist es eine Erkenntnis des gesunden Menschenverstands. Je weiter eine Ungerechtigkeit entfernt ist und je mehr Beobachter Zeuge von ihr werden, desto weniger fühlt sich der Einzelne zum Eingreifen aufgefordert. Die armen Bauern und geknechteten Fabrikarbeiter sind sehr weit von uns entfernt – sie könnten auch auf dem Mond leiden. Die Globalisierung hat Millionen Bystander. Dass unter diesen Bedingungen überhaupt jemand Fairtrade-Kaffee kauft, grenzt an ein Wunder.
Aber die Globalisierung bringt uns das andere Ende der Welt doch eigentlich näher.
Auf einer anderen Ebene, ja. Und das müssen wir nutzen. Sprich: sie mit ihren eigenen Mitteln kultivieren, disziplinieren und moralisieren. In einer globalisierten Welt kann ich an Informationen aus dem letzten Winkel der Erde herankommen. Natürlich kann ich nicht jeden Apfel, den ich esse, bis auf seinen Baum zurückverfolgen. Aber ob in den Textilfabriken, in denen meine Lieblingsmarke fertigen lässt, Kindersklaven arbeiten, das lässt sich schon mit etwas Internet-Recherche herauskriegen. Was ihre Lieferanten angeht, stehen die Unternehmen natürlich in der Verantwortung. Sie müssen ihre Zulieferer valide auditieren. 99 gute bringen nichts, wenn ein einzelner zu tausend Toten führt.
Mit Erklärungen, was in so vielen Lieferketten schief läuft, halten Sie sich in Ihrem Buch gar nicht auf. Kann man davon ausgehen, dass die breite Masse so gut informiert ist?
Stellen Sie sich das Ganze als Spiel vor. Dass es falsch läuft, dass geschummelt wird, weiß jeder. Dass wir faire Spielregeln brauchen auch. Selbst wie sie aussehen, wissen die meisten. Aber wir ruhen uns auf der Forderung aus, die Regierung müsse das ganze System per Gesetz ändern. Die Wirtschaft müsse den Arbeitern weltweit Löhne zahlen, von denen sie leben können. Natürlich wäre das super. Es ist aber ziemlich unwahrscheinlich. Daher noch einmal: Es sind die kleinen Schritte. Die kann jeder von uns sofort gehen. Sie machen allerdings ein paar Nachforschungen nötig: Was von dem, das ich konsumiere, wird wie und wo hergestellt? Welche Produkte kann ich kaufen? Und was sollte ich streichen?
Wenn jeder so denkt, passiert am Ende gar nichts.“
Sie schreiben: Es sei gar nicht so kompliziert, sich zu informieren. Eine einfache Google-Suche reiche oft schon.
Wenn ich sehe, wie viel Zeit meine Kinder mit irgendwelchen Quatsch-Recherchen verbringen, finde ich: Zehn Minuten nach einem Hersteller zu googlen, ist total machbar. Für Erwachsene sowieso. Wir schieben nur oft das Argument vor, wenn wir ein teureres T-Shirt kauften, komme der Mehrpreis trotzdem nicht bei den Näherinnen an. Wenn jeder so denkt, passiert am Ende gar nichts.
Wie schließt man die berühmte Lücke zwischen Wissen und Handeln?
Ein Bewusstsein zu schaffen, dass wir handeln müssen und können, fängt für mich zuhause am Frühstückstisch an. Mit der Auswahl dessen, was auf dem Tisch steht. Es geht weiter im Kindergarten, in der Schule und natürlich auch an der Uni. Die entsprechenden Themen müssen in die Lehrpläne. Und wir müssen darüber reden. Je mehr, desto besser.
Schafft man durchs Reden auch in der Wirtschaft ein Bewusstsein? Bei den Lieferketten-Managern zum Beispiel?
Ein Einkäufer, der unter Druck steht, der möglichst günstig einkaufen soll, hat klare Zielsetzungen. Aber er macht sich nicht bewusst, dass sein Preisdruck direkte Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen bei seinen Lieferanten hat. Das ist erst einmal ein normaler menschlicher Mechanismus: Wir verdrängen, was unbequem ist. Man kann dem aber etwas entgegensetzen. Es gibt zum Beispiel Unternehmen, die einen „moral monday“, einen moralischen Montag, eingeführt haben. Da kann der Einkäufer seinen Kollegen bei einem Kaffee berichten, was er auf seiner Geschäftsreise in Bangladesch gesehen hat. Zum Beispiel, dass es viel zu wenige Feuerlöscher gab. Oder dass er Geschenke für die Arbeiter mitgenommen hat, weil ihm leid tut, unter welchen Bedingungen sie arbeiten müssen.
Es gibt ökonomische und außerökonomische Kriterien. Raten Sie mal, zu welcher Kategorie Moral und Anstand gehören.“
Reden Sie im Uni-Hörsaal oder mit ihren Kollegen über Fragen der Moral?
Viel zu wenig und nicht explizit genug. Dabei ist gerade mein Bereich prädestiniert dafür. Das Thema würde als Modul in jede Einkaufsvorlesung gehören! Denn unsere Leute sitzen an den Schnittstellen zu den Lieferanten, aber auch zum Kunden. Trotzdem ist der Status Quo in der Lehre: Ob und wie viel über moralische Aspekte gesprochen wird, hängt von der Einstellung des Professors oder der Professorin ab.
Fragen Sie mal einen BWL-Absolventen nach Moral, nicht nach seiner, sondern der Moral. Er wird Sie groß anschauen. Er weiß das nämlich auch nicht besser als Sie, der Konsument, der Amateur. In der Betriebswirtschaftslehre lernt schon das Erstsemester den entscheidenden Unterschied: Es gibt ökonomische und außerökonomische Kriterien. Raten Sie mal, zu welcher Kategorie Moral und Anstand gehören.
Wenn Sie Ihre Studenten betrachten, was sind das für junge Leute? Sind sie offen für Themen wie Moral und Nachhaltigkeit?
Ich sehe die Generation Y sehr positiv. Die haben ein ganz anderes Statusdenken als frühere Generationen. Sie brauchen keine großen Autos. Noch vor ein paar Jahren wollten die meisten BWL-Studenten ins Marketing oder Investmentbanking, um Geld und Karriere zu machen. Heute möchten sie in erster Linie Beruf und Persönliches miteinander vereinbaren. Und ja, sie streben tatsächlich nach einem ethisch sauberen Klima am Arbeitsplatz. Das ist nicht nur meine Beobachtung, auch meine Kollegen erleben das so an der Uni. Trotzdem sind die Jungen keine Revolutionäre, die das gesamte System verändern oder wie die 68er aussteigen wollen. Sie versuchen aber, es mit zwischenmenschlichen Werten zu bereichern.
Wird man zum Sklavenhalter geboren oder erzogen?
Erzogen! Kinder lernen in der Schule Rechnen, Schreiben, Lesen. Bildung versagt an der Moral, schafft es nicht, sie zu vermitteln. Und leider fördert nach der Sandkasten- und Schulpädagogik auch das sogenannte lebenslange Lernen nicht die moralische Reife.
Was ist für Sie ein anständiger Mensch? Der Begriff fällt ja in Ihrem Buch.
Für mich stellt sich die Frage: Was kann ich tun, damit die Welt etwas moralischer wird? Welche Auswirkungen hat mein Verhalten auf andere? Dieses Bewusstsein fehlt einfach. Wenn ich der Geiz-ist-Geil-Mentalität folge und ein T-Shirt für drei Euro kaufe, sollte ich zu Ende denken, was das für Folgen hat. Die Familie als Keimzelle muss Moralfragen stärker thematisieren. Wenn ich sehe, wie viele Teenager neue Smartphones besitzen, müssten ihre Eltern auch mal mit ihnen über die Herstellungsbedingungen sprechen. Kinder müssen keine Details kennen, aber die meisten wissen gar nichts. Und bekommen nie die Frage gestellt, ob es ihr Wunschprodukt auch in fair gibt und ob sie nicht auch mal verzichten könnten.
Was wird aus anständig erzogenen Menschen in unserem System?
Die können wir überall sehr gut gebrauchen! Unter den Konsumenten und auf den Managementposten. Am Ende ist Handeln immer etwas Individuelles, es stecken Einzelpersonen dahinter, kein System. Wenn ein Unternehmen rein auf Kennzahlen gepolt ist, auf die Einkaufsersparnis, den Umsatz, dann sind es auch Menschen, die das entscheiden und umsetzen.
Keiner der Punkte, über die wir gesprochen haben, ist wirklich neu.
Natürlich nicht. Die Wiederholung ist kalkuliert. Und bitter nötig. Wenn wir über die Zustände lesen, nicken wir alle heftig. Denken: Das kann doch nicht sein! Das muss man doch abstellen! Und dann klappen wir das Heft zu und kaufen weiter ein wie gewohnt.
EVI HARTMANN, 42, ist im Weinanbaugebiet Rheingau aufgewachsen. Die Frage nach einem fairen Miteinander, sagt sie, sei ihr schon auf der katholischen Mädchenschule begegnet. Heute ist die Wirtschaftsingenieurin, nach einer Zwischenstation bei der Managementberatung A.T. Kearney, Professorin für Supply Chain Management an der Universität Erlangen-Nürnberg. Hartmann hat vier Kinder und begegnet der Frage nach einem verantwortbaren Konsum täglich, vom Frühstückstisch bis zum Hörsaal. Ihr Buch „Wie viele Sklaven halten Sie?“ ist gerade beim Campus-Verlag erschienen (18 Euro, z.B. bei Buch7, Ecobookstore, Amazon).
GASTBEITRAG aus enorm.
TEXT: Christiane Langrock-Kögel
enorm ist das Magazin für den gesellschaftlichen Wandel. Es will Mut machen und unter dem Claim „Zukunft fängt bei Dir an“ zeigen, mit welchen kleinen Veränderungen jeder Einzelne einen Beitrag leisten kann. Dazu stellt enorm inspirierende Macher und ihre Ideen sowie Unternehmen und Projekte vor, die das Leben und Arbeiten zukunftsfähiger und nachhaltiger gestalten. Konstruktiv, intelligent und lösungsorientiert.
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