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„Blue Mind“: Wie sich Nähe zum Wasser auf die Psyche auswirkt

Blue Mind
Foto: CC0 / Unsplash - Eugene Chystiakov

Der Blick aufs Meer, der Spaziergang am Fluss, das Bad im See – Wasser zieht uns an. Expert:innen erklären, wie das Element unsere Psyche beeinflusst und wie wir das aktiv nutzen können.

Ohne Wasser kein Leben. Aus dem Wasser entstand das Leben auf der Erde, Wasser ist für uns überlebenswichtig. Die Siedlungen unserer Vorfahr:innen entstanden bevorzugt an Flüssen und Küsten. Diese frühe Prägung hat sich tief in unserem Unterbewusstsein verankert.

Aus psychologischer Sicht wirkt Wasser nicht nur deshalb anziehend. Ein Aufenthalt am Meer, See oder Fluss senkt den Cortisolspiegel. Das Gehirn schaltet in einen ruhigeren Modus. Die Umweltpsychologin Sandra Geiger verweist auf die sogenannte Stressreduktions-Theorie. Laut ihr ruft die Natur mit Pflanzen oder Wasser positive Emotionen hervor – Interesse, Freude und Ruhe. Das fördert die Erholung und reduziert das Stresserleben.

Wasser sehen

Eine weitere theoretische Grundlage liefert die Aufmerksamkeits-Erholungs-Theorie. In einer hektischen, lauten und uns oft mit Reizen überflutenden Umgebung wie der Stadt ist unsere Aufmerksamkeit ständig gefordert. Die Zeit in der Natur schafft einen Ausgleich. „Sie lenkt ab – aber auf eine weniger anstrengende Weise“, so die Wissenschaftlerin. Der Blick auf die gleichmäßige Bewegung des Wassers beruhigt. Sorgen verlieren an Gewicht, die mentale Präsenz kann sich erholen.

Historisch gesehen war das nicht immer so. Im Mittelalter galt das Meer als bedrohlich – voller Gefahren und Unsicherheiten. „Das änderte sich mit der Aufklärung und dem Aufkommen der Kurorte im 18. Jahrhundert“, sagt der Psychologe Florian Schmid-Höhne. Er bietet Burnout-Coachings am Meer an. Heute wissen wir: Das Meer entspannt unsere Psyche. „Der Blick in die Weite beruhigt unsere Augen, unser Gemüt. Farbpsychologisch trägt auch die blau-grüne Färbung dazu bei.“ Sie steht für Weite, Ruhe, Entspannung.

Blue Mind
Es kann beruhigen oder die Gedanken in Bewegung bringen: Studien belegen die unterschiedlichen Wirkungen von Wasser auf Seele und Geist. (Foto: CC0 / Unsplash - Peter Thomas)

Wasser hören

Doch nicht nur das Sehen wirkt – auch der Klang hat Einfluss. Das Rauschen der Wellen, das gleichmäßige Plätschern eines Baches: „Wassergeräusche werden oft als positiv empfunden“, sagt Sandra Geiger. Forschende der Carlton University und der Michigan State University untersuchten die Auswirkungen natürlicher Klanglandschaften in US-Nationalparks. Das Ergebnis: Schon das bewusste Hören von Naturgeräuschen kann Schmerzen und Stress verringern, die Stimmung aufhellen und die kognitive Leistung verbessern. Wassergeräusche hatten dabei den größten Einfluss auf die Gesundheit und positive Gefühle.

Auch tiefenpsychologisch lassen sich Erklärungen finden: Das gleichmäßige Rauschen des Meeres löst laut Schmid-Höhne das Gefühl von Geborgenheit in uns aus. Es kann uns unterbewusst an die Zeit im Mutterleib erinnern.

Wasser fühlen

Wohltuend kann ebenso der Hautkontakt sein. Ein Sprung in den See, barfuß durch den Bach, Baden im Wasser – all das regt die Sinne, das vegetative Nervensystem und den Kreislauf an. „Wasser zu berühren hat etwas Energetisches“, sagt Florian Schmid-Höhne. Die Kälte des Wassers belebt. Genauso wie die Bewegung im Wasser. „Es hat etwas Spielerisches. Kindliche Gefühle kommen hoch.“

Allerdings: „Nur wer als Kind positive Erfahrungen mit Wasser gemacht hat, hält sich auch als Erwachsener gern darin auf“, sagt Geiger. Negative Prägungen können das Gegenteil bewirken.

Im Flow des „Blue Mind“

Der amerikanische Meeresbiologe Wallace J. Nichols findet in seinem Buch viele Belege für den „Blue Mind“ – einen leicht meditativen Zustand von Ruhe, Frieden und innerem Gleichgewicht, der sich in der Nähe von Wasser einstellt. Wie schnell der Effekt eintritt, hängt allerdings von der individuellen Verfassung ab. Etwa „davon, mit welchen Problemen ich dem Wasser begegne und welche Persönlichkeit ich mitbringe“, sagt der Burnout-Coach Schmid-Höhne. Die meisten seiner Klienten öffnen sich nach zwei bis vier Tagen am Meer.

📖 Das Buch „Blue Mind: Wie Wasser uns glücklicher macht“ von Wallace J. Nichols ist online unter anderem bei Buch7, Thalia und Amazon erhältlich.

Ideen im Fluss

Für viele Menschen ist Wasser auch ein Ideen-Geber. Wasser inspiriert – durch Bewegung, Klang, wechselnde Lichtreflexe. Es schafft eine Atmosphäre, in der sich Assoziationen leichter verknüpfen lassen. Und es schenkt die nötige Ruhe, damit neue Gedanken überhaupt entstehen können. „Das ist vor allem in der Anfangsphase, beim Brainstorming, hilfreich, wenn man Ideen sammelt und sie sacken lässt“, erklärt Geiger. Weniger in den späteren Phasen, wo das analytische Denken einsetzt.

Vom Wasser lernen

Wasser ist zudem ein Lehrmeister. Seine fließende, anpassungsfähige Bewegung zeigt, wie wir selbst mit Herausforderungen umgehen können. Statt zu verharren, umfließt Wasser Hindernisse. Es bleibt in Bewegung, passt sich an, ohne sich zu verlieren – ein Prinzip, das sich aufs eigene Leben übertragen lässt.

„Die Küste und das Meer bieten uns viele Metaphern, um die eigenen Probleme zu betrachten„, sagt Florian Schmid-Höhne. „Ich kann ganz nah am Meer an sie rangehen oder von einer hohen Klippe auf sie schauen.“

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Mal aufbrausend, mal ruhig: Das Meer wirkt oft wie ein Spiegel menschlicher Emotionen. (Foto: CC0 / Unsplash - Daniil Korbut)

Am Meer relativiere sich auch vieles: „Ich kann meine Situation einordnen und zu der Erkenntnis kommen: So wichtig ist das alles nicht.“ Oder: „Ich kann meine Gefühle im Einklang oder auch im Kontrast zur Meeresoberfläche spiegeln, wenn das Meer tobt.“

Das Meer, so Schmid-Höhne weiter, stehe symbolisch für das Leben, das weitergeht. Mit der Ruhe, die es in uns auslöst, entstehen neue Pläne, die Idee für eine Veränderung im Leben.

Wasserrituale für den Alltag

Die Vorteile von Wasser lassen sich in den Alltag integrieren. Wer regelmäßig Zeit an Flüssen, Seen oder Meeren verbringt profitiert messbar. Sandra Geiger verweist auf ihre Studie mit der Arbeitsgruppe Umweltpsychologie an der Universität Wien. Sie zeigt, dass Menschen, die in Küstennähe leben oder das Meer regelmäßig besuchen, ein besseres Gesundheitsbefinden haben. Dieser Zusammenhang wurde in einer groß angelegten Untersuchung mit über 15.000 Personen aus 15 Ländern festgestellt, unabhängig von Land und Einkommen.

Auch kurze Aufenthalte wirken: Zwei Stunden Naturkontakt pro Woche seien bereits wohltuend – danach flache der Effekt ab, so Sandra Geiger. Zwischendrin können Erinnerungen helfen: „Bilder, Videos und Klänge von Wasser beruhigen das Nervensystem.“

Wichtig ist die Regelmäßigkeit. Florian Schmid-Höhne empfiehlt, die Entspannung, die man am Meer erfahren hat, mit Ritualen in den Alltag zu nehmen – etwa durch morgendliche Übungen oder Spaziergänge am Fluss oder See.

Bitte lies unseren Hinweis zu Gesundheitsthemen.

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