Einzel- und Paartherapeut Dr. Christian Kohlross verrät im Interview, wie sich ständig neue Krisen auf uns auswirken und dass uns oft nicht klar ist, wovor wir uns wirklich fürchten. Außerdem gibt er Tipps für den richtigen Umgang mit Ängsten uns Sorgen.
Die Klimakrise begleitet uns schon seit Jahrzehnten und spitzt sich dabei immer weiter zu. Dazu brach 2020 die Coronapandemie aus und kaum legt sich die Aufregung darum, greift Russland die Ukraine an. Kein Wunder also, wenn uns das Gefühl beschleicht, in einer Dauerkrise zu leben. Aber stimmt das wirklich? Und wenn ja, wie gehen wir damit um? Wir haben über das Thema mit Dr. Christian Kohlross gesprochen. Er ist Kulturwissenschaftler und arbeitet als Einzel- und Paartherapeut in Berlin.
Psychotherapeutischer Coach im Interview: „Wir leben in einer Zeit mit zahlreichen Krisen, die einander quasi ablösen“
Utopia: Im Moment scheinen sich die Krisen zu häufen – vor allem im Vergleich zur Zeit vor der Coronakrise. Stimmt das, oder trügt der Eindruck?
Dr. Kohlross: Die Ausnahme ist zur Regel geworden. Dan Diner, der ehemalige Leiter des Simon-Dubnow-Instituts in Leipzig, sagte schon vor Jahren, genau das ist, was unsere Zeit von anderen Zeiten unterscheidet. Die Menschen haben mittlerweile den Eindruck, sie leben in einer Dauerkrise.
Das klingt nachvollziehbar.
Und plausibel, weil wir in einer Zeit mit zahlreichen Krisen leben, die einander quasi ablösen. 9/11, zum Beispiel, Global Warming, die Flüchtlingskrise, Corona, gefolgt von dem Krieg in der Ukraine. Aber auch in der Vergangenheit gab es schon lange Krisenperioden, zum Beispiel den 30-jährigen Krieg. Der hat – wie der Name schon sagt – 30 Jahre gedauert und die Menschen einer fortgesetzten Krise ausgesetzt.
Egal ob kurz oder lang – eine Krise scheint also immer zu dominieren.
Genau, das zeigt auch ganz gut, dass wir Gegenwart über Krisen definieren. Und die jetzige Krise ist ganz klar der Ukrainekrieg und alles, was damit zusammenhängt.
Dann bleibt also nur, auf bessere Zeiten zu hoffen?
Viele Menschen nehmen an, wenn Krisen erstmal überwunden sind, dann gibt es keine Krisen mehr. Das scheint mir ein grundsätzliches Missverständnis.
„Menschen fürchten sich nicht vor Ereignissen, sondern vor den Gefühlen, die die Ereignisse hervorrufen.“
Was beeinflusst, wie wir Krisen wahrnehmen?
Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Im subjektiven Bereich ist es die Wahrnehmung. Allgemeiner gesagt geht es darum, wie wir die Konsequenzen einschätzen. Welche sind das und wie wahrscheinlich sind sie? Hier gehen die Meinungen auseinander, das hat man bei Corona ganz gut gesehen. Manche empfanden das Virus nicht als bedrohlich, andere zogen sich völlig aus dem sozialen Leben zurück.
Im Rahmen meiner Arbeit habe ich außerdem gelernt, dass sich Menschen nicht vor Ereignissen fürchten, sondern vor den Gefühlen, die die Ereignisse hervorrufen. Sie sagen zwar, sie hätten Angst vor Gasmangel. Aber wovor haben sie denn wirklich Angst? Vor Gefühlen – sogenannten „unwanted emotions“ – oder körperlich-seelischen Zuständen, die sie überfordern oder Unlust erzeugen. Dazu zählen in der Gaskrise zum Beispiel die Hilflosigkeit oder schlicht die Angst davor, frieren zu müssen.
Wie beeinflussen uns globale Krisen? Vor allem, wenn wir mehrere hintereinander erleben?
Krisen erzeugen Frustration. Wenn man den Eindruck hat, dass man die damit verbundene Aggression nicht in Handlung umsetzen und dadurch abführen kann, wird sie unterdrückt. Und wenn das immer wieder passiert, macht uns das müde, strengt uns an und kann im äußersten Fall dazu führen, dass man depressiv wird. Aber Krisen, das kann man gerade bei globalen Krisen sehen, haben noch einen anderen Effekt: Sie setzen Aufmerksamkeit und Energie frei.
Hätten Sie dafür ein Beispiel, wie Menschen durch Krisen aktiviert werden?
Feuerwehrmänner, Ärzte, Polizisten, auch Therapeuten sind Beispiele dafür. Im Grunde aber wir alle, da Krisen uns aus unserer Komfortzone katapultieren oder zu katapultieren drohen und dadurch unseren Fight/Flight-Mechanismus aufrufen, also körperliche und seelische Energien freisetzen.
Wie würden Sie sagen wirken sich die aktuellen Krisen auf uns als Gesellschaft aus?
Aktuell halten sich die beiden unterschiedlichen Effekte die Waage. Manche fühlen sich zwar frustriert und abgehängt, andere werden aber durch die aktuelle Situation aktiviert. Es scheint so, als seien Krisen ein gewaltiges Aktivierungssystem für Gesellschaften – durch sie werden Gesellschaften wachgehalten.
Leben in der Dauerkrise: Wie wir mit Sorgen und Ängsten umgehen
Wie sollten wir mit Sorgen oder Ängsten umgehen, die uns akut belasten?
Erstens sollten wir sie offen kommunizieren, mit uns selbst und anderen. Zweitens auf die Gefühle achten, die damit verbunden sind und vor denen wir uns fürchten. Idealerweise kann man sich einfach hinsetzten und darüber meditieren. Aber das geht nicht mit allen Emotionen. Wenn Menschen zum Beispiel andere Menschen verlieren, hilft oft nur die Bereitschaft, sich für eine gewisse Zeit durch seelischen Schmerz überwältigen zu lassen.
Was sollte man in diesem Fall tun?
Solche Nöte oder schwere Ängste sollte man immer adressieren und den Gefühlen, die sie auslösen, einen Raum geben, also sich über sie austauschen und Tränen auch mal freien Lauf lassen. Psychotherapie, aber auch Familie und Freunde können ein Raum sein, in dem man diese Emotionen ausleben kann. Hauptsache man spürt die Gefühle.
Verdrängen ist also keine gute Idee?
Verdrängen kostet oft mehr Kraft, als sich den Gefühlen zu stellen. Und wo unangenehme Gefühle unvermeidlich sind, ist es besser, gesünder, und auf Dauer hilfreicher, sie zu erleben als sie zu verdrängen oder abzuwehren. Denn die Neben- und Nachwirkungen dauerhafter Verdrängung und Abwehr sind häufig erst das, was das Leben an den Rand seiner Lebbarkeit bringt.
Darf ich mir überhaupt gerade Sorgen machen?
Die eigenen Sorgen erscheinen klein, wenn man sie mit denen von Menschen vergleicht, die in einem aktiven Kriegsgebiet leben. Wer sich das bewusst macht, den beschleicht vielleicht ein schlechtes Gewissen, wenn er über die eigene Situation klagt. Darf ich mir denn überhaupt gerade Sorgen machen?
Das Leben ist schwer vorstellbar ohne Sorge, um andere oder um das eigene Selbst. Denn das Menschliche ist dadurch definiert, dass es Sorge beinhaltet, das hat schon der Philosoph Martin Heidegger gesagt. Vollkommen sorglose Menschen wären nämlich auch vollkommen rücksichtslos – dass ist ein Zustand, der nicht erstrebenswert ist und den wir, etwa beim russischen Präsident Wladimir Putin, sogar fürchten müssen.
Sorgen gehören also dazu und man sollte sie immer erst nehmen,– solange sie nicht zu kleinlich werden. Man muss sich beispielsweise nicht um jedes kleine Fettnäpfchen sorgen, in das man treten könnte. Der Blick auf andere, zum Beispiel auf Menschen in der Ukraine, kann dann bisweilen ein hilfreiches Mittel der Selbstdistanzierung sein.
Viele von uns beschäftigen aktuell steigende Preise, die Gaskrise, Angst vor einem Krieg. Dabei handelt es sich eher um leise nagende Ängste. Hätten Sie einen Tipp, wie man mit diesen am besten umgeht?
Durch Kontrolle und Gemeinschaftsbildung.
Über ein Ereignis, das noch nicht eingetreten ist , übe ich durch Planung Kontrolle aus. Zum Beispiel kann ich mir folgende Fragen stellen: Was tue ich, wenn die Preise weiter steigen? Welche Ressourcen habe ich, welche kann ich wie umverteilen? Muss ich den ganzen Winter auf der Nordhalbkugel verbringen? Was mache ich, wie bringe ich mich und die meinen in Sicherheit, wenn der Ukrainekrieg weiter eskaliert?
Wenn ich all das nicht allein für mich, sondern zusammen mit anderen plane, entsteht eine Gemeinschaft. Und erlebt diese Gemeinschaft sich als solidarisch handelnde, wird Angst gebunden und reduziert. Die Gruppe sollte dabei möglichst nicht zu groß und überschaubar sein, wie es Freundeskreise oder die Familien sind.
Wieso sollte die Gruppe klein und überschaubar sein?
Wird die Gruppe zur Masse, reduziert sich ihre Fähigkeit wieder, Angst zu binden und zu reduzieren. Das ist auch ein Grund, warum sich Politik, die es mit Massen zu tun hat, so schwer damit tut, Ängste zu reduzieren.
Kann zu viel Sorge auch schaden?
Unsere öffentliche Kommunikation ist zu sehr auf Sorge und Probleme fokussiert. Hier funktionieren Gesellschaften ähnlich wie Paarbeziehungen: Wenn es nur noch um Sorge geht, fehlt die Utopie. Dann ist man nur auf das Negative fokussiert und kommt dadurch keinen Schritt weiter.
Heißt das, die Medien oder Privatpersonen sollten sich mehr auf das Positive konzentrieren?
Nein, aber auf das, was wir schaffen wollen. Auch Gesellschaften brauchen – nicht ausschließlich, aber auch – Visionen für die Zukunft, sonst brechen sie zusammen.
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