Die Absage mehrerer Konzerte sorgte in jüngster Zeit für Aufregung. Der Grund: Einige der Musiker:innen tragen Locks – und sind zugleich weiß. Ihnen wurde kulturelle Aneignung vorgeworfen. Was man darunter versteht und warum sie problematisch ist, erfährst du hier.
Viele Menschen sprechen derzeit davon, doch was bedeutet eigentlich „kulturelle Aneignung“? Das Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismus-Arbeit e.V. definiert kulturelle Aneignung als einen Prozess, „bei dem Elemente einer Kultur enteignet und aus dem Zusammenhang gerissen in einen anderen Kontext gesetzt werden.“
Dabei eignet sich also eine dominante Kultur (zum Beispiel weiße Europäer:innen) bestimmte kulturelle Zeichen und Praktiken einer anderen Kultur an. Dies geht häufig mit einer Bereicherung einher. Oft liegt zudem eine grundsätzliche Diskriminierung und Ausgrenzung von Personengruppen vor, die zu der Kultur gehören, welche das Objekt der Aneignung darstellt.
Tahir Della vom Verband der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD) nennt daher als ein zentrales Merkmal kultureller Aneignung, „dass es eine Gruppe gibt, die marginalisiert ist und die Merkmale aufweist, aufgrund derer sie aus wirtschaftlichen Strukturen ausgeschlossen ist. Und gleichzeitig gibt es eben dominante Kulturen oder Gesellschaften, die das sich zu eigen machen.“
Trivialisierung der Geschichte der Unterdrückung
Kulturelle Aneignung hat ein zentrales Problem: die Darstellung. Es werden Praktiken und Zeichen aus einem kulturellen Kontext entnommen und reproduziert. Wie diese Darstellung gedeutet wird, hängt stark von der Gesellschaft ab, in der sie stattfindet. Werden zum Beispiel an Karneval Kostüme getragen, welche an amerikanische Ureinwohner:innen erinnern sollten, ist das eine sehr oberflächliche Darstellung. Bestes Beispiel: Der „kriegerische“ amerikanische Ureinwohner als Antagonist des „guten“ Cowboys.
Tahir Della hält dabei auch für problematisch, dass sich „weiße Menschen als Indigene verkleiden und dabei völlig außer Acht gelassen wird, was hier zugrunde liegt. Dabei wird ein Stereotyp in Gesellschaften abgebildet und reproduziert.“ Gleichzeitig wird seines Erachtens zu wenig darüber gesprochen, wie in den letzten 500 Jahren weltweit Unerdrückung stattfand: Della zufolge braucht es „eine Wahrnehmung von Diskriminierungserfahrung und eine Wahrnehmung von Geschichte“, also Verständnis dafür, welche Geschichte hier zugrunde liegt. Sich als Ureinwohner:in Amerikas zu verkleiden und womöglich noch freudig „Cowboy und I…“ zu spielen, beschönigt den Genozid an der indigenen Bevölkerung Amerikas.
Außerdem ist so ein Kostüm eine Verzerrung dessen, was diese Menschen ausmacht, zumal es ursprünglich weit über 500 Gruppen amerikanischer Ureinwohner:innen mit ganz unterschiedlichen Praktiken, mit unterschiedlicher Tracht und mit verschiedensten traditionellen Haarstilen gab.
Allgemein gesprochen ist der Umgang mit unterrepräsentierten Minderheiten wie Schwarzen Menschen, PoC (People of Color) und indigenen Menschen „noch ganz stark von einer Ignoranz und einer diskriminierenden Haltung geprägt“, so Della. Dies wird durch Formen der kulturellen Aneignung häufig verstärkt und fortgesetzt.
Über einen langen Zeitraum werden so Bilder und Wahrnehmungen in das kollektive Gedächtnis gestanzt und fortgeführt, die ausgrenzend und abwertend sind. Kulturen und Gruppen werden stilisiert und stereotypisiert.
„Böses Erwachen“: Sozialisierung führt zu Verklärung
Auch angesichts der aktuellen Debatte um die Karl-May-Bücher entfachte sich eine Diskussion um kulturelle Aneignung. Hier hieß es von mancher Seite, dass eine Minderheit der Mehrheit etwas verbieten, wegnehmen oder absprechen wolle.
„Aber genau darum geht es eben nicht, sondern es geht eher mal darum, festzustellen: Inwieweit können weiße Menschen eine gewisse Sensibilität an den Tag legen und auch erarbeiten, damit nicht das Erbe der 500-jährigen Kolonialisierung permanent reproduziert wird von einer Dominanzkultur,“
sagt Della. In diesem Zusammenhang tun wir (als Gesellschaft) so, „als ob sozusagen naturgegeben ist, dass Menschen verletzt werden in der Gesellschaft“, so der Sprecher des ISD.
Gerade bei emotionalen Bildern und Darstellungen wie bei Karl May oder bei Pippi Langstrumpf, die viele noch aus der Kindheit kennen, führt Kritik schnell zu Abwehr. „Pippi Langstrumpf war ja auch ein gutes Beispiel, an dem ja auch ganz lange festgehalten wurde und gesagt wurde, das ist ein ‚role model‘ für Frauen und für junge Frauen. Und beim genauen Hinsehen merkt man eben, dass es nicht ganz unproblematisch ist„, so Della. Pippi Langstrumpfs Vater war zum Beispiel der König in „Takatuka-Land“, der als weißer Mann Schwarze Menschen regierte. Außerdem werden im Buch rassistische Begriffe für Schwarze Menschen verwendet. Della meint in diesem Zusammenhang:
„Jetzt gibt es bei vielen weißen Menschen so ein böses Erwachen, dass wir eben vielleicht doch von mehr Sachen negativ geprägt sind, als uns vielleicht lieb ist.“
Oft wird gerade in Bezug auf Bücher oder Filme die Aussage bemüht, dass etwas vor soundsovielen Jahren geschrieben oder produziert wurde, und dass es deshalb ganz anders gemeint gewesen sei. Doch hier gilt es laut Della, den Mut aufzubringen, Dinge aus der heutigen Perspektive zu betrachten: „Natürlich müssen wir Dinge aus dem heutigen Blickwinkel betrachten, weil wir im Heute leben und nicht vor 150 Jahren.“ Dann zeigt sich schnell, dass die Repräsentation nicht mehr zeitgemäß ist und deshalb nicht mehr undifferenziert an nächste Generationen weitergegeben werden sollte.
Della zufolge ist es an der Zeit, „mal deutlich zu machen, welche Probleme in solchen Texten, in solchen Publikationen, in solchen Filmen liegen und was sozusagen mit diesen Themen einher geht. Nämlich eine anhaltende Marginalisierung von Schwarzen Menschen, von PoCs oder indigenen Menschen in der Gesellschaft, die sozusagen tagtäglich zutrifft.“
Kulturelle Aneignung und Stellvertreter-Debatten
Kulturelle Aneignung wurde in jüngster Zeit im Zuge der Absagen einiger Konzerte von weißen Musiker:innen mit als Dreadlocks bekannter Frisur thematisiert. Der Begriff „Dreadlocks“ geht übrigens auf die Kolonialzeit in Jamaika zurück und ist deshalb kritisch zu betrachten. Die Frisur diente damals als bewusste Abgrenzung von weißen Schönheitsidealen. Bei Außenstehenden riefen die Frisuren damals Angst und Ekel hervor, daher der Name, der auf das englische Wort für „Furcht“ zurückgeht.
Vor kurzem buchten also Konzertveranstalter:innen Bands für Veranstaltungen, luden diese dann jedoch wieder aus – weil weiße Bandmitglieder Locks tragen. Unter anderem gab es die Befürchtung, dass sich das Publikum daran stoßen könnte. In einem bestimmten Fall gipfelte das Ganze in dem Ultimatum: Eine weiße Locks-Trägerin hätte doch mit ihrem Ensemble auftreten dürfen, sofern sie sich ihre Haare vorher abschneidet. Das sorgte für Entrüstung und Unverständnis.
Ob solche Maßnahmen angebracht sind, dazu gibt es verschiedene mehr oder weniger laute Meinungen. Im besten Fall entstehen daraus konstruktive Debatten, die ein respektvolles Miteinander fördern. Mehrheitlich, so scheint es, führen solche Maßnahmen jedoch eher dazu, dass die Debatte um kulturelle Aneignung einer Debatte um „Verbotskultur“ weicht. Dabei geht es in der Debatte um kulturelle Aneignung nicht um Verbote und Konflikt, es geht um Respekt.
Der zentrale Punkt liegt für Tahir Della eben woanders: Wenn man als weiße Person auf Locks verzichten will, dann nicht „weil jemand einem etwas verbietet oder weil einem jemand etwas abspricht, sondern eher um deutlich zu machen, dass es hier eine Tradition gibt, die belastet ist, die auch ihren Ursprung in der Unterdrückung hat“.
BIPoC sind bei dem Thema Locks übrigens natürlich ebenso wenig einer Meinung, wie es andere Gruppen zu spezifischen Fragestellungen sind. Sind Locks bei Weißen also in Ordnung? Statt diese Frage zu beantworten, hält Della für wichtiger, dass wir dazu ins Gespräch kommen, warum es überhaupt solche Merkmale gibt und welchen Ursprung und welche Bedeutung diese haben.
Übrigens: Locks finden sich in vielen Kulturen oder Religionen, unter anderem in Indien oder in Religionsgemeinschaften des Rastafarianismus. Sie sind also nicht zwingend nur einer Kultur oder einer Gruppe zuzuordnen. Aber der Haarstil ist historisch eng verwoben mit der Geschichte der Sklaverei und der Unterdrückung afrikanischer und afro-amerikanischer Menschen.
Cherry Picking: Bei Weißen „cool“, bei BIPoC problematisch
Bleiben wir bei Haaren als Beispiel für die Problematik rund um kulturelle Aneignung. Eine andere Frisur, die (von weißen Menschen getragen) schon länger in die Kritik geraten ist, sind die sogenannten Cornrows, wie sie teils auch schon weiße Stars wie Miley Cyrus oder Christina Aguilera zierten. Stell dir nun also vor, du gehst auf ein Festival und hast dir dafür als weiße Person Conrows flechten lassen. Deine Idee: Mit der Frisur stichst du aus der Masse raus und du du musst dich auf dem Festival nicht groß um das Styling deiner Haare kümmern. Doch für das Vorstellungsgespräch in der Folgewoche öffnest du die Zöpfe wieder und kehrst zurück zu einem „seriöseren“ Look.
Dieses Beispiel veranschaulicht, wie Menschen sich Praktiken und Symbole anderer Kulturen zu eigen machen und dabei von den positiven Faktoren profitieren, die damit verbunden sind. Dass Cornrows nicht professionell genug für ein Vorstellungsgespräch wären, ist zum einen ein rassistisches Stereotyp, zum anderen aber auch deshalb problematisch, weil sich BIPoC ihrer traditionellen Haarroutine nicht einfach mal so entledigen können – oder dies wollen. Zumal der Haarstil eine kulturelle Bedeutung hat, die weit über Kosmetik hinaus geht.
Schwarze Menschen, indigene Menschen und People of Color haben dabei nicht die Möglichkeit des Rosinenpickens. Denn: Sie können nicht die mit der kulturellen Praxis verbundenen positiven Effekte nutzen, ohne dabei die negativen Effekte ebenfalls zu spüren, wie zum Beispiel Ausgrenzung und Diskriminierung.
Nun kann man natürlich behaupten, dass gegenüber weißen Menschen mit Locks (oder Cornrows) ebenfalls Vorurteile herrschen können und dass sie wegen ihrer Frisur nicht immer positives Feedback erhalten. Doch werden sie deshalb systematisch diskriminiert, ausgegrenzt und benachteiligt? Stellt man sich diese Frage ehrlich, kommt man wahrscheinlich schnell zu dem Schluss, dass die negativen Erfahrungen weißer Locks-Träger:innen im Vergleich zu den Rassismus-Erfahrungen von BIPoC (mit oder ohne Locks) nicht im entferntesten vergleichbar sind.
Aneignung oder Anerkennung?
Ein Meister der Aneignung kultureller Praktiken war der „King of Rock’n’Roll“ Elvis Presley. Über seine ganze Karriere hinweg wurde er stark beeinflusst von der Musik afroamerikanischer Künstler:innen, die er bereits als Kind in den US-Südstaaten hörte. Als weißer Entertainer gelang es Elvis, die Musik zu adaptieren (oder sogar ganz zu kopieren) und damit durchschlagenden Erfolg zu erlangen. Noch heute kennen Kinder seinen Namen und sein Leben wird in Hollywood-Blockbustern verfilmt. Doch wie viele Menschen kennen die Musiker:innen, die Elvis nachhaltig beeinflussten und gewissermaßen für seinen Erfolg verantwortlich waren? Oder wer kennt Muddy Waters, den afroamerikanischen Blues-Musiker, der für die Gründung und den Stil der Rolling Stones maßgeblich verantwortlich war? Die Band benannte sich sogar nach einem seiner Songs.
Auch dies sind Beispiele für kulturelle Aneignung, die (zugegebenermaßen) auf Bewunderung gründen und die mit Wertschätzung gegenüber der damit verbundenen musikalischen Tradition einher gehen. Fakt ist jedoch auch, dass Musiker wie Elvis Presley und die Rolling Stones enorm von dem Kopieren und Imitieren einer anderen Kultur profitierten. Einflussreiche Blues-Musiker:innen dieser Tage hatten es oft schwer, kommerziellen Erfolg zu haben. Zudem wurde in vielen Fällen nicht deutlich, welchen Einfluss die afroamerikanischen Künstler:innen auf die Musik von Elvis und anderen hatten.
In solchen Fällen sei laut Tahir Della wichtig anzuerkennen, dass die Musik einen Ursprung hat und dieser benannt werden sollte. Die Rolling Stones haben Della zufolge bereits einiges richtig gemacht und gezeigt, „dass eben dieses gegenseitige Inspirieren durchaus funktionieren kann, wenn es eben nicht davon geprägt ist, dass der Ursprung unsichtbar gemacht wird und wir uns im globalen Norden das zu eigen machen, nach dem Motto: Wir haben es erfunden.“ Auch hier geht es um Repräsentation der Leistung anderer, die in manchen Fällen als eine reine Eigenleistung verkauft wird; wortwörtlich.
Am Beispiel der Rolling Stones oder anderer Musiker habe sich laut Tahir Della aber auch gezeigt, dass es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, mit Privilegien umzugehen. So nannten die Stones zum Beispiel Muddy Waters zumindest als ihre große musikalische Inspiration und traten immerhin auch mit ihm gemeinsam auf und teilten (zumindest sehr kurz) das Rampenlicht.
Im Gegensatz dazu steht, was Della „dieses permanente Unsichtbarmachen“ von eigentlichen Urheber:innen und Gruppen nennt und für problematisch hält: „Weil das ja im Endeffekt nicht nur dazu führt, dass Menschen ausgebeutet werden und weniger verdienen, sondern es führt eben dazu, dass die europäische Perspektive oder die europäische Rolle weiterhin dominant scheint. Und das ist eben das Grundproblem.“
Übersehen des eigentlichen Problems: Rassismus
Was bei kultureller Aneignung stattfindet ist eine Weiterführung rassistischer Stereotype, die vielleicht von vielen nicht so empfunden oder auch nicht so gemeint sind. Dennoch bleiben diese schädlich und fördern rassistische Denkmuster – persönlich wie auch strukturell. Tahir Della meint, dass wir zwar „schon so weit sind, dass wir immer mehr davon sprechen.“ Aber es herrsche noch immer eine sehr unterschiedliche Auffassung davon, was Rassismus ist.
Ob Menschen nun wissentlich rassistisch handeln, sollte nicht das entscheidende Kriterium sein. Della zufolge kann solches Handeln auch dann stattfinden, „wenn ich keine Intention habe, also keine bewusste rassistische Haltung habe, sondern eben geprägt bin von rassistischen Bildern.“ Sich dessen bewusst zu werden, dass man in einem Umfeld sozialisiert wurde, das rassistische Denkmuster und Fehlrepräsentationen unterstützt(e), ist eine Erkenntnis, die laut Della Türen öffnet – „für eine Debatte, die weiter geht, als sich nur mit so einer Art Beweisaufnahme zu beschäftigen: ‚Gibt es überhaupt Rassismus in Deutschland?‘ Also das Eingeständnis: ‚Ja, das gibt es. Auch in allen gesellschaftlichen Situationen.'“
Utopia meint: Die Debatte um kulturelle Aneignung ist hochkompliziert –zumal sie eine schwierige Auseinandersetzung mit sich selbst, der eigenen Sozialisierung sowie der Geschichte und den (teils sehr abweichenden) Lebensrealitäten anderer Menschen erfordert. Es ist nicht eben mal schnell erklärt, was kulturelle Aneignung ist und was diese bei den Menschen auslöst, an deren kulturellen Praktiken man sich bedient. Dahinter steckt eine über 500-jährige Geschichte der Ausbeutung und des Kolonialismus, die nicht schnell im gesamten Ausmaß zu (be-)greifen ist.
Dabei ist es sehr wichtig, dass wir den Kontext von Diskriminierung und Ungleichbehandlung anerkennen, in dem zum Beispiel kulturelle Aneignung entsteht. Vor allem, wenn wir in einer diskriminierungsfreien und gerechten Gesellschaft leben wollen. Deshalb braucht es den Diskurs darüber und die Sensibilisierung dafür – vor allem in den weißen Teilen der Gesellschaft, nicht wie bereits seit langer Zeit fast ausschließlich innerhalb der BIPoC-Communities. Wir müssen lernen, rassismuskritisch zu denken und zu handeln.
Hier kannst du dich näher zum Thema kulturelle Aneignung, Rassismus und rassismuskritisches Denken informieren:
- Amadeu Antonio Stiftung
- Exit Racism: rassismuskritisch denken lernen
- Antidiskriminierungsstelle des Bundes
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