Sprechen, als wären wir alle Psychotherapeut:innen und mit Begriffen der psychischen Gesundheit nur so um sich werfen – das ist Therapy Speak. Warum wir das so gerne tun und warum es auch problematisch sein kann.
„Das war mir total peinlich, da bin ich jetzt echt traumatisiert!“, „Er hat per SMS Schluss gemacht, was für ein Narzisst!“, oder „Sie hat mir einfach abgesagt, sie ist total toxisch!“ – hast du so oder so ähnlich schon einmal gesprochen? Dann hast du dich des sogenannten Therapy Speak bedient. Dieser „Therapie-Sprech“ zeichnet sich dadurch aus, dass Begriffe, die ursprünglich aus dem Bereich der psychischen Gesundheit stammen, für alltägliche Gefühle, Verhaltensweisen und Situationen verwendet werden. Laut Expert:innen kann das nützlich sein, aber auch Risiken für sich und andere mit sich bringen.
Was ist Therapy Speak?
Therapy Speak beschreibt die Praxis, psychotherapeutische Begriffe und Konzepte in alltägliche Gespräche einfließen zu lassen – vor allem, wenn die Begriffe dabei falsch definiert oder inflationär verwendet werden.
Das kann zur humoristisch gemeinten Übersteigerung dienen (wenn zum Beispiel ein als sehr peinlich empfundenes Erlebnis als „traumatisch“ beschrieben wird) oder aber auch in ernstem Kontext genutzt werden (wenn Partner:innen sich im Streit zum Beispiel Gaslighting vorwerfen).
An sich nichts Neues
Auch wenn neue Begriffe heutzutage hauptsächlich über die sozialen Medien bekannt werden, gibt es das Konzept von Therapy Speak schon sehr lange. Hysterie beispielsweise hat im Duden neben der ursprünglichen Bedeutung als „neurotische Störung mit vielfachen physischen und psychischen Symptomen und starkem Bedürfnis nach Anerkennung“ nun auch eine aktuelle, wenn auch abwertende Bedeutung: „nervöse Aufgeregtheit, Erregtheit, Erregung, Überspanntheit“. Mittlerweile gilt die medizinische Erstbedeutung dieses Begriffs als veraltet, während sich die abwertende Bedeutung im Allgemeinsprachgebrauch etabliert hat.
Wie jede Sprache wandelt sich auch Therapy Speak im Laufe der Zeit. Wir nehmen neue Begriffe aus dem Fachjargon in die Alltagssprache auf und nach einigen Jahren haben sie sich so im täglichen Sprachgebrauch durchgesetzt, dass sie gar nicht mehr als Fachjargon auffallen:
So zitiert die Rheinische Post die Psychotherapeutin Johanna Thünker zu Therapy Speak, der vor einigen Jahren schon im Gebrauch war: „Vor circa zehn Jahren hatte plötzlich jeder Burnout, Anfang der 2000er-Jahre war jeder depri.“
Psychoanalytiker Freud hat besonders viele Konzepte geprägt, die heute fast schon zu sehr zum alltäglichen Sprachgebrauch gehören, um noch wirklich Therapy Speak zu sein: der Freudsche Versprecher, Verdrängung, das „innere Kind“.
Beispiele für Therapy Speak
Einige Begriffe des moderneren Therapy Speak dürfte jedoch älteren Generationen oder Menschen, die nicht gut Englisch sprechen, noch neu sein. Besonders gebräuchlich sind zum Beispiel:
- Trigger: Dieser Begriff wird im Therapy Speak auch für kleine Unannehmlichkeiten verwendet, um überhöht auszudrücken, wie frustrierend oder verärgernd diese waren. Beispiel: „Nach so einem stressigen Tag auch noch die falsche Bestellung ausgehängt zu bekommen, das hat mich total getriggert.“
- OCD: Diese Abkürzung für die Krankheitsbezeichnung „Obsessive-Compulsive Disorder“ (Zwangsstörung) wird für kleine Macken oder Gewohnheiten verwendet, vor allem, wenn es sich dabei um Ordnung oder Sauberkeit dreht. Beispiel: „Ich muss immer gleich alles Geschirr wegräumen, wenn ich es abgespült habe – total OCD!“
- Gaslighting: Was ursprünglich eine extrem schädliche manipulative Verhaltensweise beschreibt, beinhaltet beim Therapy Speak quasi jede Uneinigkeit. Beispiel: „Sie sagt, ich mache zu wenig im Haushalt, aber ich putze alle zwei Wochen – sie gaslighted mich total!“
- Toxisch: ist im Therapy Speak quasi ein Synonym für unangenehm. Beispiel: „Sie spricht mich ständig auf mein ungesundes Kaufverhalten an, total toxisch!“
- Narzisst:in: Ursprünglich eine echte Diagnose, kann auch einfach als Schimpfwort verwendet werden. Beispiel: „Er hat mir nicht mehr zurückgeschrieben, so ein Narzisst!“
- Boundaries: Englisch für „Grenzen“ beschreibt es ursprünglich eine gesunde Grenzsetzung, wie man sie beispielsweise mit der Therapeutin erarbeitet. Man kann durch den Begriff jedoch auch Verantwortung aus dem Weg gehen. Beispiel: „Sie hatte mich gebeten, sie ins Krankenhaus zu fahren, aber ich wollte die letzte Folge meiner Lieblingsserie ansehen. Ich habe halt auch Boundaries. Aber habe ich abgesagt.“
- PTSD: Kurz für „Post-Traumatic Stress Disorder“, zu Deutsch „posttraumatische Belastungsstörung“, wird es in Therapy Speak ähnlich wie einfach nur „Trauma“ für unangenehme Erlebnisse und deren Nachwirkung verwendet, die keineswegs wirklich traumatisch sind. Beispiel: „Ich wurde ausgefragt und wusste überhaupt nichts – ich hab total PTSD!“
Doch Therapy Speak sind nicht nur einzelne Wörter. Auch bestimmte Formulierungen fallen darunter. Ein Twitter-Post vom Jahr 2019 wurde zum viel verhöhnten Symbol der „Therapisierung“ von persönlichen Gesprächen. Wer sich schwertut, Freund:innen die erbetene Unterstützung in einer Krise zu geben, solle Folgendes erklären:
„Hey! Ich freue mich, dass du dich gemeldet hast. Ich bin gerade ausgelastet/helfe jemand anderem, der in einer Krise steckt/mit persönlichen Dingen zu tun hat, und ich glaube nicht, dass ich keine angemessene Kapazität für dich finden kann. Könnten wir uns stattdessen am [späteres Datum oder Uhrzeit] treffen / Hast du jemand anderen, an den du dich wenden kannst?“
Übersetzt in nicht-intellektualisiert heißt das: „Ich kann und will gerade nicht“, erklärt Psychotherapeutin Johanna Thünker gegenüber der Rheinischen Post.
Therapie-Begriffe als Statussymbol
Doch warum wählen so viele Menschen therapeutische Begriffe statt der Wörter, die ihre Situation eigentlich treffender beschreiben? Die Rheinische Post zitiert dazu Annette Schnabel, Professorin für Soziologie an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf:
- Wer Fachwörter scheinbar mühelos in seinen alltäglichen Gesprächen verwendet, demonstriert damit eine vermeintlich höhere Bildung und Überlegenheit.
- Fachwörter klingen wissenschaftlich und klar definiert. Wer sich selbst als „depressiv“ statt einfach als „traurig“ bezeichnet, mag damit Schwammigkeit vermeiden wollen. Doch wenn keine Diagnose und kein spezielles Fachwissen vorliegt, wäre „traurig“ der weit passendere Begriff.
Wie die Zeitung New Yorker erklärt, kommt vor allem in den USA – wo generell viele der auch bei uns bekannten Online-Trends entstehen – noch ein Aspekt hinzu: Grundlegende psychische Gesundheitsvorsorge ist dort ein echtes Luxusgut. So wird auch der Wortschatz daraus zum Statussymbol. Um Therapy Speak ganz locker und nebensächlich in Gespräche einfließen zu lassen und scheinbar gekonnt auf sich selbst zu beziehen, muss sich die Therapie, wo dieses „Wissen“ herkommt, schließlich auch erst einmal leisten können.
So kann Therapy Speak auch helfen
Ganz sinn- und nutzlos ist Therapy Speak laut Expert:innen jedoch nicht. Soziologin Schnabel erklärt, dass es helfen kann, seine Gefühle und Erlebnisse überhaupt zu thematisieren, wo einem vorher vielleicht wortwörtlich die Worte gefehlt haben. Das Ziel davon müsse jedoch eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Situation sein.
Laut Expert:innen, die der Guardian zitiert, könnten sich folgende weitere Vorteile ergeben:
- Durch die Verbreitung von psychologischen Begriffen wird ein höheres Bewusstsein für mentale Gesundheit und deren Dynamiken geschaffen, insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
- Therapy Speak bietet eine gemeinsame Sprache, die es Menschen ermöglicht, über ihre psychischen Probleme offener zu sprechen, was früher oft tabuisiert war.
- Ein offenerer Umgang mit mentalen Gesundheitsproblemen könnte dazu beitragen, das Leiden zu verringern und langfristig positiv auf zukünftige Generationen einzuwirken.
- Für Menschen, die mit schwierigen Lebensumständen kämpfen, kann das Verwenden von Therapy Speak ein Gefühl von Handlungsfähigkeit und Kontrolle vermitteln.
Doch insgesamt warnen die Expert:innen vor übermäßigem oder unreflektiertem Umgang damit, denn dieser birgt auch Risiken.
Welche Risiken birgt Therapy Speak?
Lori Gottlieb, Autorin des Buches „Maybe You Should Talk to Someone“, legt gegenüber dem New Yorker einige Risiken dar:
Nicht nur in Selbstaussagen kann Therapy Speak verwendet werden. Wer von einer Freundin hört, dass eine bestimmte Situation sie sehr verärgert hat und daraufhin vermeintlich mitfühlend zusammenfasst, dass sie wohl getriggert wurde, verleiht sich damit selbst unverdiente Autorität und pathologisiert gleichzeitig die Gesprächspartnerin.
Die Autorin betont zudem, dass echte Therapeut:innen keineswegs allen Aussagen der Patient:innen blind zustimmen, sondern ihnen mit angebrachtem Mitgefühl helfen, sich selbst neu zu sehen. In den sozialen Medien folgt auf Therapy Speak jedoch oft eher blinde Zustimmung – schließlich kennt die Person die Fachbegriffe und scheint zu wissen, wovon sie spricht.
Dr. Jonathan Shedler, Psychologe an der University of California erklärt gegenüber dem Guardian, dass Therapy Speak keineswegs zwangsläufig dazu führen muss, dass wir offener und bewusster über unsere Gefühle und psychische Gesundheit sprechen. Ihm zufolge könne man sich durch diese Begriffe der Populär-Psychologie auch von der Komplexität seiner echten Gefühle distanzieren. In echter Therapie würde er immer nachfragen, um spezifische Beispiele von Patient:innen zu bekommen. Hört er, jemand hat sich „getriggert“ gefühlt, versucht er herauszufinden, was die Person wirklich gefühlt hat: Angst? Wut?
Ein weiteres Argument gegen die unreflektierte Verwendung vom Therapy Speak ist, dass der Bedeutungswandel, der damit eingeht, wirklich Betroffenen das Vokabular raubt. Erzählt heute jemand in einer sozialen Runde, eine bestimmte Sache wäre für ihn oder sie ein echter Trigger, würde das vermutlich erst einmal im Sinne der Therapy Speak verstanden: Das macht diese Person sehr wütend. So können Missverständnisse auch zu echtem psychischen Schaden führen, wenn die Gesprächspartner:innen nicht verstehen, dass es sich tatsächlich um klinisch diagnostiziertes PTSD handelt und nicht um eine Dramatisierung oder einen Witz.
Übrigens: Als Gegenstück zum Therapy Speak könnte man Begriffe bezeichnen, die nach Psychotherapie klingen, aber nicht von dort stammen. Besonders häufig sind dabei zum Beispiel verschiedenste „Syndrome“, wie zum Beispiel das Overtouched-Syndrom, das Impostor-Syndrom oder das Perfect-Moment-Syndrom.
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