Was macht Shein und Temu so erfolgreich? Eine Psychologin deckt die Tricks auf, mit denen die Händler Konsument:innen zum Kauf verleiten. Diese sollen mit ausgeklügelten Algorithmen einen Dopaminstrom anfeuern. Die Expertin erklärt, wie das funktioniert und wie man sich schützt.
Shein und Temu verkaufen ultra-günstige Mode, die sie in Rekordgeschwindigkeit produzieren und vermarkten – vor allem in den sozialen Medien. Das Konzept wird als Ultra-Fast-Fashion bezeichnet – und ist vor allem bei jungen Menschen beliebt. Doch die Billigmode birgt auch zahlreiche Probleme:
Zum einen steht die Qualitätder Ware in der Kritik. Teile sollen etwa schnell kaputt gehen. Eine Greenpeace-Recherche fand außerdem bedenkliche Stoffe auf Shein-Kleidungsstücken, die die Grenzwerte der europäischen Chemikalienverordnung (REACH) überschritten. Zum anderen deckte eine NGO 2021 ausbeuterische Arbeitsbedingungen von Shein-Näher:innen auf. Auch die günstigen Preise deuten darauf hin, dass Löhne entlang der Lieferkette nicht sonderlich hoch sind. Hinzu kommt, dass der weltweite Lufttransport durch chinesische Ultra-Fast-Fashion-Händler beeinträchtigt wird und die Unternehmen Kosten für Zoll und Steuern mit Tricks umgehen – Utopia berichtete.
Und schließlich fördern die Shops durch zahlreiche Verkaufstricks Überkonsum. Die Verbraucherzentrale hat Temu wegen Manipulation abgemahnt, auch die Bundesregierung fordert Schritte. Vor kurzem mahnte die Verbraucherzentrale auch Shein ab.
Wie man Manipulation erkennt und sich dagegen wehrt, erklärt Kommunikationspsychologin Anita Habel. Sie engagiert sich bei Psychologists for Future und erklärt im Utopia-Podcast die Psychologie hinter Temu und Shein. Das folgende Interview basiert auf dem Gespräch. Hier gelangst du direkt zum Podcast.
Shein und Temu: Permanenter Dopaminstrom durch Algorithmen
Utopia:Frau Habel, Ultra-Fast-Fashion-Shops wie Shein und Temu boomen. Wieso sind gerade diese Händler so attraktiv für uns?
Anita Habel: Erst einmal müssen wir klären, wieso Konsum generell so ansprechend für uns ist. Dafür gibt es eine neuropsychologische Erklärung. Wir haben in unserem Gehirn ein Belohnungszentrum. Das ist eine neuronale Struktur, die immer dann anspringt, wenn wir die Aussicht auf einen besonders angenehmen Zustand haben, etwa auf eine Bedürfnisbefriedigung. Dabei wird ein Neurotransmitter namens Dopamin freigesetzt.
Dopamin hat verschiedene Funktionen, unter anderem löst es eine Art Hochgefühl aus. Und dieses Hochgefühl kann sowohl eintreten, wenn wir die Belohnung erhalten, als auch schon vorher, wenn nur die Aussicht auf eine Belohnung besteht. Das Hochgefühl gibt uns dann einen Antrieb, zu handeln, um diese Belohnung zu bekommen.
Bei Konsum kann das sehr ausgeprägt sein. Zum Beispiel kann ein Hochgefühl schon entstehen, wenn wir etwas sehen, dass wir gerne hätten.
Utopia: Und wie nutzen Shein und Temu diesen Zustand aus?
Habel: Vielleicht kennen manche folgende Situation: Wenn man shoppen geht oder auf einer Shopping-Website unterwegs ist, dann befindet man sich wie in einer Art Rauschzustand. Man merkt gar nicht, wie die Zeit vergeht und man ist voller Vorfreude auf die ganzen tollen Sachen, die man da bekommen könnte.
Shein und Temu setzen auf ein riesiges Angebot und nutzen ausgeklügelte Algorithmen, die uns ähnliche Artikel vorschlagen, während wir auf der Website oder in der App unterwegs sind. So wird dieses Rauscherleben und dieser permanente Dopaminstrom noch mehr angefeuert.
Außerdem haben sie extrem günstige Angebote, auch im Vergleich mit anderen Händlern. Shoppen wird also erschwinglicher, selbst für Menschen mit geringem Einkommen – und damit auch für Jugendliche.
„Man baut eine Art Beziehung zu Influencern auf“
Utopia: Gerade Shein und Temu werben offensiv auf Instagram oder Tiktok, wo Jugendliche präsent sind.
Habel: Genau, das kommt noch hinzu. Shein setzt sehr stark auf Influencer-Marketing. Dabei entstehen sogenannte Haul-Videos, in denen Menschen oft riesige Shein-Bestellungen auspacken. Das kann gerade für Jugendliche sehr ansprechend sein. Auch, weil Influencer-Marketing häufig nicht den Eindruck von Werbung erzeugt. Es ist schwerer zu hinterfragen, ob die Leute die Produkte für Geld bewerben oder ob sie wirklich hinter den Empfehlungen stehen.
Durch permanenten Social-Media-Kontakt entsteht zudem parasoziale Nähe, man baut also eine Art Beziehung zu den Influencern auf. Und je öfter wir mit etwas konfrontiert werden, desto mehr entsteht eine Grundsympathie und ein Grundvertrauen. Das ist ein bisschen absurd, aber so funktionieren unsere Gehirne.
Utopia: Welche anderen Taktiken nutzen Shein und Temu?
Habel: Zum Beispiel Streichpreise. Ein durchgestrichener Preis suggeriert: ‚So viel hat das Produkt ursprünglich gekostet‘. Daneben steht der aktuelle Preis. Dadurch entsteht ein sogenannter Anker-Effekt: Wir fangen automatisch an, die Preise zu vergleichen und stellen fest, dass das Produkt jetzt noch günstiger ist. Was den Reiz auslöst, sich dieses Angebot nicht entgehen zu lassen.
Außerdem sind oft ablaufende Uhren in den Shops abgebildet, die anzeigen, wie lange ein Extra-Rabatt, kostenfreier Versand oder ein spezielles Geschenk noch verfügbar ist. Auch limitierte Editionen können einen starken Sog auslösen. Denn hier wird Knappheit suggeriert und wir Menschen haben eine Verlustaversion. Das bedeutet, wir haben eine starke Abneigung gegen Verluste – und diese zu vermeiden, kann sich wie eine Belohnung anfühlen.
Wenn Händler also auf zeitlich limitierte Angebote hinweisen, wird suggeriert, man könne einen Verlust vermeiden. Dabei ist es in Wahrheit so: Wenn ich gar nichts kaufe, kann ich noch mehr sparen – nämlich 100 Prozent.
Psychologin Habel: Wie man sich vor den Verkaufstricks schützt
Utopia: Gibt es denn Tipps, sich vor diesen Verkaufstricks der Händler zu schützen?
Habel: Ja, die gibt es. Das Allerbeste ist, nicht auf die Websites von Shein und Temu zu gehen, sich die Apps nicht herunterzuladen und Werbung so gut wie möglich zu vermeiden, auch auf Social Media. Man kann sich zum Beispiel Werbeblocker einrichten oder die Webseiten auf dem Smartphone blockieren.
Wenn wir nämlich einmal auf den Websites sind, kann es sehr schwer sein, den Tricks der Händler nicht auf den Leim zu gehen – das braucht viel Impulskontrolle und Willensstärke. Für Jugendliche ist das besonders schwer, weil ihre Impulskontrolle noch nicht so ausgeprägt ist wie die von Erwachsenen.
Man kann auch versuchen, auf den Webseiten gezielt so viele manipulative Tricks zu identifizieren, wie möglich – eine Art Anti-Manipulations-Challenge. Und falls man doch einkaufen will, dann sollte man sich ein Budget setzen. Und schon vorher überlegen, was man braucht, um wirklich nur diese Teile zu kaufen.
Wieso wie Shein und Temu kaufen – obwohl wir es besser wissen
Utopia: Dass Billigmode Nachteile hat, ist bekannt – Medien berichten immer wieder darüber. Wieso konsumieren wir dann weiter Ultra-Fast-Fashion?
Habel: Aus meiner Sicht sind drei Aspekte zentral. Einer ist der globale Kontext. Wir sind in einer Zeit von Polykrisen: Die Klimakrise wird immer spürbarer, gleichzeitig nimmt soziale Ungleichheit zu. Dazu entfachen verschiedene Kriege und Konflikte zwischen Ländern. Wir erleben einen Rechtsruck und Vertrauensverluste in Gesellschaft, Zusammenhalt und Demokratie. Einfach gesagt: Wir sind mit permanentem Stress und potenzieller Überforderung konfrontiert. Das beeinflusst auch Jugendliche. Wir wissen aus der Forschung, dass die Zukunft für Gen Z und Gen Alpha ein angstbelastetes Thema ist.
Utopia: Und wie gehen wir mit diesem Zukunftsstress um?
Habel: Häufig versuchen wir, uns vor Überforderung zu schützen, indem wir uns auf die Dinge konzentrieren, die wir selbst beeinflussen können. Dazu zählt das Aussehen, der modische Stil. Und indem ich etwas einkaufe, kann ich mir schnell ein positives Gefühl schaffen.
Zweitens befinden wir uns in einem riesengroßen Zielkonflikt zwischen ökologischer Nachhaltigkeit und dem hohen Lebensstandard unserer Wohlstandsgesellschaft. Zu diesem gehört auch, so günstig und so viel wie möglich zu konsumieren. Doch genau diese Lebensstandards führen dazu, dass wir planetare Belastungsgrenzen immer mehr überschreiten. Sie sind mit ökologischer Nachhaltigkeit nicht vereinbar.
Utopia: Und drittens?
Habel: Zusätzlich zu diesem übergeordneten Konflikt gibt es drittens auch innere Konflikte, die sogenannte psychologisch-kognitive Dissonanz. Das ist ein Fachbegriff dafür, dass unser Handeln oder unsere Wünsche im Widerspruch stehen zu unseren anderen Überzeugen und Einstellungen. Zum Beispiel: Wir wollen Nachhaltigkeit, aber gleichzeitig wollen wir unseren Lebensstandard nicht verschlechtern. Das ist letztlich eine riesengroße gesellschaftliche Dissonanz.
Utopia: Und wie gehen wir damit um?
Habel: Wir haben drei Optionen. Erstens verdrängen – also der Versuch, das Thema zu meiden oder auszublenden. Zweitens, unser Verhalten anpassen. Also zum Beispiel nicht mehr bei Shein und Temu einkaufen. Diese Option wählen wir aber am seltensten.
Die meisten Leute wählen die dritte Option, nämlich unsere Einstellungen anpassen. Wir reden uns also ein, dass es trotzdem ok ist, dort zu shoppen. Dafür nutzen wir Argumente wie ‚Wenn nur ich mein Verhalten ändere, ändert das nichts an den Umständen‘, ‚Dieses eine Mal, das macht auch keinen Unterschied‘ oder: ‚Ich bin nicht verantwortlich für das, was Konzerne machen.‘ Auch auf politischer Ebene gibt es solche Fluchtversuche davor, selbst in die Verantwortung zu gehen – zum Beispiel: ‚Wir als Regierung können ja den Unternehmen nicht vorschreiben, was sie zu tun haben.‘
Weg von Billigmode: „Bewusstsein zu schärfen, wird nicht reichen“
Utopia: Welche anderen Maßnahmen bräuchte es denn, um als Gesellschaft weg von Billigmode zu kommen? Können wir das überhaupt?
Habel: Das Bewusstsein zu schärfen, wird nicht reichen. Denn dass Billigmode nicht nachhaltig ist, ist bekannt – und trotzdem konsumieren wir weiter wie irre.
Wir Menschen werden also nicht von allein entscheiden, weniger zu konsumieren. Denn das ginge mit Verlust von etwas einher, das wir positiv wahrnehmen. Zum Beispiel die Möglichkeit, ständig alles kaufen zu können. Tatsächlich passiert gerade eher das Gegenteil: Wir konsumieren immer mehr.
Von Unternehmensseite wird sich ebenfalls nichts tun, weil das dem Geschäftsmodell widerspräche. Das heißt, was wir brauchen, sind politische Gesetzgebungen bis hin zu Verboten.
Utopia: Könnten Sie etwas konkreter werden?
Habel: Das deutsche und das europäische Lieferkettengesetz sind Beispiele für solche Versuche, Umweltschäden und Ausbeutung zu reduzieren. Eigentlich müssten soziale und ökologische Nachhaltigkeit aber Standard sein.
Utopia: Allerdings wirtschaften die allerwenigsten Marken wirklich nachhaltig. Das Problem umfasst viel mehr Unternehmen als Shein und Temu.
Habel: Ganz genau. Unser Grundproblem ist, dass unser Wirtschaftssystem auf Ausbeutung und Wachstum aufgebaut ist, was per se nicht nachhaltig ist. Eine Alternative müsste eine sozialverträgliche und naturverträgliche Kreislaufwirtschaft sein. Aber wir haben bisher keinen Plan, um unser Wachstumssystem darauf umzustellen. Solange dieser Übergang fehlt, werden Bemühungen zu mehr Nachhaltigkeit letztlich nie ausreichen. Um Kreislaufwirtschaft zu erreichen, braucht es unter anderem Forschung – und das Ziel muss zur obersten Priorität erklärt werden.
Im Podcast geht Anita Habel noch ausführlicher auf die psychologischen Hintergründe unseres Modekonsums ein. Außerdem gibt die Expertin Tipps, was Einzelpersonen tun können, um alte Shoppingmuster zu durchbrechen. Und sie erklärt, wie Eltern am besten damit umgehen, wenn ihre Kinder auf Shein und Temu shoppen.
Die Podcast-Folge kannst du direkt hier nachhören:
Alternativ findest du den Utopia-Podcast auf Spotify, Apple Podcasts oder allen anderen gängigen Plattformen.
** mit ** markierte oder orange unterstrichene Links zu Bezugsquellen sind teilweise Partner-Links: Wenn ihr hier kauft, unterstützt ihr aktiv Utopia.de, denn wir erhalten dann einen kleinen Teil vom Verkaufserlös. Mehr Infos.War dieser Artikel interessant?