Virtual Reality gibt es nicht nur für Menschen. Ein Milchbauer in der Türkei lässt einige seiner Kühe seit kurzem Virtual-Reality-Brillen tragen, um die Milchproduktion anzuregen. Mit Erfolg, behauptet er – Expert:innen bezweifeln jedoch den Nutzen.
Kühe, die dicht aneinander gedrängt in Ställen stehen – diese Bilder sind leider nichts Außergewöhnliches. Aber nur selten tragen die Tiere dabei eine oder gleich zwei schwarze, futuristisch aussehende, schwarze Kästen vor den Augen. Doch genau das zeigten Aufnahmen aus der RusMoko Farm in der Nähe von Moskau schon 2019. Und vor kurzem wurden auch ähnliche Bilder von einer weitern Farm in Aksaray, in der Türkei veröffentlicht. Die Betriebe wollen mit den Virtual-Reality-Brillen (VR-Brillen) die Milchproduktion verbessern.
Das „Ministerium für Landwirtschaft und Ernährung der Region Moskau“ erklärt den Hintergrund: Studien hätten gezeigt, dass Kühe in einer positiven, ruhigen Atmosphäre mehr Milch produzieren und sich sogar die Milchqualität verbessern könne. In Vororten von Moskau würden Betriebe deswegen bereits klassische Musik spielen.
Die VR-Brille wurde an Kuhköpfe angepasst
Die Idee, Kühe mit VR-Brillen auszustatten, ist noch relativ neu: Im November 2019 gingen die ersten Bilder aus einem russischen Landwirtschaftsbetrieb durch die Medien. Die Hersteller:innen hatten sich unter anderem von Tierärzt:innen beraten lassen und die Brille an den größeren Kuhkopf angepasst. Außerdem spielten Überlegungen zum Sehvermögen von Kühen eine Rolle – die Tiere sehen etwa Rottöne besser als Grün- und Blautöne.
Kühe, die eine VR-Brille tragen, sehen ein Sommerfeld. Wieso die Entwickler:innen dieses Bild ausgewählt haben, schreibt das Ministerium allerdings nicht. Unklar ist außerdem, wo die Kühe stehen, wenn sie diese Bilder sehen – und ob sie sich frei bewegen können.
Zusätzlich spiele der türkische Bauer Izzet Kocak den Tieren Musik von Beethoven und Mozart vor. Die tägliche Milchproduktion der beiden Kühe, an denen er die Brillen teste, sei innerhalb einer Woche von 22 auf 27 Liter gestiegen. Das wäre ein Anstieg um mehr als 20 Prozent. Kocak erhebt dabei keinen wissenschaftlichen Anspruch: „Das ist keine wissenschaftliche Studie. Das ist amateurhaft. Dessen sind wir uns bewusst“, sagt er.
Zweifel seitens Expert:innen: Verbesserung fraglich und mehr Stress für Kühe
Expert:innen äußern nun nach Berichten über Virtual-Reality-Brillen (VR) für Kühe Zweifel daran, ob diese Geräte wirklich einen Nutzen für die Milchproduktion haben. Sie halten einen positiven Effekt der Brillen für nicht plausibel: „Ich halte es für ausgeschlossen, dass sich 20 Minuten VR-Brille-Tragen leistungssteigernd auswirken“, sagt etwa Benito Weise, der für die niedersächsische Landwirtschaftskammer zu Kühen und Virtual-Reality-Brillen geforscht hat.
Dass sich Videos, die auf für Menschen gemachten VR-Geräten abgespielt werden, sich auf Rinder und ihre Milchleistung positiv auswirken, ist für einige Expert:innen fraglich. Agraringenieur Weise sagte dazu, dass Kühe mehr Einzelbilder pro Sekunde unterscheiden könnten als Menschen. Ein wie von Kocak beschriebenes und auf einem Smartphone abgespieltes Video würden Kühe deshalb nicht wie Menschen als entspannendes Naturbild wahrnehmen – sondern wohl als Flackern und es vermutlich sogar als unangenehm oder stressig empfinden. Stress wirke sich aber negativ auf die Milchleistung aus.
Angesichts der Behauptung, die Milchleistung sei gestiegen, sind auch andere Umstände entscheidend. Es sei zwar nicht ungewöhnlich, dass eine Kuh an einem Tag 20 Prozent mehr Milch gebe als die Herde im Durchschnitt. Dies könne aber etwa damit zu tun haben, in welchem Abschnitt der Laktation (milchgebenden Periode) sich das Tier befinde. Viele Faktoren spielten eine Rolle. Zum Versuch in der Türkei seien nur wenige Informationen bekannt und die Stichprobe sehr gering, sagte Volker Röttgen vom Forschungsinstitut für Nutztierbiologie (FBN): „Nach derzeitigem Forschungsstand halte ich eine solche Steigerung der Milchmenge durch eine 20-minütige „Behandlung“ mittels VR Brille für nicht möglich.“
Lieber bessere Haltungsbedingungen für Kühe statt VR-Brille
Bislang scheinen die Test-Betriebe mit dem VR-Brillen zufrieden zu sein. Während der ersten Tests in Russland ließ sich ein „Rückgang der Angstzustände“ feststellen, schreibt das Ministerium. Außerdem sei die allgemeine emotionale Stimmung der Herde angestiegen. Und der Milchbauer Izzet Kocak gibt gegenüber der britischen Boulevardzeitung The Sun an, als er die Brillen bei zwei seiner Kühe testete, habe sich deren Milchproduktion von 22 Liter auf 27 Liter pro Tag erhöht. Falls weitere Studien diese Ergebnisse bestätigen, könnten bald noch mehr Kühe VR-Brillen tragen.
Utopia meint: Anbindehaltung, Trennung der Mütter von den Kälbern und sterile Massenfabriken: Es ist ja erfreulich, wenn Betriebe sich Gedanken machen, wie sie das Leben der Kühe angenehmer gestalten können. Die Betreiber:innen der beiden genannten Farmen haben dabei aber offenbar selbst den Bezug zur Realität verloren. Sie setzen den Kühen eine Brille auf und lassen sie in einer Scheinwelt leben – anstatt die Haltungsbedingungen zu verbessern. Das mag zwar günstiger für die Betreiber:innen sein, hat mit tierfreundlicher Haltung aber wenig zu tun. Hoffentlich setzt sich das System nicht durch.
(Quelle: Mit Material der dpa)
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