Von einer Invasion, Überschwemmung oder gar der „gelben Pest“ ist die Rede – ganz Deutschland ist genervt von den schwarz-gelben Leih-Rädern, die man derzeit in vielen Großstädten sieht. Dabei wäre diese Aufregung woanders besser aufgehoben.
Die Leih-Räder der Firma Obike aus Singapur breiteten sich quasi über Nacht in Deutschland aus: In München, Frankfurt, Berlin und Hannover wurden die Räder verteilt. Insgesamt 30.000 Obikes sollen es in Deutschland und den Niederlanden insgesamt sein.
Es gibt zwar zahlreiche weitere Verleihsysteme, allerdings fällt der asiatische Anbieter besonders negativ auf. Wegen der schlechten, weil extrem billigen Bauweise scheinen Obikes öfter zu stehen als zu fahren – und genau das ist im Moment ein ziemlicher Aufreger. Die Obikes stehen in Parks, blockieren Radwege, verstopfen Gehwege und versperren die Zugänge von Schulen und U-Bahn-Stationen.
Verstopft, blockiert, versperrt: Leihräder wie Obike sind nicht das Problem
Dabei sind die Leih-Räder nur ein kleines Problem. Während sich alle darüber beschweren, dass sie es sind, die unsere Städte blockieren und zustellen, sind sie blind für die eigentlichen Platzräuber.
Tatsächlich teilen wir uns die Stadt nicht mit 30.000 Obikes – sondern mit 64 Millionen Autos. Mit ihnen konkurrieren wir um Wohnraum, um Grünanlagen, um Spielplätze und Parks – um Raum zum Leben.
Nicht die Obikes, sondern die Massen an Autos sind es, die unsere Innenstädte zuparken, Fahrradwege und Straßenränder blockieren und öffentliche Flächen einnehmen, die immer knapper werden.
Obikes verpesten weder die Luft noch machen sie Lärm
Statt darüber zu diskutieren, wie man den „Leihfahrrad-Wildwuchs“ in den Griff bekommen könnte, sollten sich die Städte deshalb lieber mit dem Auto-Wildwuchs beschäftigen. Denn trotz der Debatte um umweltschädliche Verbrennungsmotoren werden in Deutschland immer mehr Autos angemeldet: 2018 gab es 1,1 Millionen Fahrzeuge mehr als im Vorjahr.
Über 700.000 Fahrzeuge kommen zum Beispiel in München auf 1,4 Millionen Einwohner. Jeder zweite hat hier ein Auto. Das nimmt nicht nur Platz weg, sondern verpestet auch die Luft: Laut Umweltbundesamt (UBA) wurden 2017 in der bayerischen Landeshauptstadt im Jahresmittel 78 Mikrogramm NO2 (Stickstoffdioxid) pro Kubikmeter Luft gemessen – der Grenzwert liegt bei 40 Mikrogramm. Danach kommt Stuttgart mit 73 Mikrogramm und Köln mit 62 Mikrogramm.
Ein weiteres Problem: Autos sind extrem laut – der Straßenverkehr ist dem UBA zufolge auch die dominierende Lärmquelle in Deutschland. Über die Hälfte der Deutschen sind tagsüber einem Pegel von 55 Dezibel (dB(A)) ausgesetzt.
2,5 Millionen Menschen müssen sogar 65 dB(A) ertragen. Das entspricht dem Krach einer gut gefüllten Kantine. Der Autolärm ist extrem störend, viel schlimmer ist aber, dass er Stress verursacht und unsere Gesundheit gefährdet: 4.000 Herzinfarkte pro Jahr führt das UBA auf den Verkehrslärm zurück.
Wir brauchen bessere Bedingungen zum Fahrradfahren
Die Lösung für das Auto-Problem ist einfach: Mehr Menschen müssen aufs Fahrrad umsteigen. Bike-Sharing wäre das perfekte Mittel dafür.
Dazu muss sich zum einen die Fahrradinfrastruktur verbessern: Es braucht überall breite, gut ausgebaute und ausgeschilderte Radwege, möglichst getrennt von der Straße. Zudem Radschnellwege und Fahrrad-Vorrangrouten, damit Pendler zügig vorankommen und Fahrradparkhäuser an allen Bahnhöfen.
Zum anderen sollten Fahrrad-Verleih-Systeme öffentlich gefördert und mitfinanziert werden. Nur so können Qualität und Verlässlichkeit des Angebots gesichert werden, sagt der deutsche Fahrrad-Club ADFC. Damit man es schafft, Autofahrer aufs Fahrrad zu bekommen, muss das Leihen einfach und günstig, die Räder funktionstüchtig und verfügbar sein.
Andere Städte zeigen, dass es funktioniert
In Paris etwa werden Leihräder aufgrund des großen Angebots durchschnittlich mehr als zehn Mal am Tag genutzt. Laut der Studie Bikeplus Survey aus dem Jahr 2017 haben in Großbritannien fast ein Viertel der Leihradnutzer vorher gar kein Fahrrad benutzt, jeder fünfte Befragte wäre ohne Leihrad einfach mit dem Auto gefahren.
Statt sich also lautstark darüber zu beschweren, dass Bike-Sharing-Anbieter ungehindert in den Markt drängen, sollte man das eigentliche Problem anpacken: Fahrradfahren attraktiver machen, damit Autofahren unattraktiver wird – und sich die Lebensqualität in den Städten endlich wieder verbessert. Lies dazu auch 5 gute Gründe, Fahrrad statt Auto zu fahren.
In München war die Aufregung über die Obikes übrigens besonders groß. Der Vorsitzende des ADFC München, Martin Glas, hält es für gut möglich, dass das vor allem daran lag, weil die Münchner plötzlich keinen Platz mehr gehabt hätten, um ihre SUVs auf dem Gehweg zu parken.
Weiterlesen auf Utopia.de:
- Critical Mass: Für eine bessere Fahrradkultur
- Bei diesem Bike-Sharing-Anbieter zahlt jeder, so viel es ihm wert ist
- Verkehrsexperte: „Ohne Autofahrern weh zu tun, geht es nicht“
War dieser Artikel interessant?