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Von Querdenken bis Putin-Propaganda: „Im Gespräch mit radikalen Menschen gelten andere Regeln“

Interview: Radikale Ideologien
Foto: CC0 Public Domain / Unsplash – Ehimetalor Akhere Unuabona

In Zeiten von Pandemie und Krieg driften viele Menschen in Parallelwelten ab – und landen bei Querdenken-Demos, Reichsbürger:innen oder der Neuen Rechten. Können wir dagegen etwas tun? Darüber haben wir mit der Radikalisierungs-Expertin Dana Buchzik gesprochen.

Dana Buchzik ist Journalistin und Autorin, außerdem ist sie Expertin für Hate Speech und Radikalisierung. Sie berät ehrenamtlich Menschen, die im eigenen Umfeld Radikalisierung erleben. Buchzik ist selbst in einer Sekte aufgewachsen und als junge Erwachsene ausgestiegen. Im Januar 2022 hat sie ihr neues Buch veröffentlicht: „Warum wir Familie und Freunde an radikale Ideologien verlieren – und wie wir sie zurückholen können“. Wir haben mit ihr darüber gesprochen, was man tun kann und sollte, wenn Menschen im Familien- oder Bekanntenkreis radikalen Ideologien anhängen.

Autorin Dana Buchzik
Autorin Dana Buchzik (Foto: © Caroline Pitzke)

Utopia: Dana, was genau ist denn eine radikale Ideologie?

Dana Buchzik: Also, grundsätzlich ist ja weder “radikal” noch “Ideologie” etwas Schlechtes. Eine Ideologie kann einfach eine bestimmte Weltanschauung sein. “Radikal” stammt aus dem Lateinischen und steht für “Wurzel”. Wer radikal ist, will also Probleme an der Wurzel packen. Problematisch werden radikale Ideologien dann, wenn sie Menschenrechte ignorieren und verletzen.

Erst dann? Es gibt ja viele, ich nenne es mal vorsichtig esoterische Ideologien, die nicht völlig unproblematisch erscheinen, aber bei denen man vermutlich noch nicht von Menschenrechtsverletzungen sprechen kann.

Esoterik ist ein breites Feld. Ich glaube, dass es viele Menschen gibt, die zum Beispiel bei schwerer Krankheit durchaus medizinische Hilfe suchen, bei kleineren Infekten aber auf Globuli vertrauen. Das hat eine ganz andere Dimension als zum Beispiel ein esoterischer Impfgegner, der in der Pflege mit vulnerablen Menschen arbeitet, ein gefälschtes Impfzertifikat vorlegt und während der Arbeitszeit versucht, zu missionieren. Eine gute Leitfrage ist immer: Welche Folgen hat die jeweilige Ideologie? Sowohl im direkten Umfeld als auch im großen Ganzen.

„Eine Krisensituationen verstärkt das, was schon vorher vorhanden war“

Radikale Ideologien haben seit Beginn der Pandemie starken Zulauf. Jetzt ist Krieg in der Ukraine und es kommen viele Geflüchtete – eine Situation, die in der Vergangenheit zu Radikalisierungen bewirkt hat. Warum führen Krisensituationen bei den einen zu gesteigerter Hilfsbereitschaft und bei anderen dazu, dass sie sich radikalisieren?

Eine Pandemie oder auch ein Krieg, der unter anderem mit Fluchtbewegungen einhergeht, löst nicht automatisch eine Radikalisierung aus, sondern verstärkt das, was schon vorher vorhanden war. Wenn jemand sich also schon vorher für sozialen Zusammenhalt ausgesprochen hat, sich sozial engagiert hat und so weiter, wird dieses Engagement in einer gesellschaftlichen Krisensituation zunehmen. Wenn jemand schon vorher zum Beispiel rassistische oder ableistische Überzeugungen hatte, wird er sich entsprechend eher Gruppierungen anschließen, die seine Menschenfeindlichkeit belohnen und verstärken.

"Die Erde ist flach" – Wann werden Verschwörungstheorien gefährlich?
„Die Erde ist flach“ – Wann werden Verschwörungstheorien gefährlich? (Foto: CC0 Public Domain / Unsplash – Kajetan Sumila)

Das würde ja bedeuten, dass die Menschen, deren radikale Haltung in der Coronakrise einen vielleicht persönlich überrascht hat, vorher schon, wie du es nanntest, menschenfeindliche Tendenzen hatten. Das ist bitter.

Ja, genau. Dieses Narrativ der “Blitzradikalisierung” ist in meinen Augen reine Entlastungsrhetorik. Sowohl seitens der Politik, die gerne ganz, ganz überrascht ist angesichts radikaler Gruppen und Strömungen, als auch seitens der Gesellschaft. Niemand möchte sich eingestehen, dass er vielleicht früher hätte hinschauen und handeln müssen, wenn der Onkel am Kaffeetisch schon wieder rassistische Parolen von sich gibt, oder wenn die Impfgegner-Cousine ihr kleines Kind selbst bei schwerster Krankheit nicht zu einem vermeintlich bösen “Schulmediziner” bringen will.

Und wie spricht man mit solchen Menschen?

Am Wichtigsten ist in meinen Augen, sich klarzumachen, dass im Gespräch mit radikalen Menschen andere Regeln gelten. Wir können uns in solchen Momenten nicht auf unser Bauchgefühl verlassen, denn unser Bauchgefühl sagt: Das ist sicher nur ein Missverständnis, ich muss nur den richtigen Faktencheck, das richtige Argument vorbringen, und dann löst sich alles in Wohlgefallen auf. Das hat nichts mit der realen Situation zu tun, sondern es ist letztlich der Versuch, unser Bild von unserem Gegenüber zu retten. Denn natürlich möchten wir nicht, dass eine geliebte Person menschenfeindlich ist. Wir möchten nicht, dass ihre Werte unseren komplett entgegen stehen.

Es geht im ersten Schritt vor allem darum, nicht mehr zu diskutieren, nicht mehr ständig gegeneinander zu kämpfen und zu bewerten. Im zweiten Schritt können wir Grenzen setzen und einen begrenzten Raum für die Ideologie schaffen – und auch für unsere Haltung dazu. Es geht nämlich nicht nur uns so, dass wir uns von unangenehmen und überfordernden Inhalten und Bewertungen geflutet fühlen. Unserem Gegenüber geht es genau so, und auch dafür muss ein Umgang gefunden werden. Sobald unser Gegenüber versteht, dass er nicht zensiert oder bestraft wird, ist mehr Raum dafür, gesunde Grenzen zu achten und auch zurückzufinden in die Themen und die Beziehung, die es vor der Radikalisierung gab.

Eine Tür zurück in die Welt

Aber Ideologien überlagern ja oft alle anderen Themen. Ist es wirklich möglich, dass man die quasi “ausklammert” und zu gemeinsamen Themen zurückkehrt?

Ja, absolut. Das erlebe ich in meiner Beratung immer wieder. Aber es braucht Zeit. Viele wenden sich an mich und wollen das eine schlagende Argument oder den einen tollen Satz zur Abgrenzung, der dann bitte alles richten soll. Wir müssen bereit sein, uns Zeit zu nehmen, sonst hat es schlichtweg keinen Sinn.

In meinen Augen geht es in der Beziehung zu einer radikalen Person darum, eine Tür zurück in die Welt zu sein. Und natürlich eine Kommunikation zu etablieren, mit der es beiden Parteien im Alltag gut geht. Ob die Person aber am Ende aus der radikalen Gruppe austritt, ist und bleibt ihre Entscheidung. Wenn wir mit der Erwartungshaltung in ein Gespräch gehen, dass die radikale Person sofort alles mit Füßen treten soll, woran sie gerade glaubt, ist dieses Gespräch zum Scheitern verurteilt.

Radikale Impfgegner:innen
„Es ist keine Impfung, es ist ein Gift“ – Radikale Impfgegner:innen bekommen seit Beginn der Pandemie viel Zulauf. (Foto: CC0 Public Domain / Unsplash – DJ Paine)

Und wie kann man es dann schaffen, dass die Person durch diese Tür zurück in die Welt geht? Wie kann man sie darin bestärken?

In radikalen Gruppen werden persönliche Wünsche, Ziele, Bedürfnisse sanktioniert. Ein respektvoller Kontakt auf Augenhöhe ist deswegen enorm viel wert, weil unser Gegenüber lernt – oder wieder lernt –, wie es sich anfühlt, wenn die eigene Persönlichkeit, die eigenen Bedürfnisse Platz haben dürfen. Familie und Freunde sind deswegen die wichtigste Allianz gegen Radikalisierung. Kurz gesagt: Sie bleiben, auch wenn Gehen leichter wäre.

Wenn wir einer radikalen Person eine sichere, stabile Beziehung bieten, ist das ein Ausblick in die Welt, wie sie eben auch sein kann. Es ist eine Einladung. Aber wie gesagt: Es bleibt die Entscheidung unseres Gegenübers, und wir sollten uns vorab klar machen, ob wir auch bereit wären, zu bleiben, wenn er zum Beispiel die nächsten zwei, drei oder auch 30 Jahre die jeweilige radikale Gruppe nicht verlassen will oder kann.

Welche Funktion hat die Radikalisierung?

Muss man dann also für Impfgegner:innen oder Corona-Leugner:innen Verständnis haben? Oder was, wenn jemand jetzt aktuell Putin-Propaganda verbreitet?

Die Psychologie unterscheidet zwischen “Spieleben” und “Motivebene”. Auf der Spielebene finden die radikalen Parolen statt. Die müssen und sollten wir natürlich nicht verstärken. Wichtig ist, zu schauen, wie es auf der Motivebene aussieht. Welche konkrete Funktion hat die Radikalisierung für unser Gegenüber? Inwiefern macht sie ihren Alltag besser oder leichter? Wo ist der Vorteil, und welche Alternativen könnte es geben? Das ist dann eher eine so genannte kognitive Empathie: Wir versuchen herauszufinden, warum unser Gegenüber auf eine bestimmte Art und Weise spricht und handelt. Das ist nicht das Gleiche, wie eine menschenfeindliche Ideologie zu verstehen oder gutzuheißen.

Wenn jemand im eigenen Umfeld in verschwörerische oder rassistische Erzählungen abdriftet, hat man ja manchmal den Impuls zu sagen: Da komm ich nicht mehr ran, mit dem will ich nichts zu tun haben. Wenn ich dich richtig verstehe wäre eher das Gegenteil hilfreich.

Eigentlich wollen wir ja geliebte Menschen nicht verlieren. Wenn wir also an den Punkt kommen, ernsthaft über einen Kontaktabbruch nachzudenken, haben oft schon sehr viele Grenzüberschreitungen stattgefunden. Wir sind erschöpft und frustriert und sehen kein Land mehr. Und es gibt tatsächlich auch Fälle, in denen ein Abbruch alternativlos ist.

Aber in den meisten Fällen lässt sich eine Beziehung retten und deutlich verbessern, wenn wir unsere Kommunikation bewusst auf neue Füße stellen. Das bedeutet für viele auch, zu lernen, dass sie Grenzen setzen dürfen. Oder wie sie Grenzen setzen können, und dabei trotzdem ruhig und wertschätzend bleiben.

Demo von Corona-Leuger:innen
Anhänger:innen radikaler Ideologien kann man zurückholen, sagt Expertin Dana Buchzik – mit viel Zeit und Geduld. (Foto: CC0 Public Domain / Pixabay – muenocchio)

„Hollywoodreife Ausstiege gibt es nur selten“

Das klingt sehr anstrengend, macht aber auch Hoffnung. Wann haben wir jemanden erfolgreich “zurück geholt”?

Zunächst glaube ich, dass wir von diesem Rettungsnarrativ wegkommen müssen. Unser Fokus sollte wirklich auf der Beziehung und auf der Person liegen. Wenn wir uns als Pädagogen oder Aufklärer fühlen, als Retter, dann haben wir sofort verloren. Radikale Personen sind zwar in der eigenen Gruppe oft blind für Manipulation, aber wenn ihnen Menschen außerhalb der Gruppe nicht auf Augenhöhe begegnen, spüren sie das sofort und machen dicht. Es sollte also nicht unser Ziel sein, unser Gegenüber “auf den richtigen Weg” zu missionieren.

Und ja, du hast total Recht: All das ist anstrengend. Deswegen machen sich nur die wenigsten auf diesen Weg. Deswegen wird das Thema Radikalisierung auch immer wieder so lange politisch und gesellschaftlich verdrängt, bis die Mehrheitsgesellschaft in ihrem Alltag eingeschränkt oder gestört wird. Zum Beispiel eben durch Hunderttausende Corona-Demonstranten. Radikalisierung ist ein enorm komplexer Prozess, und das Gleiche gilt auch für einen Abschied von der radikalen Ideologie. Die hollywoodreifen Ausstiege gibt es nur selten.

Auch wenn Radikalisierung keine Krankheit ist: In einer Hinsicht lässt sie sich mit Abhängigkeit vergleichen. Die Versuchung wird immer bleiben, ein Leben lang. Und so wie zum Beispiel ein Alkoholiker ein Leben lang immer wieder kämpfen muss, um nüchtern zu bleiben, so wird auch eine Person, die in einer radikalen Gruppe war, immer wieder kämpfen müssen, um nicht in die nächste Gruppe abzurutschen. Aber natürlich lohnt sich dieser Kampf und ist letztlich auch alternativlos. Für die Person und auch für die Menschen, die ihr nahe stehen.

Glaubst du, dass wir als Gesellschaft die Radikalisierung, die wir in den vergangenen zwei Jahren erlebt haben – was uns jetzt angesichts des Ukraine-Kriegs noch bevorsteht wissen wir nicht – in den Griff bekommen können, wenn wir mehr zuhören und weniger urteilen?

Mein Buch dreht sich ja vor allem um diese persönliche Ebene, weil wir alle etwas tun können und, glaube ich, auch müssen. Ich sehe aber momentan vor allem die Politik in der Verantwortung. Radikalisierung wird die Menschheit vermutlich immer begleiten, aber wir haben es in der Hand, ob sie zum Flächenbrand wird. Wir brauchen keine Politik, die allen Ernstes, wie die Ministerpräsidenten noch im Dezember, Argumentationsleitfäden als Strategie gegen Radikalisierung ausrufen.

Wir brauchen gute Forschungsarbeiten zu wirksamen De-Radikalisierungsstrategien, wir brauchen Ermittler, die genau hinschauen, wie eigentlich die Verbindungen und illegalen Geldflüsse aussehen bei radikalen Gruppen, wir brauchen fundierte Aufklärungskampagnen unter anderem an den Schulen, die zeigen, wie Radikalisierung funktioniert. Mit welchen Manipulationstechniken radikale Akteure arbeiten. Es bringt nichts, alle paar Jahre Infobroschüren zu bestimmten einzelnen Gruppierungen zu veröffentlichen. Wir müssen aufs große Ganze schauen. Sagen wir so: Dieses Engagement sehe ich nicht. Weder bei der alten noch bei der aktuellen Bundesregierung.

Buch: "Warum wir Familie und Freunde an radikale Ideologien verlieren – und wie wir sie zurückholen" von Dana Buchzik
(© Rowohlt Verlag GmbH)

Das Buch:

„Warum wir Familie und Freunde an radikale Ideologien verlieren – und wie wir sie zurückholen können“ von Dana Buchzik (2022)

Rowohlt Polaris

ISBN: 978-3-499-00746-0

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