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Mikroaggressionen: So können sie Stereotype verfestigen

mikroaggressionen
Foto: CC0 / Pixabay / PDBVerlag

Mikroaggressionen reproduzieren bestehende Ungleichheiten und gesellschaftliche Hierarchien. Hier erfährst du, was es mit dem Konzept auf sich hat und wie du als Betroffene:r oder Außenstehende:r darauf reagieren kannst.

Wenn weiße Menschen eine Schwarze Person fragen, wo sie herkommt und bemerken, sie käme sicherlich schlecht mit dem kalten Wetter zurecht. Oder wenn cis-Männer Personen, die sie als Frauen lesen, auffordern, doch mal mehr zu lächeln – dann handelt es sich zunächst um scheinbar unauffällige alltägliche Kommentare. Doch all diesen Kommentaren liegt eine latente Aggressivität zugrunde, denn sie reproduzieren bestehende gesellschaftliche Machtstrukturen.

Im ersten Fall wird etwa einer Schwarzen Person ihre Zugehörigkeit aufgrund ihres Aussehens abgesprochen. Im zweiten Fall wird einer Person eine bestimmte Handlung aufgezwungen, die sie aufgrund ihrer zugeschriebenen Geschlechtsidentität ausführen soll.

Derartige Kommentare werden auch als Mikroaggressionen beschrieben. Anders als ihr Name vermuten lässt, sind sie jedoch alles andere als klein und unbedeutend. In ihrer Menge können sie für Betroffene reale psychische und physische Konsequenzen haben und dazu beitragen, dass soziale Ungleichheiten bestehen bleiben.

Was sind Mikroaggressionen?

Der Begriff der Mikroaggressionen wurde erstmals vom Psychiater Chester M. Pierce in den 1970er-Jahren geprägt. Er beschrieb damit Äußerungen und Handlungen von weißen Menschen, die die Würde Schwarzer Menschen verletzten. Heute wird der Begriff auch im geschlechtsspezifischem Kontext genutzt.

Rassistische Mikroaggressionen beschreibt Amma Yeboah, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, etwa als „subtile, unauffällige, verdeckte und latent aggressive Ausdrucksformen von Rassismus, die bewusst oder meistens auch unbewusst auftreten.“

Prof. Derald Wing Sue, der an der Columbia University zu Mikroaggressionen forscht, unterscheidet drei verschiedene Kategorien:

  • „Micro Assaults“ sind offensichtliche Übergriffe und explizitere Angriffe. Darunter zählt etwa offenes diskriminierendes Verhalten gegenüber marginalisierten Gruppen oder explizite Beleidigungen (wie zum Beispiel das N-Wort).
  • „Micro Insults“ sind verstecktere Beleidigungen oder klar erkennbare Unhöflichkeiten. Darunter zählt etwa die Frage „Wo kommst du eigentlich her?“
  • „Micro Invalidation“ kann als Ungültigkeitserklärung übersetzt werden. Hier wird marginalisierten Gruppen ihre Lebensrealität abgesprochen. Das ist etwa der Fall, wenn weiße Menschen sagen, sie würden gar keine „Farben sehen“ oder wenn cis-Männer erklären, es gäbe keinen Sexismus mehr.

Mikroaggressionen und ihre Folgen

Mikroaggressionen verstärken soziale Ungleichheiten und haben für Betroffene teilweise unmittelbare körperliche und psychische Folgen.
Mikroaggressionen verstärken soziale Ungleichheiten und haben für Betroffene teilweise unmittelbare körperliche und psychische Folgen.
(Foto: CC0 / Pixabay / PDBVerlag)

Mikroaggressionen mögen im Einzelfall unauffällig wirken. Bedrohlich sind sie vor allem, da sie sich in der Realität in der Regel summieren. Auf diese Weise führen sie marginalisierten Gruppen immer wieder vor Augen, dass sie nicht Teil der sogenannten Mehrheitsgesellschaft sind. Aussagen wie „Du kannst aber gut Deutsch“ gegenüber einer deutschen Schwarzen Person sorgen etwa dafür, dass Betroffene sich immer wieder für ihre Identität rechtfertigen müssen und eventuell selbst anfangen, diese in Frage zu stellen.

Ash, eine von Mikroaggressionen betroffene Person, erklärt gegenüber Deutschlandfunk Kultur, dass sich die permanenten Angriffe im Alltag bei ihr oft in körperlichen Erschöpfungszuständen zeigen. Zudem vermitteln sie ihr ständig das Gefühl, ausgeschlossen zu werden und nicht Teil eines gemeinsamen „Wirs“ zu sein.

Das Magazin Spektrum vergleicht Mikroaggressionen deshalb mit Mückenstichen: Wird eine Person immer wieder an derselben Stelle gestochen, so kann der Stich nie richtig verheilen und fängt immer wieder an zu jucken. Dieses „Jucken“ entspricht in der Realität jedoch oft deutlich fataleren Folgen.

So kommt eine Studie aus dem Jahr 2021 zu dem Schluss, dass Mikroaggressionen für Betroffene negative seelische und körperliche Auswirkungen haben können. Laut einer Metaanalyse von 2019 können sie etwa erhöhten Stress, Angststörungen und Depressionen fördern. Zudem sind Betroffene von rassistischen und geschlechtsspezifischen Mikroaggressionen laut den Untersuchungen anfälliger für Suchterkrankungen, trinken mehr Alkohol und neigen eher zum Rauchen.

Kritik an Begriff und Konzept

In der Wissenschaft ruft das Konzept der Mikroaggressionen kontroverse Meinungen hervor. So steht laut Spektrum besonders in der Kritik, dass eine Aussage nur dann als Mikroaggression gilt, wenn die betroffene Person sich davon angegriffen fühlt. Ob etwa als Mikroaggression gewertet wird, hängt also völlig vom subjektiven Empfinden einer Person ab.

Der Soziologe Il-Tschung Lim erläutert gegenüber Spektrum, dass es laut dieser Definition also gar keine Rolle spielt, mit welcher Intention der:die Absender:in eine Aussage getätigt hat. Doch spiele auch der Kontext einer Aussage oder Handlung dabei eine Rolle. So sei die Frage nach der Herkunft teilweise völlig unangebracht und auf rassistische Narrative zurückzuführen. Dies sei jedoch nicht immer der Fall. Dass Mikroaggressionen dabei so kontextgebunden sind, macht sie im wissenschaftlichen Diskurs besonders angreifbar.

Mikroaggressionen begegnen: Hilfe für Betroffene

Regelmäßig Mikroaggressionen ausgesetzt zu sein, bedeutet für Betroffene im Alltag eine immense Belastung. Um damit besser umgehen zu können, können je nach Situation entsprechende Methoden und Werkzeuge hilfreich sein:

  • Schutzräume aufsuchen: Laut Amma Yeboah ist die Community-Arbeit für Betroffene die erste Stufe des Empowerment. So kann es dir helfen, dich mit anderen Menschen zu treffen und zu vernetzen, die ähnliche Diskriminierungserfahrungen machen wie du. Gemeinsam könnt ihr sichere Räume zum Austauschen schaffen und dabei auch hilfreiche Strategien besprechen.
  • Mikroaggressionen benennen: Auch wenn es nicht deine Aufgabe sein sollte, kann es auch für dich als betroffene Person wichtig sein, dich mit dem Thema eingehend zu beschäftigen. So ist es zunächst hilfreich, wenn du Mikroaggressionen im Alltag für dich als solche benennen kannst und weißt, auf welchen Narrativen sie aufbauen.
  • Sicherheit garantieren: Eine Person hat dich gerade mit einer Aussage angegriffen oder verletzt und du willst die Person damit konfrontieren? Vorher solltest du immer an deine eigene Sicherheit denken. Stelle sicher, dass sich Verbündete in der Nähe befinden oder du der Situation leicht entfliehen könntest. Um deine mentale Gesundheit zu schützen, sollte es zudem einen sicheren Raum für eine Nachbesprechung geben. So ist es für Betroffene oft kräftezehrend und verletzend, Mikroaggressionen offen zu thematisieren. Stelle deshalb sicher, dass du danach mit Freund:innen, Familienmitgliedern oder anderen Verbündeten über den Vorfall sprechen kannst.
  • Mikroaggressionen thematisieren: Entschließt du dich dazu eine Person auf ihre geäußerten Mikroaggressionen anzusprechen, so empfiehlt es sich zunächst zu beschreiben und zu wiederholen, was die Person gerade gesagt oder getan hat. Anschließend kannst du entweder nachfragen, wie die Person zu einer bestimmten Aussage kommt oder was sie genau damit meint. Oder du erläuterst direkt, dass dieses Verhalten für dich verletzend und diskriminierend war.

Je nachdem, wie Mikroaggressor:innen auf das Gespräch reagiert haben, kannst du entweder Vorgesetzte darüber in Kenntnis setzen, dich dazu entscheiden, das Thema zunächst zu beenden und an anderer Stelle noch einmal aufzugreifen oder das Ergebnis zu akzeptieren.

Zudem ist es immer legitim selbst zu entscheiden, ob man sich einem Kampf gerade aussetzen möchte oder nicht. Fühlst du dich in einem Moment nicht sicher oder stark genug, um die Mikroaggression direkt anzusprechen, kannst du dir auch Notizen machen und die Person später darauf ansprechen. Auch liegt es nicht in deiner Verantwortung, eine Person über Rassismus, Sexismus und andere Diskriminierungsformen aufklären zu müssen. Versteht eine Person nicht, warum sie dich gerade verletzt hat, kannst du das Gespräch auch beenden oder deinem Gegenüber Bücher oder Artikel zum jeweiligen Thema empfehlen.

Diskriminierung begegnen: Als nicht-betroffene Person

Um als Verbündete:r auftreten zu können, musst du dich zunächst mit den diskriminiernden Strukturen unserer Gesellschaft eingehend auseinandersetzen.
Um als Verbündete:r auftreten zu können, musst du dich zunächst mit den diskriminiernden Strukturen unserer Gesellschaft eingehend auseinandersetzen.
(Foto: CC0 / Pixabay / Tumisu)

Wünschenswert wäre es, dass wir in einer Welt leben würden, in der sich keine Person darum Gedanken machen muss, wie sie mit alltäglichen Angriffen gegen die eigene Identität umgehen kann. Als Gesellschaft sollte es deshalb unser Ziel sein, Mikroaggressionen generell zu unterbinden. Laut Amma Yeboah müssen wir diskriminierende Strukturen deshalb offen als solche benennen und thematisieren. Denn oft reproduzieren Personen negative Vorurteile und rassistische und sexistische Narrative, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Mikroaggressionen und die zugrundeliegenden Strukturen ins Bewusstsein zu rücken und darüber aufzuklären, ist deshalb ein notwendiger Schritt hin zu einer gerechteren Gesellschaft. Yeboah zufolge kann diese Aufklärung nur über die entsprechende Bildung stattfinden.

Wenn du also als nicht-betroffene Person gegenüber marginalisierten Gruppen als Verbündete:r auftreten wollen, ist es zunächst einmal notwendig, dass du dich mit ihren Diskriminierungserfahrungen und Lebensrealitäten intensiv beschäftigst. Nur so kannst du deine eigenen Privilegien reflektieren und auch internalisierte Narrative aufbrechen und hinterfragen.

Erlebst du im Alltag, wie eine Person mit Mikroaggressionen konfrontiert wird, kannst du der betroffenen Person zunächst einmal deine Unterstützung anbieten und dich gegenüber dem oder der Mikroaggressor:in klar positionieren.

Achte jedoch darauf, die betroffene Person zunächst für sich selbst sprechen zu lassen und nicht für die Person sprechen zu wollen. Auch dies kann bestehende Machtstrukturen verfestigen. Falls möglich, ist es immer ratsam zuerst zu fragen, was sich Betroffene von dir wünschen würden und wie du in einer Situation als Verbündete:r auftreten kannst.

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