Soziale Kipppunkte spielen in der Bewältigung der Klimakrise eine entscheidende Rolle. Warum sie so wichtig sind und wie sie gezielt gefördert werden können, erfährst du hier.
Greta Thunberg war einmal eine völlig unbekannte Person, die sich dazu entschloss, alleine einen Schulstreik zu beginnen. Was sie nicht ahnen konnte war, dass sie damit eine weltweite Protestbewegung lostrat, die dem Thema Klimaschutz in der Politik zu deutlich mehr Sichtbarkeit verhalf. Thunberg stieß also einen sogenannten sozialen Kipppunkt an.
Von soziale Kipppunkten spricht man laut dem Zukunftsinstitut, wenn „innerhalb einer sehr kurzen Zeitspanne und ohne einen gravierenden oder vorhersehbaren Auslöser tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen stattfinden.“ Sie können im Umgang mit der Klimakrise eine wichtige Rolle spielen, denn sie belegen, dass nicht die gesamte Gesellschaft von Anfang an von einer Idee überzeugt sein muss, damit sich diese durchsetzt. So lassen sich klimafreundliche soziale Kipppunkte gezielt anstoßen und fördern und können dann dazu führen, dass sich bestimmte Technologien oder klimafreundliche Verhaltensweisen und Normen schnell verbreiten.
Was sind soziale Kipppunkte?
Eine Studie von Forschenden um die Sozialwissenschaftlerin Ilona Otto aus dem Jahr 2019 belegt, dass sozialer Wandel nicht linear, sondern mithilfe von Kippelementen verläuft. Das heißt zum Beispiel, dass sich im Verlauf der Zeit nicht graduell nach und nach immer mehr Menschen für Klimaschutz engagieren oder sich klimafreundlicher verhalten. Stattdessen gibt es zunächst eine kleine engagierte Gruppe, die auf die Klimakrise aufmerksam macht.
Um weitreichende Bewegungen anzustoßen, muss diese Gruppe nicht unbedingt alle anderen sofort von ihren Forderungen überzeugen. Laut einer Studie aus dem Jahr 2018 genügt es, wenn etwa 25 Prozent der Bevölkerung die Forderungen und Ideale der Bewegung teilen. Dann hat sich eine ausreichend große „kritische Masse“ etabliert, die dafür sorgt, dass das System in Richtung dieser Ideale „kippt“. Es genügt dann ein kleiner unscheinbarer Auslöser, um weitreichenden sozialen Wandel herbeizuführen.
Soziale Kipppunkte funktionieren dabei auf Basis der „sozialen Ansteckung“, so Deutschlandfunk. Schließlich sind Menschen „Herdentiere“, also soziale Wesen, die zu einer Gemeinschaft dazu gehören möchten. Dementsprechend lassen sie sich von einer ausreichend großen kritischen Masse leichter von bestimmten Ideen überzeugen.
Ein zentraler Ansatzpunkt für soziale Kipppunkte sind soziale Normen. Sozialen Normen folgen wir in der Regel, ohne uns dessen bewusst zu sein. Es handelt sich also um ungeschriebene Regeln, die unser Verhalten koordinieren. Noch wirkungsvoller werden diese Normen jedoch, wenn sie nicht mehr nur „unsichtbar“ existieren, sondern wenn sie besprochen und damit ins Bewusstsein der Menschen gerückt werden. Folgen Menschen zum Beispiel der Norm, lieber die Bahn und nicht das Flugzeug zu nehmen, und sprechen über ihre Beweggründe mit anderen, können sie weitere Menschen von klimafreundlichem Reisen überzeugen. So könnte sich diese Norm verbreiten, bis Menschen ihr schließlich ganz unbewusst folgen.
Soziale Kipppunkte: Sechs wichtige Bereiche
Die Theorie der sozialen Kipppunkte kann auch erklären, warum frühere, teilweise größere Umweltbewegungen noch nicht so erfolgreich waren wie beispielsweise „Fridays for Future“. So profitierte die junge Klimabewegung gewissermaßen von der Vorarbeit, die vorherige Generationen bereits geleistet hatten, so das Zukunftsinstitut. Gerade die Generation Z könne deshalb auf dieser Basis weitreichende Änderungen in Wirtschaft und Politik herbeiführen.
In ihrer Studie erläutert die Wissenschaftlerin Otto in welchen sechs Bereichen soziale Kipppunkte einen klimafreundlichen Wandel bewirken könnten. Dazu gehören:
- Energieerzeugung und -speicherung
- Siedlungsgebiete
- Finanzmarkt
- Normen und Wertesysteme
- Bildungssystem
- Informationsfeedback über Emissionen
All diese sechs Bereiche haben den Forschenden zufolge unterschiedlich lange Kippzeiten. Der Finanzmarkt könne beispielsweise innerhalb weniger Stunden kippen. Der Kipppunkt wäre dann erreicht, wenn sich Investitionen in Projekte mit fossilen Brennstoffen ökonomisch nicht länger lohnen würden. Bis Normen und Wertesystem kippen, braucht es hingegen einen langen Zeitraum von mindestens 30 Jahren. Der Auslöser für tiefgreifenden sozialen Wandel wäre dabei, dass sich mindestens 25 Prozent der Bevölkerung für Klimaschutz engagieren. Da alle sechs Bereiche zudem untereinander gesellschaftlich vernetzt sind, könnten sie sich auch untereinander beeinflussen und verstärken.
Die Macht des Einzelnen
Damit bestimmte soziale Bereiche „kippen“, muss das vorhandene System jedoch auch einen gewissen Grad an Instabilität aufweisen. Laut dem Zukunftsinstitut leben wir jedoch bereits jetzt in einem „hochgradig instabilen System“, das somit ideale Rahmenbedingungen für den nächsten sozialen Kipppunkt bietet. Diese Instabilität basiert vor allem auf dem Wissen über die Konsequenzen der Klimakrise oder des Artensterbens und etwa wissenschaftlichen Prognosen über das Fortbestehen der Menschheit.
Diese düsteren Prognosen allein reichen jedoch nicht aus, sondern führen bei manchen Menschen im Gegenteil eher zu einer Art Ohnmacht, die uns handlungsunfähig macht. Die Theorie der sozialen Kipppunkte kann diese Ohnmacht wieder in Handlungsfähigkeit umwandeln, so die Tagesschau. So gibt sie einzelnen Menschen die Zuversicht, dass schon kleine Änderungen relevante klimafreundliche Prozesse anstoßen können. Wichtig ist dabei jedoch, klimafreundliche Verhaltensweise nicht nur selbst umzusetzen, sondern auch darüber zu sprechen.
Soziale Kipppunkte: Kritik am Konzept
Kritisch wird das Konzept der sozialen Kipppunkte dann, wenn es sich zu stark auf die Verantwortung von Individuen stützt. Schließlich sind individuelle CO2-Fußabdrücke bei Weitem nicht die Hauptursache der Klimakrise. Viel schwerer wiegen etwa die umweltzerstörerischen Praktiken von großen Unternehmen. Diese sind laut dem Deutschlandfunk für etwa 70 Prozent der Umweltverschmutzung verantwortlich.
Gleichzeitig zeigt das Konzept jedoch auf, dass es nicht immer nur darum geht, in jedem Aspekt des Alltags zu 100 Prozent klimafreundlich und emissionsarm zu leben. Menschen können also durchaus ab und zu Fleisch essen oder Auto fahren und sich gleichzeitig klimapolitisch engagieren, klimaschädliche Verhaltensweise reflektieren und mit anderen über mögliche Lösungen sprechen und so dazu beitragen, dass sich Normen nach und nach verändern.
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