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Raúl Krauthausen über die Klimakrise: „Behinderte Menschen sind die ersten Opfer“

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Foto: Anna Spindelndreier, CC0 Public Domain - Pixabay/ Hermann

Die Klimakrise gefährdet uns alle. Doch Menschen mit Behinderung sind besonders gefährdet, warnt Inklusionsaktivist Raúl Aguayo-Krauthausen. Im Utopia-Interview erklärt er, wieso und wie bestimmte klimapolitische Entscheidungen behinderte Menschen „doppelt stigmatisieren“.

Die Klimakrise wirkt sich auf unser aller Leben aus. Doch Menschen mit Behinderung sind stärker von den negativen Auswirkungen betroffen – davor warnte ein Bericht des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen bereits 2020. Der Klimawandel könne unter anderem bestehende Ungleichheiten im Bereich der Gesundheit und der Gesundheitsversorgung von Menschen mit Behinderungen verschärfen. Außerdem seien Menschen mit Behinderung in Notfällen einem erhöhten Risiko ausgesetzt.

Wie real diese Gefahr auch in Deutschland ist, zeigte die Flutkatastrophe im Ahrtal im Juli 2021. Damals ertranken zwölf Menschen mit Behinderungen während des Hochwassers in einem Wohnheim, weil sie nicht rechtzeitig evakuiert wurden. Ähnliches ereignete sich bereits 2020 im japanischen Kuma: Während einer Überschwemmung wurden 65 Menschen in einem Pflegeheim nicht evakuiert, 14 starben.

Wie kann es zu solchen Tragödien kommen? Klammert der Katastophenschutz Menschen mit Behinderung aus? Was muss sich ändern – auch hier in Deutschland? Utopia hat bei Inklusionsaktivist Raúl Aguayo-Krauthausen nachgefragt. Krauthausen setzt sich seit Jahrzehnten für Menschenrechte und Gleichberechtigung ein. Er befürchtet, dass Menschen mit Behinderung zu den ersten Opfern der Klimakrise zählen werden – in der Ahrtal-Tragödie sieht er ein strukturelles Problem.

Raúl Krauthausen über Klimatote mit Behinderung: „Das werden wir hier auch erleben“

Utopia: Sind Menschen mit Behinderung durch die Klimakrise besonders stark gefährdet?

Raúl Aguayo-Krauthausen: Ja. Die Gefahr, dass sie bei Katastrophen nicht rechtzeitig evakuiert werden, ist groß, die Gefahr, dass sie unter den Folgen leiden, ebenso. Auf jeden Fall sind behinderte Menschen und alte Menschen die ersten Opfer.

Utopia: Wie bedroht die Klimakrise Menschen mit Behinderung konkret?

Krauthausen: Behinderte Menschen können bei Katastrophen nicht leicht flüchten. Sie sind oft schwerer mobilisierbar und schwerer evakuierbar. Deshalb braucht es Pläne, wie sie im Notfall in Sicherheit gebracht werden können.

In den USA gibt es zahlreiche Naturkatastrophen, die auch mit der Klimakrise zusammenhängen, und diese lösen oft Stromausfälle aus. Auch daran sterben Menschen mit Behinderung, die aber nicht als Klimatote gelesen werden. Sie sterben daran, dass das Atemgerät nach vier Tagen nicht mehr funktioniert. Oder sie waren vielleicht nicht verletzt, aber ihr Rollstuhl konnte nicht mehr geladen werden. Sie konnten nicht telefonieren, keine Hilfe holen. Das werden wir hier auch erleben, wenn wir das nicht inklusiv mitdenken.

Flutkatastrophe im Ahrtal kostete 12 Menschen mit Behinderung das Leben

Utopia: Bei der Flutkatastrophe im Ahrtal kamen zwölf Menschen mit Behinderung ums Leben. Sie wurden nicht rechtzeitig aus ihrem Wohnheim evakuiert. Und solche extremen Wetterereignisse werden durch die Klimakrise immer häufiger vorkommen. Was muss sich Ihrer Meinung nach ändern, um solche Katastrophen zu verhindern?

Krauthausen: Ich bin nicht sicher, ob wir sie noch verhindern können. Aber wir müssen dafür sorgen, dass wir für Katastrophen gewappnet sind. Und das bedeutet, dass Katastrophenschutz auch inklusiv gedacht werden muss. Es darf nicht mehr so laufen wie im Ahrtal.

Utopia: Was lief damals schief?

Krauthausen: Die Verquickung ungünstiger Umstände führte dazu, dass niemand evakuiert wurde, dass es noch nicht einmal versucht wurde. Unter anderem gab es wohl nur eine Nachtwache, die für mehr als 30 Bewohner des Wohnheims zuständig war, welche auch noch in getrennten Häusern wohnten. Bis heute wurde niemand verantwortlich gemacht. Das ist ein strukturelles Problem.

Utopia: Hat die Gesellschaft aus der Katastrophe gelernt?

Krauthausen: Es redet niemand mehr von den zwölf Behinderten, die ertrunken sind. In der Berichterstattung über die Todesopfer wird nicht erwähnt, dass 12 von ihnen eine Behinderung hatten. Das ist aber wahrscheinlich die größte Minderheit gewesen. Es sind wahrscheinlich mehr Behinderte gestorben als Schwarze oder Queere. Diese Minderheit wird gerne weggedacht oder wegignoriert.

„Barrierefreiheit hat nicht immer etwas mit Behinderung zu tun“

Utopia: Wie kann die Politik vermehrt Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung beim Katastrophenschutz berücksichtigen?

Krauthausen: Sie darf sie nicht berücksichtigen als Token, also symbolisch mal eine Person mit Behinderung nach ihrer Meinung fragen. Stattdessen muss sie sich gemeinsam mit Vertretern für behinderte Menschen Konzepte überlegen.

Utopia: Wie kann das konkret aussehen?

Krauthausen: Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe könnte zum Beispiel das Technische Hilfswerk ausbilden und mit barrierefreien Transportern ausstatten, die auch Rollstuhlfahrer transportieren können. Und zwar nicht nur mit einem, sondern mit mehreren. Dafür müssen sie allerdings erst mal wissen, dass es diesen Bedarf gibt.

Auch ein Problem: barrierefreie Kommunikation. Die hat im Ahrtal gefehlt. Wie sollen Gehörlose mitbekommen, was passiert? Wie sollen Blinde den Evakuierungsweg finden? Es geht nicht nur um die Person im Rollstuhl. Natürlich läuft in einer Katastrophensituation nicht alles perfekt, aber es geht definitiv besser.

Utopia: Seit einigen Jahren gibt es bundesweite Warntage, an denen Warnsysteme für den Katastrophenfall überprüft werden. Dabei werden Warnungen auch direkt ans Handy geschickt.

Krauthausen: Ja, der Gehörlosenverband hat an einem dieser Tage getwittert: „Also, wir haben nichts gehört“. Eine Warnung, die nur auf Akustik basiert, ist keine Warnung, wenn du gehörlos bist. Deshalb müssen Warnungen das Zwei-Sinne-Prinzip berücksichtigen. Jede Warnung muss sowohl akustisch als auch visuell funktionieren.

Das ist nicht nur bei Warnungen wichtig. Auch in der U-Bahn wird die nächste Station sowohl angesagt als auch angezeigt. Davon profitieren nicht nur blinde und gehörlose Menschen, sondern auch Leute, die zum Beispiel auf ihr Handy schauen. Barrierefreiheit hat nicht immer etwas mit Behinderung zu tun. Davon profitieren wir alle.

Strohhalm-Verbot hat behinderte Menschen „doppelt stigmatisiert“

Utopia: Manchmal scheint es, als ließen sich Klimaschutz und Inklusion nur schwer miteinander vereinbaren. Ein Beispiel: Strohhalme aus Plastik wurden in Europa verboten. Viele Menschen mit Behinderung waren dagegen.

Krauthausen: Das Verbot hat behinderte Menschen doppelt stigmatisiert. Viele behinderte Menschen brauchen einen Strohhalm. Wenn sie sich aber kritisch zu dem Verbot äußern, werden sie automatisch als Klimaschutzgegner oder Klimawandelleugner dargestellt. Dabei haben sie nur um ihr Recht gekämpft, selbstbestimmt allein trinken zu können.

Dann musst du den nicht-behinderten Menschen in deinem Umfeld erklären, dass ein Metall- oder Glasstrohhalm keine Lösung für Menschen mit einer Spastik ist. Weil du dich damit verletzen kannst. Der Plastikstrohhalm mit Knick war und ist für viele behinderte Menschen die beste Option. Er ist flexibel und hygienisch und birgt keine Verletzungsgefahr.

Utopia: Trotzdem zahlt das Plastikstrohhalmverbot auch auf den Klimaschutz ein.

Krauthausen: Der Plastikstrohhalm wurde verboten, weil politisch darin eine Art „Quick-Win“ gesehen wurde. Aber wenn wir ehrlich sind, war der Plastikstrohhalm nie das Problem. Ihn abzuschaffen, war ein Alibi-Projekt. Wir müssten Kreuzfahrten verbieten, oder Billigflüge oder Amazon untersagen, zurückgeschickte Ware wegzuschmeißen – das ist einfach der größere Hebel. 

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