Die Studio-Ausstattung ist eher spärlich, die Aufnahme in schwarz-weiß: Ein eineinhalbstündiges Interview aus dem Jahr 1964 wurde auf YouTube bis heute mehr als eine Million Mal angesehen. Warum? Weil seine Botschaft heute wichtiger ist denn je.
Es handelt sich dabei um ein Interview, das der Journalist Günter Gaus mit der berühmten Politikwissenschaftlerin Hannah Arendt geführt hat. Das Video zeigt, wie sich die beiden Gesprächspartner*innen in einem spärlich eingerichteten Studio gegenüber sitzen. Arendt im Fokus der Kamera, die Beine überschlagen, mit den Händen bedacht gestikulierend und eine Zigarette nach der anderen rauchend. Gaus hingegen ist selten zu sehen. Er sitzt mit dem Rücken zum Zuschauer. Der Hintergrund ist dunkel, die Aufnahme in schwarz-weiß.
Das Interview entstand innerhalb des Formats Zur Person, einer Interviewreihe, bei der der Fokus auf dem Dialog mit dem jeweiligen Gast lag. Gaus stellte Fragen mit Inhalt und Substanz statt zu plaudern oder seine eigene Meinung kundzutun. Die Sendung wurde damals im ZDF-Abendprogramm ausgestrahlt. Auf Youtube ist das Video in zwei Versionen verfügbar. Rechnet man die Aufrufe beider zusammen, wurde das Interview bis heute mehr als eine Million Mal angesehen.
Was an diesem Video so fasziniert
Hannah Arendt, eine der wichtigsten Stimmen des 20. Jahrhunderts, beantwortet Gaus‘ Fragen durchdacht, verständlich und anschaulich, mit Beispielen aus ihrem eigenen Leben.
Dabei tätigt sie Aussagen, die auch heute noch gültig sind: Arendt kritisiert das „nur noch Arbeiten und Konsumieren“ der modernen Gesellschaft (und das schon im Jahr 1964), weil sich der Mensch dabei von der Welt entfremde. „Es liegt einem nichts mehr daran, wie die Welt aussieht,“ beschreibt sie das Problem. Und weil unsere Verbindung zur Welt gekappt ist, konsumieren wir, statt uns relevanten Tätigkeiten zu widmen.
In Arendts Worten: „Im Arbeitsprozess entsteht eine eigentümliche Verlassenheit. […] Und diese Verlassenheit ist dieses auf sich selbst Zurückgeworfenwerden, in dem dann gewissermaßen das Konsumieren an die Stelle aller eigentlich relevanten Tätigkeiten tritt.“
Menschlichkeit kann Arendt zufolge nie aus der Verlassenheit und der Einsamkeit heraus entstehen. Sondern nur im Handeln und Agieren mit anderen Personen. Also in der Gemeinschaft. Und das setze ein „Vertrauen auf das Menschliche aller Menschen“ voraus, erklärt Arendt. „Anders könnte man es nicht.“
Welche wichtige Botschaft dieses Video für uns hat
Hannah Arendt schafft in diesem Interview, was man von Geisteswissenschaftlern normalerweise nicht gewohnt ist – sie drückt sich auch für Laien verständlich aus. Ihre Botschaft ist dabei zeitlos: Sie kritisiert zwar, dass der Mensch mit seinem Konsum sein öffentliches Handeln ersetze und sich dadurch von der Welt entfremde. Sieht hier aber auch eine Chance: Statt sich in private Hobbys, Arbeit und Konsum zu flüchten fordert sie, dass wir politisch aktiv werden, gemeinsam Handeln und in die Menschlichkeit aller Vertrauen. Offenbar sind viele Menschen dieser Meinung – sonst wäre das Video sicher nicht so häufig angesehen worden.
Zur Person: Hannah Arendt ist im dritten Reich vor den Nazis geflohen, schrieb mit 22 Jahren bereits ihre Dissertation und wurde 1951 berühmt mit ihrem politischen Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, das zum Klassiker der politischen Theorie wurde.
Zuerst aufgefallen ist der Youtube-Hit übrigens Sebastian Dalkowski von RP-Online, der einen sehr lesenswerten Text über das Interview verfasst hat.
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