Mit Geo-Arbitrage nutzen digitale Nomad:innen weltweit unterschiedliche Lohnniveaus und Lebenshaltungskosten aus, um mehr Lebensqualität zu gewinnen, ohne dafür mehr Geld verdienen zu müssen. Was daran problematisch ist, erfährst du hier.
Hast du schon einmal in einer Stadt gearbeitet und in einer anderen gewohnt? Viele Menschen pendeln, weil zum Beispiel die Miete an ihrem Arbeitsort zu hoch ist. Sie nehmen einen längeren Arbeitsweg in Kauf, um dort zu leben, wo es günstiger ist. Digitale Nomad:innen wenden eine ähnliche Strategie auf globaler Ebene an: Sie geben einen festen Wohn- und Arbeitsplatz zugunsten des Reisens und Arbeitens rund um die Welt auf. Die Wahl ihres Standorts verläuft dabei ganz gezielt: Wer ortsunabhängig arbeiten kann, sucht sich natürlich einen Wohnort aus, der gewisse Vorteile bietet – insbesondere finanzielle. Viele digitale Nomad:innen zieht es also in Länder, in denen sie von ihrem Gehalt besser leben können. Von dort aus können sie dann auch arbeiten.
Diese Praxis nennt sich Geo-Arbitrage. Ortsunabhängig Arbeitende nutzen dabei die weltweit unterschiedlichen Lohnniveaus und Lebenshaltungskosten aus: Sie verdienen mit ihrer digitalen Arbeit zum Beispiel in Euro oder Dollar, arbeiten und leben aber in vergleichsmäßig kostengünstigen Ländern, wo sie nur Pesos oder Rupien ausgeben. So können sie sich mehr leisten. Was zunächst nach der idealen Möglichkeit klingt – bei gleichem Einkommen weniger Ausgaben zu haben – birgt aber auch einige Schattenseiten.
Geo-Arbitrage im Detail
Der Begriff „Arbitrage“ stammt eigentlich aus dem Finanzwesen und bezeichnet dort den Prozess des Kaufs und Verkaufs eines Vermögenswerts oder einer Währung an verschiedenen Orten oder Märkten, um von Preisunterschieden zu profitieren und dadurch risikolose Gewinne zu erzielen. Du könntest beispielsweise eine Aktie an einer Börse kaufen, an der sie zu einem niedrigeren Preis gehandelt wird, und du verkaufst dieselbe Aktie gleichzeitig an einer anderen Börse, an der sie zu einem höheren Preis gehandelt wird. Der Unterschied zwischen Kauf- und Verkaufspreis ermöglicht es, einen Gewinn zu erzielen, ohne dabei ein Risiko einzugehen. Geo-Arbitrage bezieht sich laut der taz dagegen auf die Ausnutzung von weltweit unterschiedlichen Lohnniveaus und Lebenshaltungskosten.
Das kann auf zwei Weisen erfolgen:
- Umzug: Du selbst ziehst in ein kostengünstigeres Land um, um von dort aus weiter zu arbeiten.
- Outsourcing: Du bleibst an deinem Wohnort und arbeitest dort weiter, lagerst aber einige Tätigkeiten in ein anderes Land aus. Du heuerst dann eine:n Mitarbeiter:in an einem Ort mit geringeren Lohnkosten an, die:der zum Beispiel Assistenztätigkeiten für dich übernimmt.
Das geht mit einigen Vorteilen einher:
- Was in einem Land des Globalen Nordens ein geringes Einkommen wäre, ermöglicht dir in einem Land mit niedrigen Lebenshaltungskosten und Steuern trotzdem ein gutes Leben.
- Da nach den Ausgaben mehr Geld übrigbleibt, fällt das Sparen außerdem leichter.
- Du kannst mehr Geld zur Seite legen und dir einen vielleicht lang gehegten Wunsch schneller erfüllen.
- Durch das Outsourcing sparst du Zeit, denn während ein:e Mitarbeiter:in administrative Dinge erledigt, kannst du dich voll und ganz auf deine Hauptaufgabe konzentrieren und diese schneller erledigen.
Das Prinzip des Geo-Arbitraging hat Timothy Ferriss 2007 in seinem internationalen Bestseller „Die 4-Stunden-Woche: Mehr Zeit, mehr Geld, mehr Leben“ popularisiert. Seitdem inspiriert es digitale Nomad:innen, in Länder des Globalen Südens zu ziehen, wo sie den großen Wohlstand in greifbarer Nähe glauben.
Prekäres Digitalnomad:innentum
Doch für viele geht die Gleichung nicht auf. Das konnte die von der taz zitierte Untersuchung „Der mobile Alltag Digitaler Nomaden zwischen Hype und Selbstverwirklichung“ von der New-Work-Forscherin Christine Thiel durch Interviews mit digitalen Nomad:innen feststellen. Digitalnomad:innen würden demnach ihren Lebensstil online als Selbstverwirklichung und Freiheit inszenieren, doch tatsächlich in prekären Verhältnissen leben und arbeiten – trotz Geo-Arbitraging:
- Viele müssten als Freelancer:innen häufig die Tätigkeiten wechseln, um mit den Trends auf dem digitalen Arbeitsmarkt Schritt halten zu können.
- Gleichzeitig sind sie auch zu ständigen Ortswechseln gezwungen, denn Tourist:innen-Visa laufen in vielen Ländern nach drei Monaten ab.
- Die Einreise ohne Arbeitserlaubnis fällt dabei häufig in eine rechtliche Grauzone.
Die Befreiungsideologie digitaler Nomad:innen
Besonders kritisch sieht Thiel auch, dass der Hype um digitales Nomad:innentum oft mit einer ablehnenden Haltung gegenüber staatlicher Regulierung und Absicherung einhergeht. Unter Digitalnomad:innen seien laut der taz „Befreiungsideologien“ verbreitet. Sie würden unter anderem die deutsche Schul- und Steuerpflicht kritisieren und gleichzeitig die Unsicherheiten und Zwänge des globalisierten Kapitalismus glorifizieren.
Wer als digitale:r Nomad:in mal hier, mal dort lebt und arbeitet, kann sich nicht mehr auf soziale und arbeitnehmerische Sicherheitsnetze verlassen – was in den Kreisen der Digitalnomad:innen aber als Beginn der eigenen Mündigkeit gefeiert würde.
Weitere Probleme von Geo-Arbitrage
Geo-Arbitrage bringt auch abseits teils fragwürdiger Ideologien innerhalb des Digitalnomad:innentums einige Nachteile mit sich:
- Persönliche Voraussetzungen: Es ist ein großer Schritt, aus dem 9-to-5-Job auszusteigen und an einen anderen Wohnort im Ausland umzuziehen. Hier ist eine ehrliche Einschätzung deiner persönlichen Voraussetzungen gefragt: Verfügst du über die für ein solches Unterfangen benötigte Selbstdisziplin, Organisationsfähigkeit und Durchhaltevermögen? Kannst du von deiner Heimat, Freunden und Familie für einen längeren Zeitraum getrennt leben?
- Kosten: Ortsunabhängiges Arbeiten erfordert zunächst einige Investitionen. So musst du Geld für Visa, Tickets für Flüge, Bus und Bahn und Auslandskrankenversicherungen aufbringen. Dein zurückgelassenes Hab und Gut musst du unter Umständen kostenpflichtig einlagern. Diese Ausgaben kosten dich eventuell deine finanziellen Rücklagen und verringern zumindest den finanziellen Vorteil der Geo-Arbitrage.
- Ortswahl: Wer von Geo-Arbitrage profitieren möchte, sollte gut recherchieren. Die Wahl des zukünftigen Wohnorts sollte nämlich nur teilweise von persönlichen Präferenzen abhängen. Vielmehr musst du herausfinden, welche Lohnniveaus und Lebenshaltungskosten es in einem Land gibt. Auch innerhalb von Kontinenten kann es diesbezüglich große Unterschiede geben. Weiterhin ist es für ortsunabhängig Arbeitende wichtig, dass eine bestimmte Infrastruktur vorliegt. Du musst dich beispielsweise nach dem Standard hinsichtlich des mobilen Internets oder der Unterkünfte informieren.
- Soziale Verantwortung: Mit Geo-Arbitrage in Niedriglohnländern nutzt du wirtschaftliche Strukturen aus, die für die Menschen vor Ort oft Armut und Ausbeutung bedeuten. Um dazu nicht aktiv beizutragen, solltest du bereit sein, zurückzugeben. Unterstütze die Menschen, indem du in Restaurants, Cafés und bei Inanspruchnahme von Dienstleistungen höhere Trinkgelder gibst, sinnvoll spendest oder dich in deiner Freizeit sozial engagierst.
- Verantwortung und Zeitaufwand beim Outsourcing: Wenn du eine Person am anderen Ende der Welt beschäftigst, solltest du dir darüber im Klaren sein, dass sie sich für ihren Lebensunterhalt auf dich verlässt. Oft versorgt sie mit ihrem Einkommen darüber hinaus eine ganze Familie. In vielen Ländern des Globalen Südens herrschen prekäre Arbeits- und Lebensumstände. Du musst daher bereit sein, Verantwortung zu übernehmen und nicht von ausbeuterischen Strukturen profitieren. Das heißt konkret: Zahle nicht nur den im jeweiligen Land gültigen Mindestlohn, sondern einen existenzsichernden Lohn. Outsourcing erfordert außerdem, dass du eine Person in die ausgelagerten Tätigkeiten einarbeiten, sie allzeit motivierend unterstützen und ihre Arbeit überwachen musst. Dafür benötigst du Zeit und Einfühlungsvermögen. Überlege, ob dir das Outsourcing daher tatsächlich eine Arbeitsersparnis beschert.
Nicht zuletzt geht Geo-Arbitrage auch mit Belastungen für das Umwelt und das Klima einher: Wenn Visa nach drei Monaten ablaufen, ist ein Ortswechsel notwendig. Die erhöhte Mobilität digitaler Nomad:innen kann sich dabei schädlich auf das Klima auswirken. Wer alle drei Monate in den Flieger steigt, hat durch die dabei emittierten Treibhausgase einen größeren CO2-Fußabdruck.
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