Großer Erfolg beim Ausbau der Photovoltaik, Sorge um den Netzausbau und die Versorgungssicherheit: Die Zwischenbilanz der deutschen Energiewende ist gemischt. Klar ist: Es gibt für Politik und Wirtschaft viel zu tun – auch, damit für die Menschen im Land die Kosten nicht zu hoch werden.
Die Welt muss weg von fossilen Energien – und Deutschlands Energiewende hatte bislang internationalen Modellcharakter. Bleibt das so?
Es gibt „in allen Dimensionen politischen Handlungsbedarf, damit die Transformation des Energiesystems möglichst kostengünstig und schnell gelingt.“ So lautet einer der zentralen Sätze aus dem aktuellen Bericht der Expertenkommission zum Energiewende-Monitoring. Das Gremium wurde von der Bundesregierung eingesetzt, um den Fortschritt der Energiewende in Deutschland zu beobachten. Ende Juni haben die vier Fachleute ihren neuesten Bericht vorgelegt.
Die Ziele der Energiewende könnten auch weiterhin erreicht werden können, schreibt die Expertenkommission, diese Zielerreichung sei jedoch „kein Selbstläufer“. Zu den Zielen gehört, im Jahr 2030 80 Prozent des Strombedarfs aus erneuerbaren Energien zu decken und ab 2045 klimaneutral zu sein. Utopia hat sich die Zwischenbilanz zur Energiewende in Deutschland genau angesehen:
- Wo steht die deutsche Energiewende gut da?
- Wo hapert es?
- Was sind die dringenden nächsten Schritte?
- Klimaneutrales Deutschland 2045?
Wo steht die deutsche Energiewende gut da?
Vor allem beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Das Ampelsystem, das den Bericht anschaulich zusammenfasst, steht hier weitgehend auf grün. 2023 stammten 51,6 Prozent des verbrauchten Stroms aus erneuerbaren Energien, der Anteil wächst stetig. Auf Utopia-Nachfrage erklärt Prof. Dr. Anke Weidlich:
„Im Mittel der bisherigen Monate in 2024 sind wir schon bei rund 60 %, das ist ein großer Erfolg.“
Die Wissenschaftlerin ist gemeinsam mit Andreas Löschel, Felix Matthes und Veronika Grimm Teil der Energiewende-Expertenkommission.
Besonders zufrieden sind die Fachleute mit der Geschwindigkeit des Photovoltaik-Ausbaus in Deutschland. Die Bundesregierung hat hier ehrgeizige Pläne – doch derzeit liegen wir voll auf Kurs. Allerdings: „Der Ausbau pro Jahr muss noch weiter gesteigert werden, wenn man dem Zielpfad weiter folgen will“, so Weidlich. Sie weist darauf hin, dass Deutschland bei der bereits installierten Solarenergie-Leistung weltweit auf Rang 4 liegt – hinter China, den USA und Japan. Bei der Windkraft liegt Deutschland demnach sogar auf Platz 3 nach China und den USA.
Wo hapert es?
Unter anderem an den Kapazitäten der Stromnetze, der Versorgungssicherheit, der Energieeffizienz der Gebäude, der Infrastruktur für Elektromobilität und den Energiepreisen.
Der Umbau des Energiesystems ist ein kompliziertes Mammutprojekt und oft bedingen sich einzelne Aspekte gegenseitig. Zum Beispiel können wir zwar immer mehr Windräder und Solaranlagen bauen (und sollten das auch tun). Doch derzeit sind – vereinfacht gesagt – die Stromnetze damit überfordert, den Strom effizient durchs Land zu transportieren. Engpässe auszugleichen kostet viel Geld, der Ausbau der Übertragungsnetze ist daher dringend.
Auch die Verteilnetze, welche den Strom zu den Haushalten und Betrieben bringen, reichen in ihrer heutigen Form nicht aus, wenn wir immer mehr Strom zum Heizen und Auto-Aufladen brauchen. Damit das ganze Land wirklich zu jeder Zeit mit erneuerbarer Energie versorgt werden kann, müssen also erstmal die Netze fit werden – eine teure Riesenbaustelle.
À propos teuer: Die Preispolitik ist laut der Expert:innen derzeit ebenfalls ein Hemmnis für die Energiewende. Zum einen, weil die Strompreise für Verbraucher:innen im internationalen Vergleich hoch sind. Der nötige Um- und Ausbau der Netze macht Strom sogar künftig eher noch teurer – obwohl Strom aus erneuerbaren Energien an der Strombörse derzeit oft sehr günstig ist. Ab und an rutschen die Preise sogar ins Negative, was den Betrieb von Wind- und Solarkraftanlagen weniger rentabel macht. Hier springt bei den meisten Anlagen der Staat ein, um den Betreibern vorab garantierte Preise zu zahlen.
Als Lösungsansätze schlägt die Expertenkommission vor:
- Erstens eine „CO2-preisbasierte Energiepreisreform“. „Dabei sollen die Umlagen und Abgaben auf Strom gesenkt werden und dies mit einer CO2-Bepreisung fossiler Energieträger gegenfinanziert werden“, heißt es im Monitoringbericht. Unter anderem sollten Diesel und Erdgas gleich hoch besteuert werden wie Benzin.
- Zweitens die Absenkung der Stromsteuer nicht nur wie bisher fürs Gewerbe, sondern auch für Privathaushalte.
- Drittens das Ende klimaschädlicher Subventionen für fossile Brennstoffe.
- Viertens könnte es beim Netzausbau Kosten sparen, wenn bei geplanten Leitungen nicht wie bisher vorgesehen Erdkabel bevorzugt werden, sondern stattdessen auf Freileitungen gesetzt wird.
Was sind die dringendsten nächsten Schritte?
Die allergrößten Baustellen sind der Ausbau der Netze und der Kraftwerke, welche die Kohlekraftwerke ersetzen und die Energieversorgung garantieren sollen.
Anke Weidlich sagt gegenüber Utopia:
„Eigentlich ist alles dringend. Aber den Ausbau gesicherter Leistung halte ich für besonders dringlich, um den Kohleausstieg zu schaffen und die Versorgungssicherheit im Stromsystem auch bei hohen Anteilen erneuerbarer Energien zu sichern.“
Was sie damit meint: Deutschland braucht neue klimaschonend betriebene Kraftwerke, damit die Energieversorgung zu jeder Zeit gesichert ist. Denn Wind- und Solarenergie sind bekanntlich nicht immer in konstanter Menge verfügbar. Spätestens 2038, idealerweise schon 2030 will Deutschland die letzten Kohlekraftwerke abschalten. Dann braucht es (umrüstbare) Gas- und später Wasserstoffkraftwerke. Hier hinkt Deutschland seinen Zielen aber deutlich hinterher. Dass bis 2030 die eigentlich nötige Leistung noch erreicht wird, gilt als eher unwahrscheinlich.
Klimaneutrales Deutschland 2045?
Nicht vergessen sollte man, dass die Energiewende, so komplex sie auch ist, nicht allein dafür sorgen kann, dass Deutschland im Jahr 2045 wirklich klimaneutral ist. Sie ist eng mit anderen Sektoren wie etwa Bau, Verkehr oder Landwirtschaft verknüpft.
Die klimaschonende Energieerzeugung und -verteilung kommt teils nur holperig voran – dennoch halten die Mitglieder der Energiewende-Expertenkommission das Ziel, 2045 klimaneutral zu sein, grundsätzlich für erreichbar. Doch in anderen Bereichen ist das Tempo der Transformation teils deutlich schleppender.
Energieexpertin Weidlich drückt es diplomatisch aus:
„Es tut sich viel, aber es ist einfach so viel gleichzeitig zu tun, dass es schwer ist, alles gleichermaßen zu erreichen.“
„Das größte Sorgenkind sehe ich beim Verkehr. Da kommen wir bei der Emissionsreduktion nicht von der Stelle.“ Die Expertenkommission empfiehlt unter anderem, die Infrastruktur für E-Mobilität schneller auszubauen.
Entscheidend dafür, dass die Energiewende in allen Bereichen gelingt, ist, dass die Bürger:innen bereit sind, mitzumachen – oder zumindest nicht blockieren. Vor allem also darf die Transformation für die Menschen im Land nicht zu teuer werden. „Wir brauchen sozial ausgewogene Lösungen“, so Weidlich. „Es muss immer mitgedacht werden, welche Auswirkungen eine Maßnahme auf die untersten Einkommensschichten hat.“
Ob das Land in gerade mal gut 20 Jahren trotz all dieser Herausforderungen wirklich klimaneutral sein kann? „Technisch ist es machbar. Ob wir es erreichen, entscheiden wir als Gesellschaft“, so Weidlich.
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