Hochsensible Menschen, so heißt es, erleben die Welt anders als der Rest. Ist Hochsensibilität also mehr als ein Trend? Unsere Autorin erklärt, was hinter dem Begriff steckt und berichtet von ihren eigenen Erfahrungen.
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Achtsamkeit, Selbstliebe, Hochsensibilität – man könnte meinen, Konzepte wie diese seien in Mode, liest und hört man doch seit einiger Zeit fast überall davon. Dass an Achtsamkeit und Meditation etwas dran ist, ist wissenschaftlich inzwischen recht gut belegt, und auch die Selbstliebe kann nachweislich vielen Menschen helfen.
Die Hochsensibilität dagegen hat es bislang sowohl bei Ärzt:innen, Psychotherapeut:innen und in der Wissenschaft als auch bei Lai:innen nicht leicht – wird sie doch gerne einfach als alberne Neurose oder gar Einbildung betrachtet. Doch für viele hochsensible Menschen scheint es wie eine Offenbarung zu sein, wenn sie auf das Konzept stoßen. Mit dem Bekannterwerden des Phänomens ändert sich nun langsam auch dessen gesellschaftliche Wahrnehmung.
Was ist Hochsensibilität?
Hochsensibilität ist ein psychophysiologisches Konzept zur Erklärung der innergesellschaftlichen Unterschiede in der Ausprägung der Sensitivität für Reize und der Verarbeitung von Reizen. Kurz gesagt erklärt sie, dass manche Menschen aufgrund von neurologischen Besonderheiten empfänglicher für Reize sind als andere, ohne dies steuern zu können. Betroffene Personen sind dadurch oft schneller übererregt, also reizüberflutet.
Allerdings berichten viele vermeintlich oder tatsächlich Betroffene auch, dass ihnen ihre Empfindlichkeit auch besonders feine Genüsse ermöglicht. Hochsensible Personen sollen teils zum Beispiel besonders empathisch und kreativ sein, Zusammenhänge schneller erkennen können als andere, eher nach Sinn suchen, emotional beteiligter sein zum Beispiel Musik und andere Künste deutlich feiner wahrnehmen können als Menschen mit einer durchschnittlichen Verarbeitung.
Wichtig: Hochsensibilität ist weder eine Erkrankung noch eine psychische Störung, auch wenn die hohe Sensibilität hochsensible Menschen vulnerabler macht. Sie ist eher ein Persönlichkeitsmerkmal oder Temperamentsmerkmal.
Die Welt der hochsensiblen Menschen
Hochsensible Menschen nehmen durch ihre schwachen Reizfilter nicht nur deutlich mehr wahr als andere Menschen, sie verarbeiten es auch breiter und tiefer. Diese Reize können sowohl von außen als auch von innen kommen. Mischen sich äußere Reize wie Licht, Lärm, Berührungen oder Hitze mit inneren, wie Hunger oder Sorge, fühlen sich hochsensible Personen (kurz: HSP) schnell überfordert, überflutet und davongespült. Da HSP oft nicht wissen, dass sie hochsensibel sind, berichten viele, dass sie sich einfach „anders“ oder fehl am Platz fühlen.
Ich selber habe lange nach einer Erklärung für depressive Episoden, unvorhergesehene Aggressionen, Abgeschlagenheit und dieses Gefühl anders zu sein gesucht. Nachdem ich wochenlang das Internet gequält hatte, stieß ich endlich auf den englischen Wikipedia-Eintrag zur „sensory processing sensitivity“ (sensorische Verarbeitungstiefe) – und fühlte mich angesprochen. Die absolute Erleichterung und die ersten Tipps zum Umgang mit mir selbst kamen ein paar Wochen später mit dem Buch “Zart besaitet” von Georg Parlow. (Anm. d. Red: online erhältlich bei Buch7, Thalia oder Amazon.)
Hochsensibilität: Stand der Forschung und Diagnose
Das Konzept der spezifischen Reizverarbeitung (sps) begründet hat Elaine N. Aron in den Neunziger-Jahren und sie hatte es erst einmal nicht leicht. Ärzt:innen und Therapeut:innen waren mehrheitlich der Meinung, es brauche keine neuen Erklärungen für Neurosen, die schon hinreichend in anderen Konzepten erklärt würden.
Allerdings hatten sich schon vor Aron Forscher:innen mit der Reizwahrnehmung beschäftigt und die These aufgestellt, dass die Reizschwelle des Thalamus (Kerngebiet des Zwischenhirns, das fast alle Sinneseindrücke verarbeitet) bei HSP niedriger sei als bei anderen Personen.
Die Ergebnisse der Studien zur Häufigkeit von Hochsensibilität reichen heute von rund 3 Prozent bis 30 der Menschen, wobei letzteres Ergebnis zur jüngsten Studie von 2018 gehört.
Die Diagnosestellung ist schwierig: Hochsensibilität ist weder eine Erkrankung noch ein fest etabliertes medizinisches Konzept. Viele HSP landen früher oder später bei Therapeut:innen, weil sie auf Dauer unter gefühlt normalen Alltagsanforderungen zusammenbrechen. So scheinen Menschen, die dem hochsensiblen Spektrum zugerechnet werden, durch ihre schwachen Reizfilter deutlich anfälliger für Burnout zu sein. Anstatt Hochsensibilität als Ursache in Betracht zu ziehen, gibt es dann häufig über Jahre einen bunten Strauß an Diagnosen, unter denen meist ADHS, Angststörung und Depressionen zu finden sind.
Ein bis zum Zerreißen überspanntes Nervensystem
Ich selbst habe all diese Diagnosen erhalten, bin aber, seit ich mich mit meiner Sensitivität auseinandersetze und gelernt habe, mit ihr umzugehen, vollkommen symptomfrei. Meine Symptome waren Zeichen eines permanent bis zum Zerreißen überspannten Nervensystems und dem Gefühl, nie genug zu sein. Natürlich kann das zu Depressionen, Ängsten und Hyperaktivität führen, nur sind diese hier die Symptome, nicht die Diagnose.
Umstrittenes Konzept
Zur Wahrheit über Hochsensibilität gehört auch: Obwohl in den vergangenen 30 Jahren auf dem Gebiet einige Forschung stattgefunden hat, ist das Konzept unter Fachleuten nach wie vor umstritten. Unter Betroffenen und inzwischen auch einigen Psychotherapeut:innen wird es allerdings geschätzt und ernst genommen. Bei der breiten Masse bekannt gemacht hat den Begriff Georg Parlow. Der Autor und selbst ernannte Hochsensibilitäts-Experte betrieb in den vergangenen Jahren eine der wenigen deutschen Webseiten, die über Hochsensibilität informierte, ein Forum für Betroffene bot, und sogar einen recht umfangreichen Selbsttest zur Verfügung stellten.
Viele HSP sind mittels dieser Website erst auf ihre Andersartigkeit aufmerksam geworden – auch wenn deutlich infrage zu stellen ist, als wie wissenschaftlich der Online-Selbsttest einzustufen ist. Als hilfreichen ersten Schritt betrachten ihn viele Betroffene allemal. Im Jahr 2003 erschien Parlows Buch “Zart Besaitet – Selbstverständnis, Selbstachtung und Selbsthilfe für hochsensible Menschen”, das zwar kein wissenschaftliches Werk ist, inzwischen aber als Grundlagenwerk zur Hochsensibilität gilt – und vermutlich nicht nur mir persönlich einen Weg gezeigt hat, mich zu schützen und zu schätzen.
Der Alltag hochsensibler Personen – persönliche Tipps einer Betroffenen
Da das Konzept der Hochsensibilität wissenschaftlich umstritten ist und es zum Umgang damit keine wissenschaftlichen oder gar medizinischen Leitlinien gibt, ist es schwierig den folgenden Abschnitt wissenschaftlich zu untermauern.
Meine persönliche Evidenz zum Thema ergibt sich aus jahrelangem Austausch mit anderen Betroffenen in Foren, Tipps von spezialisierten Coaches, der Lektüre vieler hochsensibler Lebensgeschichten sowie Fachartikel und Bücher – und natürlich Selbsterfahrung.
HSP haben meiner Erfahrung nach ebenso viele Kapazitäten wie durchschnittlich verarbeitende Menschen, nur werden sie schneller durch Reize „geleert“. Egal wie sensibel du also bist, und auf welche Art und Weise – du solltest dich bis zu einem gewissen Maß vor Reizen schützen. Meine persönlichen Lieblingsgadgets sind Ohrstöpsel, die ich auch im Alltag trage, eine Blaufilterbrille, die nicht nur vor dem Monitor sinnvoll ist, und alles, was mir die Haare aus dem Gesicht hält, denn ständige Berührungen sind mir unerträglich.
Auch deine persönlichen Ressourcen zu nutzen, kann unheimlich stärken. Gesteht man sich die hohe Sensibilität endlich ein, was einem Outing gleichkommen kann, merkt man schnell, dass man nicht so richtig in diese Gesellschaft passt. Partys überfordern schnell, ebenso wie laute Gespräche, viele Menschen oder Hektik – verständlich, wenn man davon ausgeht, dass man als HSP ein vielfaches mehr Informationen aufnimmt als alle anderen.
Das kann belasten, da man sich oft zwischen dazugehören und wohlfühlen wollen entscheiden muss. Es kostet Kraft, mit einem Buch zuhause zu bleiben, während der Rest feiern geht – aber es spendet auch welche. Die Akzeptanz der eigenen Sensitivität fördert für viele Betroffene die Annahme der eigenen Bedürfnisse und Begabungen, und das kann gerade für hochsensible Menschen erfüllend sein.
Künste, Introspektion, Gedankenspiele, Philosophie, aber auch der Umgang mit der Natur oder der bloße Aufenthalt in ihr können in meiner persönlichen Erfahrung in einer Tiefe bereichern, die anderen Menschen nur schwer zugänglich ist. Selbstfürsorge und Selbstliebe sollten in dieser Phase großgeschrieben werden, und es hilft, sich viel Zeit und Ruhe in diesem Prozess zu gönnen. Meditation und andere Entspannungstechniken können helfen, den tagsüber angesammelten „Reizballast“ abends wieder abzuwerfen.
Das Entdecken der eigenen Hochsensibilität, nimmt man sie an, wird – so habe zumindest ich es erlebt – zu einer inspirierenden Reise zu sich selbst und eröffnet viele Möglichkeiten, doch man wird bereit sein müssen, sich radikal für die eigenen Bedürfnisse zu entscheiden.
Unabhängig davon, wie verbreitet Hochsensibilität nun wirklich ist und wie Einzelne damit umgehen: Die gesellschaftliche Aufmerksamkeit, die das Konzept derzeit erfährt, könnte dazu beitragen, Menschen für die unterschiedlichen Bedürfnisse anderer zu sensibilisieren und toleranter zu machen. Und damit wäre ja auch schon viel gewonnen.
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