Jahrelang herrschte die Annahme, das Klima verändere sich linear. Doch neue wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen: Das Klima kann abrupt umschlagen. Und das passiert, wenn so genannte Kipppunkte (oder Kippelemente) im Klima erreicht werden.
Wenn wir über die globale Erwärmung sprechen, dann stellen wir uns eine schrittweise Verschlechterung unseres Klimasystems vor. Die Erde wird immer wärmer und das Klima verändert sich nach und nach. Etwa wie eine stetig ansteigende Linie. Das ist aber nicht so. Denn das Klima verändert sich sprunghaft.
Eine besondere Rolle spielen dabei Klima-Kipppunkte (auch: Kippelemente). Das sind Schwellenwerte im Klimasystem, die wie so genannte „points of no return“ reagieren: Wird ein solcher Schwellenwert erreicht, führt das zu schnellen und unumkehrbaren Veränderungen des Erdklimas. Dieses Phänomen bezeichnet man auch als klimatische Rückkopplung.
Das kann man sich in etwa wie kochendes Nudelwasser vorstellen. Wenn das Nudelwasser im Kochtopf zu sehr schäumt, läuft es über. Dann reduzieren wir die Temperatur und das Wasser bleibt im Topf. Aber anders als beim überkochenden Nudelwasser können wir bei der Erde keinen Schalter umlegen. Kocht sie einmal über, lässt sich der Prozess nicht mehr aufhalten. Aber es gibt Hoffnung.
Eindringliche Warnung 2022: Wir sind kurz vor dem Erreichen von Klima-Kipppunkten
Haben die Schäden ein bestimmtes Ausmaß erreicht, ist die Entwicklung also unumkehrbar. Der Punkt könnte schneller erreicht sein als gedacht – das zeigte ein internationales Forschungsteam im Herbst 2022.
Das Ergebnis ihrer Untersuchungen (veröffenlticht in der Fachzeitschrift „Science“): Bis 2030 könnten vier Kipppunkte für das Weltklima erreicht werden. Das Team um David Armstrong McKay und Timothy Lenton von der University of Exeter (Großbritannien) untersuchte mehr als 200 Studien zum Thema Kipppunkte und ermittelte so neun Kipppunkte, die für das weltweite Klima relevant sind, und sieben Kipppunkte, die weitreichende regionale Auswirkungen haben. Die Forschenden kommen zu der Einschätzung, dass beim Erreichen einer Erderwärmung von durchschnittlich 1,5 Grad Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter vier Kipppunkte erreicht werden: beim grönländischen und westantarktischen Eisschild, beim Absterben der tropischen Korallenriffe und beim Tauen des Permafrost-Bodens (s. unten).
Aufgrund der Entwicklung in den vergangenen Jahren prognostizieren sie, dass die 1,5 Grad bereits im Jahr 2030 Wirklichkeit werden. Mit jedem Zehntelgrad mehr steigen die Risiken für das erreichen weiterer Kipppunkte. „Damit ist die Erde geradewegs auf Kurs, mehrere gefährliche Schwellenwerte zu überschreiten, die für die Menschen auf der ganzen Welt katastrophale Folgen haben würden“, wird Mitautor Johan Rockström vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung in einer Mitteilung seines Instituts zitiert.
Kipppunkte können Klima- Kettenreaktion hervorrufen
Es gibt viele verschiedene Klima-Kipppunkte, die alle in Beziehung zueinander stehen. Sie lassen sich laut dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) drei Kategorien zuordnen:
- Schmelzende Eiskörper, zum Beispiel in der Antarktis
- Veränderte Strömungssysteme, zum Beispiel im Nordatlantik
- Durch klimatische Veränderungen bedrohte Ökosysteme, zum Beispiel im austrocknenden Amazonas-Regenwald
All diese Klimabereiche sind unweigerlich miteinander verbunden. Bereits kleine Veränderungen, die zum Erreichen eines einzigen Schwellenwerts für ein Kippelement führen, können eine klimatische Kettenreaktion verursachen. Und diese Reaktion lässt sich dann nicht mehr aufhalten.
Das Auftauen der Permafrostböden beschleunigt den Klimawandel
Die arktischen Permafrostböden befinden sich in Sibirien und Nordamerika. Wenn sie auftauen, setzen sie riesige CO2– und Methan-Mengen frei. Dabei gilt: Je mehr CO2 sie freisetzen, desto schneller taut laut dem PIK der restliche gefrorene Boden auf. Denn die Treibhausgase gelangen in die Atmosphäre und verstärken dadurch die globale Erwärmung. Dieser selbstverstärkende Effekt führt zu einem Teufelskreis, bei dem immer höhere Mengen an Treibhausgasen die Klimakrise vorantreiben.
Auch der Eisschwund in Grönland gilt als klimatisches Kippelement: Der Grönland-Gletscher verliert durch die Erwärmung immer mehr an Höhe. Je niedriger er wird, umso mehr nähert er sich wärmeren Luftschichten, die seinen Schwund bestärken. Laut Wissenschaftler:innen gibt es Hinweise darauf, dass der Kipppunkt in diesem Fall schon bei einem Anstieg der globalen Temperatur von zwei oder sogr 1,5 Grad liegen könnte. Ist dieser Klima-Kipppunkt erreicht, ist ein vollständiger Eisverlust in Grönland unausweichlich.
Aber was genau passiert, wenn ein Kipppunkt überschritten wird?
Abschmelzen Grönlands kann den westafrikanischen Monsun destabilisieren
Das lässt sich am Beispiel der Ozeanströmung veranschaulichen: Die Atlantische Meridionale Umwälzzirkulation (AMOC) ist das Strömungssystem des Atlantiks und gehört zur globalen Ozeanströmung. Solche Ozeanströmungen funktionieren wie ein Fließband, sie transportieren Gase, Wärme und Salze in verschiedene Ozeangebiete.
Die AMOC transportiert hauptsächlich Wärme und salzreiches Wasser. Fließt nun durch Abschmelzen des Eisschilds in der Antarktis Süßwasser in den Ozean, stört dies das Fließverhalten und damit das natürliche Gleichgewicht der Ozeanzirkulation. „Eine weitere Verlangsamung der AMOC könnten den westafrikanischen Monsun destabilisieren und Dürren in der afrikanischen Sahelzone auslösen“, warnt Professor Lenton, Direktor des Global Systems Institute an der Universität Exter (UK) im Wissenschaftsmagazin nature.
Auch der Golfstrom gilt als Kippelement. Er wird vor allem von kaltem und dichtem Salzwasser in der Tiefe vor der Küste Grönlands angetrieben. Durch geschmolzene Eismassen und dadurch höhere Süßwassermengen hat sich der Strom laut PIK bis lang bereits um 15 Prozent abgeschwächt. Nimmt diese Abschwächung zu, könnten marine Ökosysteme aus dem Gleichgewicht geraten. Zudem könnte der Meeresspiegel insbesondere an der US-amerikanischen Atlantikküste ansteigen.
Veränderte Ozeanströmung hat auch einen Einfluss auf den Amazonas
Doch eine Verlangsamung der AMOC hat nicht nur Auswirkungen auf den afrikanischen Kontinent. Auch der Amazonas könnte austrocknen. Dabei ist das Austrocknen des Amazonas und der Kollaps des Amazonas-Regenwaldes selbst schon ein Kipppunkt.
Die Auswirkungen auf das globale Klima wären verheerend. „Unserer Ansicht nach deuten allein die Hinweise (auf die Existenz) von Kipppunkten darauf hin, dass wir uns in einem planetarischen Notfall (planetary emergency) befinden“, appellieren Professor Lenton und andere Autor:innen im nature-Magazin.
Klima-Kipppunkt Amazonas-Regenwald
Der Amazonas-Regenwald, in dem allein 16.000 verschiedene Baumarten leben, steht seit 2019 kurz vor dem Kipppunkt. Das brasilianische Nationale Institut für Weltraumforschung (INPE) gab an, dass sich die Abholzungsrate des Regenwalds 2019 im Vergleich zum Vorjahr um 30 Prozent erhöhte. Die Wirtschaftswissenschaftlerin Dr. Monica de Bolle vom Peterson Institute für internationale Wirtschaft (PIIE) in Washington berechneten 2019, dass der Amazonas schon im Jahr 2021 zu sterben beginnen könne. Und Wissenschaftler:innen des Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) stellten in einer Studie 2022 fest, es gebe bereits Anhaltspunkte für eine Destabilisierung im Amazonas-Regenwald.
Mehrere Milliarden Bäume wurden im Regenwald bereits abgeholzt oder abgebrannt. Dadurch erwärmt sich der Regenwald schneller. Außerdem spielen Bäume eine entscheidende Rolle bei der Rückführung von Wasser in die Atmosphäre. Das aufgenommene Wasser verdunstet über die Blätter und fällt dann als Regen in den Regenwald. Fehlen die Bäume, bedeutet das weniger Niederschlag und höhere Temperaturen.
„Wenn das Baumsterben, das wir sehen, noch zehn bis 15 Jahre anhält, dann wird sich der südliche Amazonas in eine Savanne verwandeln“, sagt Dr. Carlos A. Nobre, Klimawissenschaftler an der Universität Sao Paulo. Er und Dr. Thomas E. Lovejoy, Universitätsprofessor an der George Mason Universität, veröffentlichten 2018 einen Bericht zur Abholzung des Regenwaldes. Laut ihren Berechnungen würde die Abholzung von 20 bis 25 Prozent des Amazonas-Regenwaldes dazu führen, dass das östliche, südliche und zentrale Amazonien in Nicht-Wald-Ökosysteme umschlägt.
Für einige Klima-Kipppunkte ist es bereits zu spät
Wann genau ein Kipppunkt erreicht ist, können Wissenschaftler:innen kaum vorhersagen. Dafür sind die zusammenhängenden Prozesse noch nicht ausreichend erforscht. Beispielsweise fehlen Daten darüber, wie Klimawandel, Abholzung und Brände sich gegenseitig beeinflussen und wie Wälder darauf reagieren. Was den Amazonas-Regenwald betrifft, sind sich Lovejoy und Nobre jedoch einig: „Heute stehen wir genau in einem Moment des Schicksals: Der Kipppunkt ist hier, er ist jetzt.“
„Es ist bereits zu spät, um einige Kipppunkte zu verhindern, da es Hinweise darauf gibt, dass mindestens neun bereits durchbrochen wurden“, sagt Katherine Richardson, Professorin für biologische Ozeanographie an der Universität von Kopenhagen. Zu den neun Kippelementen zählen unter anderem der Amazonas-Regenwald, die Korallenriffe und das arktische Meereis. Wichtig sei nun, das Risiko für eine Kettenreaktion zu minimieren. Und das geht nur, wenn der menschengemachte Klimawandel gebremst wird.
Der Zeitpunkt zum Handeln ist jetzt
Um das Erreichen weiterer Kipppunkte zu verhindern, muss die globale Erderwärmung unter 1,5°C bleiben. Noch ist es dafür nicht zu spät. Wichtig ist vor allem, CO2-Emissionen zu reduzieren. Dafür sind drastische politische Maßnahmen nötig. Doch auch jede:r einzelne von uns kann etwas für seinen persönlichen CO2-Fußabdruck tun. Einige Tipps und Inspirationen:
- CO2-Fußabdruck effektiv senken – in 10 einfachen Schritten
- Klimaschutz: 15 Tipps gegen den Klimawandel
Erstellt mit Material der dpa
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