Ableismus bezeichnet eine Haltung gegenüber Menschen mit Behinderung, die auf ihre Defizite fokussiert ist. Dadurch erfahren die Betroffenen Diskriminierung. Wie sich genau Ableismus äußert und wie du ihn vermeiden kannst, erfährst du hier.
Der Begriff „Ableismus“ setzt sich zusammen aus dem englischen Wort „able“ (auf Deutsch: „fähig“) und der Endung -ismus. Er beschreibt eine grundlegend defizitorientierte Haltung gegenüber Menschen mit Behinderung: Dabei schließt du von der Beeinträchtigung einer Person direkt auf Defizite in ihren geistigen und/oder körperlichen Fähigkeiten.
So reduzierst du Menschen mit Behinderung oder chronischer Krankheit automatisch auf ihre Einschränkungen, was sich in ihrer Ungleichbehandlung äußert. Diese kann die Form von Abwertung (wegen ihrer Defizite) aber auch Aufwertung (trotz ihrer Defizite) annehmen. Beide Arten der Ungleichbehandlung gehen davon aus, dass Menschen mit Behinderung von einer erwünschten körperlichen oder geistigen Norm abweichen und dadurch nicht die gleichen Leistungen erbringen beziehungsweise Fähigkeiten haben wie Menschen ohne diese Beeinträchtigung.
Ableismus (beziehungsweise „ableism“ auf Englisch) hat seinen Ursprung im Disability Rights Movement, einer US-amerikanischen Bewegung von Menschen mit Behinderung. Sie strebt unter anderem danach, das Selbstverständnis von Menschen mit Behinderung zu stärken und so ihre gesellschaftliche Ausgrenzung anzufechten.
Struktureller Ableismus: Diskriminierung mit und durch das System
Die Diskriminierungserfahrungen durch Ableismus von Menschen mit Behinderung ziehen sich durch alle Bereiche des öffentlichen wie privaten Lebens und hindern sie an einer gleichberechtigen Teilnahme an der Gesellschaft.
Strukturelle Barrieren treten zum Beispiel hier auf:
- auf dem Arbeitsmarkt,
- in den Medien und der öffentlichen Kommunikation,
- in öffentlichen Räumen,
- bei der politischen Partizipation,
- im Bereich medizinischer Dienstleistungen,
- in der Strafjustiz,
- der Bildung
- und im ÖPNV.
Ein paar Beispiele:
Medien
Medien zeigen Menschen mit Behinderung noch vornehmlich einseitig und klischeebehaftet – als hilflose Opfer. Dies kultiviert unter den Zuschauer:innen einen mitleidigen Blick auf Menschen mit Behinderung, welcher zu ableistischem Verhalten im Alltag führen kann.
Öffentlicher Raum
Der öffentliche Raum umfasst Kindergärten, Turnhallen, Sport- und Badestätten, den Gastronomiebetrieb, die Straßengestaltung und den Zugang zu öffentlichen Gebäuden jeder Art. Für Menschen mit Behinderung müssen all diese Orte barrierefrei sein, doch oftmals ist die notwendige Infrastruktur nicht gegeben: Es fehlen Rampen, Lifte oder Fahrstühle. Das erschwert oder verhindert die Teilnahme von Menschen mit Behinderung am öffentlichen Leben. In einem solchen mit Barrieren gepflasterten Raum fallen Menschen mit Behinderung zusätzlich als „Belastung“ auf, weil sie auf andere angewiesen sind.
In der politischen Arbeit
Betroffene berichten davon, dass ihre Arbeit für Vereine oder Parteien nicht wertgeschätzt wird oder dass diese von ihnen erwarten, kostenlose Aufklärungsarbeit zu leisten. Es wird automatisch davon ausgegangen, dass es für sie schon Ehre und Belohnung genug ist, trotz ihrer Behinderung mitwirken und ihre Ansichten äußern zu „dürfen“.
Alltäglicher Ableismus: So unterschiedlich kann sich Ableismus im Alltag äußern
Als eine grundlegend defizitorientierte Haltung sorgt Ableismus dafür, dass Menschen mit Behinderung ihre Fähigkeiten abgesprochen werden. Im Alltag äußert sich dies dann darin, dass sie auf verschiedene Weise bevormundet werden. Das suggeriert, dass sie bestimmte Dinge aufgrund ihrer Behinderung nicht können.
Aufgezwungene Hilfe
Viele Menschen mit Sehbehinderung bekommen ungefragt Hilfe von fremden Personen. Oft geht ein gutgemeintes Hilfsangebot zudem mit grenzverletzendem Verhalten einher, beispielsweise wenn du eine Person mit Sehschwierigkeiten ungefragt an der Hand nimmst. Aufgezwungene Hilfe durch Ableismus kann Menschen mit Behinderung in Situationen bringen, die für sie unangenehm oder gar einschüchternd sind. Wenn sie die ungefragte Hilfestellung oder Bevormundung ablehnen, wird ihnen oftmals zudem Undankbarkeit vorgeworfen.
Behinderung als Ärgernis und Hindernis
Alltäglicher Ableismus beinhaltet des Weiteren, dass Menschen mit Behinderung gemieden, beleidigt, oder angefeindet werden. Rollstuhlfahrer:innen müssen nicht nur genervte Blicke aushalten, wenn es beim Einpacken der Einkäufe an der Kasse länger dauert. Manche stellen sie gar öffentlich bloß durch Vorwürfe, warum sie denn ausgerechnet während des hektischen Feierabends einkaufen gehen müssen. So erscheint die Behinderung als ein Hindernis und Ärgernis für alle anderen.
Diskriminierung durch Aufwertung
Die „Ableds„, also Menschen mit als „normal“ geltenden Fähigkeiten, können auch ein aufwertendes ableistisches Verhalten an den Tag legen. Typischerweise betonen Ableds in so einem Fall, dass eine Person mit Behinderung etwas geleistet oder getan hat trotz ihrer Einschränkungen: Sie schafft ihren Abschluss trotz Behinderung; sie meistert ihr Leben, obwohl sie aufgrund ihrer Krankheit doch sicherlich depressiv oder verbittert sein müsste; sie reist um die Welt trotz ihrer angeblichen Hilflosigkeit. So messen Ableds die Handlungen eines Menschen mit Behinderung weiterhin an einer erwünschten Norm. Oft sind solche Aufwertungen gut gemeint. Den Betroffenen vermitteln sie jedoch, dass sich die Anerkennung nicht wirklich auf ihre absoluten Leistungen bezieht, sondern immer nur auf ihre Leistungen im Kontext der Einschränkungen.
Infragestellung der Behinderung
Ableismus kann auch zutage treten, wenn ein Abled den Schweregrad einer Behinderung in Frage stellt. Fallen die Einschränkungen einer Person nicht sofort ins Auge, kann es passieren, dass ihnen Ungläubigkeit oder Missgunst begegnet: Fremde zweifeln an, ob die betroffene Person tatsächlich „behindert genug“ ist und gewisse Leistungen und Vorteile wie Befreiungskarten für den öffentlichen Nahverkehr oder einen Behindertenparkausweis rechtmäßig in Anspruch nimmt.
Internalisierter Ableismus als Folge von Ungleichbehandlung und Bewertungen
Dadurch, dass sie konstant mit Bewertungen ihrer (Un-)Fähigkeiten konfrontiert sind, zweifeln viele Menschen mit Behinderung oft selbst irgendwann an ihren Fähigkeiten. Dies wird dann internalisierter Ableismus genannt.
Er kann sich darin äußern, dass Menschen mit Behinderung unter hohem Leistungsdruck leiden, um sich selbst zu beweisen. Sie können durch internalisierten Ableismus aber auch Scham verspüren, beispielsweise wenn sie im Bus die Rollstuhlklappe benötigen. Oder sie empfinden Schuldgefühle, weil sie für nahestehende Personen einen Aufwand bedeuten. Deshalb ziehen sie sich oft zurück. Internalisierter Ableismus kann auch beinhalten, dass Menschen mit Behinderung ihre Fähigkeiten und Einschränken untereinander vergleichen, um festzustellen, wen es vermeintlich „besser getroffen“ hat.
Werde dich deines Ableismus bewusst
Ableismus spielt sich sowohl bewusst wie auch unbewusst ab. „Ableds“ meinen es oft gut, wenn sie Menschen mit Behinderung helfen wollen oder ihnen Lob aussprechen. Doch sie berücksichtigen ebenso oft nicht, dass sie dadurch keineswegs auf Augenhöhe mit Menschen mit Behinderung interagieren, sondern sie bevormunden oder kleinmachen.
Werde dir deshalb bewusst, wann und wie du dich ableistisch verhältst. Dies kannst du tun, indem du dich gezielt mit den Perspektiven von Menschen mit Behinderung auseinandersetzt. Sie helfen dir zu erkennen, wie Menschen mit Behinderung ihre Beeinträchtigung selber wahrnehmen und welche Rolle sie im Umgang mit anderen spielen soll.
So gibt es online viele Aktivist:innen mit Behinderung, die Aufklärungsarbeit leisten:
- Raul Krauthausen: Er ist Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit. Er betreibt unter anderem einen Blog und einen Podcast.
- Marian und Tabea von NOTJUSTDOWN: Die Geschwister wollen das Leben von und mit Menschen mit Down-Syndrom in allen Facetten zeigen.
- Laura Gehlhaar: Sie ist Speakerin und Autorin und berät Unternehmen in den Bereichen Inklusion und Barrierefreiheit.
Ableismus vermeiden
Wenn du ein Gespür für Ableismus bekommen hast, kannst du das in deiner Kommmunikation berücksichtigen. Beachte dabei Folgendes:
Ernst nehmen
Rede mit Menschen mit Behinderung statt über sie. Frage sie nach ihren Belangen, höre ihnen aktiv zu, und nimm ihre Perspektiven ernst. Eine Person mit Behinderung ernst zu nehmen, bedeutet, an sie heranzutreten wie an jeden anderen Menschen auch – mit Respekt und Höflichkeit.
Keine Bevormundung
Viele sind schnell darin, Menschen mit Behinderung Arbeit abnehmen zu wollen oder ihnen Hilfe aufzudrängen. Doch dieses bevormundende Verhalten führt dazu, dass wir den Betroffenen Autonomie nehmen. Biete deine Hilfe an und akzeptiere es, wenn dein Gegenüber sie ablehnt.
Vermeide Schubladendenken
Jede Person mit Behinderung oder chronischer Erkrankung ist individuell, da es unzählige verschiedene Formen und Ausprägungen von Beeinträchtigungen gibt. Viele davon können unsichtbar sein. Schließe also nicht von der körperlichen (Un-)Versehrtheit einer Person auf das gesamte Ausmaß ihrer Beeinträchtigung. Ein vermeintliches Lob, dass man einer Person ihre Behinderung ja gar nicht ansehe, kann für die betroffene Person unangenehm sein.
Empathie ja, Mitleid nein
Aufwertendes Verhalten wie oben beschrieben drückt immer Mitleid aus. Wir gehen davon aus, dass es der betroffenen Person aufgrund ihrer Behinderung schlecht gehen müsse und wollen sie loben, dass sie ja trotzdem so positiv oder lebensbejahend ist. Mit solchen Aussagen drücken wir aus, dass die Abweichung von der Norm etwas Schlechtes sei.
Anstelle mitleidiger Komplimente solltest du den Betroffenen echte Empathie entgegenbringen, die sie nicht auf ihre Einschränkungen reduziert.
Engagiere dich
Zunehmend werden Stimmen laut, die eine Auffassung von Behinderung nicht als medizinisches oder soziales Problem, sondern als Menschenrechtsthema fordern. Die UN- Behindertenrechtskonvention stellt klar, dass Menschen mit Behinderung ein uneingeschränktes Recht auf Teilhabe besitzen. Dieses Recht lässt sich nicht umsetzen, wenn wir Behinderung nur als Problem auffassen, dass die meisten nicht betrifft. Inklusion und Teilhabe erfordern, dass die Mehrheitsgesellschaft daran teilnimmt.
Du kannst dich also engagieren, um die Belange und Aktionen von Menschen mit Behinderung zu unterstützen. So gibt es viele Petitionen, die du unterschreiben kannst, zum Beispiel: Menschenrechte für Menschen mit Behinderung: Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention · Change.org.
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