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„Systemsprenger“: Dieser Film über ein „Problemkind“ geht uns alle etwas an

Systemsprenger
Foto: © Artwork Pauline Branke, Foto Philip Leutert/ ©Yunus Roy Imer/Port au Prince Pictures

Der Spielfilm „Systemsprenger“ erzählt die Geschichte eines aggressiven Mädchens, das das Jugendhilfesystem an seine Grenzen bringt. Beim Deutschen Filmpreis hat Systemsprenger nun zahlreiche Preise gewonnen. Ein Film, den man nicht sehen will – aber sehen muss.

Benni ist neun Jahre alt, sie schreit, schlägt, rastet aus – und fliegt deshalb überall dort wieder raus, wo sie hingeschickt wird: Aus der Wohngruppe, der Pflegefamilie, ihrer Sonderschulklasse. Benni ist das, was in der Jugendhilfe inoffiziell unter den Begriff „Systemsprenger“ fällt: Kinder und Jugendliche, mit denen Sozialsysteme nicht klarkommen, die ihre Helfer*innen überfordern und gleichzeitig von allen Seiten immer und immer wieder im Stich gelassen werden.

Gespielt wird Benni von der inzwischen elfjährigen Helena Zengel. Sie gewann am Freitag den Deutschen Filmpreis 2020 für die beste weibliche Hauptrolle. Der Film war noch in weiteren Kategorien erfolgreich: Er wurde mit insgesamt acht „Lolas“ (dem Pendant zum Oscar) ausgezeichnet.

Benni tritt dort zu, wo es weh tut

Schuld an Bennis Wutausbrüchen scheint ein System zu sein, das dem Mädchen Liebe und Geborgenheit verwehrt. Weil sie nirgendwo hinpasst, wird die Neunjährige von einer Einrichtung in die nächste geschickt. Ihre heillos überforderte Mutter sieht sich immer weniger dazu imstande, die unberechenbare Tochter bei sich aufnehmen zu können.

Benni reagiert auf die Zurückweisung. Dabei kennt sie die Schwachstellen ihres Umfelds ganz genau und tritt dort zu, wo es weh tut. Damit treibt sie ihre Mutter, die Sozialarbeiter*innen und Erzieher*innen zur Verzweiflung. Das geht selten gut für sie aus, ist aber oft die einzige Möglichkeit, um mit der Situation fertig zu werden.

Als es keinen Platz und keine Lösung mehr für Benni zu geben scheint, schlägt Anti-Gewalttrainer Micha eine ungewöhnliche Maßnahme vor: Eins- zu-eins-Betreuung, drei Wochen im Wald. Der Aufenthalt tut Benni gut – gelöst sind ihre Probleme damit nicht.

Hier gehts zum Trailer auf Youtube:

Bennis Situation ist weiterhin unstetig

Bennis Situation ist während des kompletten Films von Brüchen bedroht, ständig läuft sie Gefahr, Bezugspersonen zu verlieren. Die Zuschauer*innen müssen dabei zusehen, wie die Neunjährige um die Liebe und Aufmerksamkeit ihrer Mutter kämpft und sich wieder und wieder die Chance auf eine liebevolle Unterbringung kaputtmacht.

Egal was ihr Umfeld versucht: Bennis Situation bleibt ausweglos – zumindest wird man dieses Gefühl nicht los. Jeder Hoffnungsschimmer wird zunichte gemacht, weil Benni entweder wieder im Stich gelassen wird oder ausrastet. Als Zuschauer*in schwankt man zwischen Mitleid, Empathie und Unverständnis – nicht nur für Benni, sondern für alle am Fall beteiligten: für die Mutter, den Erzieher Micha und die Sozialpädagog*innen.

„Systemsprenger“ zeigt die Realität

Der Film „Systemsprenger“ bildet eine Realität ab, die so in Deutschland stattfindet – aber von der restlichen Gesellschaft in der Regel erst wahrgenommen wird, wenn es zu spät ist: Wenn diese Kinder und Jugendlichen als Erwachsene straffällig und gewalttätig werden.

Der Anteil an Systemsprengern in der Heimerziehung liegt laut Dr. Menno Baumann bei etwa fünf bis sieben Prozent. Der Pädagoge begleitete die Entstehung des Films als Experte. Er bestätigt, dass Regisseurin Nora Fingscheidt so akribisch recherchiert hat, „dass fast jede einzelne Szene sich irgendwo in Deutschland genau so abgespielt hat.“

Ein System zu sprengen ist nicht schlimm

So lässt Fingscheidt ihre Zuschauer*innen an dem unbekannten Phänomen „Systemsprenger“ teilhaben und schafft es damit, Verständnis für Kinder wie Benni zu wecken. Denn ihre Perspektive ist keine hoffnungslose: Sie stellt Systemsprenger nicht als per se schlimm dar, sondern als „Kinder und Jugendliche mit unglaublicher Kraft und Ausdauer,“ wie sie selbst sagt.

Auch Baumann gibt einen spannenden Denkanstoß. Gegenüber dem Deutschlandfunk erklärt er: Ein System zu sprengen sei nur dann schlimm, wenn man dieses System für gut halte.

So kritisiert der Film weder ein fehlerhaftes Sozialsystem, noch die unkontrollierbaren Kinder, die darin nicht klar kommen. Statt mit dem erhobenen Zeigefinger zu wedeln, animiert er die Zuschauer*innen zum Nachdenken – über ein System, das nicht für alle Menschen funktioniert. „Systemsprenger“ ist kein Film, den man sehen will. Aber einer, den man sehen muss.

Anschauen: Auf Netflix, Amazon Prime und Maxdome. Ab dem 27.02. als DVD & Blu-ray erhältlich.

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