Die beliebteste Ausrede, wenn es darum geht, den eigenen Lebensstil nicht zu ändern: „Ich würde ja gerne, aber bei mir geht das leider nicht.“ Manchmal mag das stimmen. Aber oft genug sind wir einfach nur zu bequem, um etwas zu verändern.
Angeblich fehlt die Zeit, mit dem Zug statt mit dem Flugzeug zu reisen, oder das Geld, um Bio-Lebensmitteln oder Fair-Trade-Kleidung zu kaufen. Zum Glück gibt es Menschen, die mit gutem Beispiel vorangehen. Sie zeigen mit einem Selbstversuch oder einer Challenge, dass Veränderung sehr wohl machbar ist. Sie beweisen, dass man nicht fliegen muss, um von A nach B zu kommen, oder nicht viel Geld braucht, um nachhaltiger zu leben. Dass es Spaß machen kann, Sachen anders zu machen als bisher. Und sie inspirieren andere dazu, es ihnen nachzumachen.
Wir stellen dir drei Menschen und ihre Ein-Jahres-Experimente vor, die zum Umdenken bewegen, was Mode, Mobilität und Ernährung betrifft. Und fragen die drei Pionier*innen auch gleich, was sie aus ihren Selbstversuchen gelernt haben.
Zippora Marti hat ein Jahr lang dasselbe Kleid getragen
Das Experiment: Die ökologische und soziale Bilanz von Mode ist verheerend. Für die konventionelle Produktion von einem Kilo Baumwolle werden 11.000 Liter Wasser benötigt, meist aus ohnehin wasserarmen Gebieten. Außerdem werden laut WWF insgesamt ein Viertel der weltweit verkauften Insektizide und elf Prozent der Pestizide dafür eingesetzt.
Auch die Weiterverarbeitung der Baumwolle erfolgt oft unter dem Einsatz schwer abbaubarer Chemikalien, und die meisten Kleidungsstücke, die wir im Laden kaufen, werden unter hohen Emissionskosten rund um den Globus transportiert. Wenn wir Synthetikfasern reinigen, lösen sich bei jedem Waschgang winzige Plastikteile, die letztlich im Meer landen.
Der großflächige Baumwollanbau und der Preisdruck der Textilindustrie haben zudem ökologische und soziale Folgen für die Anbau- und Produktions-Regionen und für deren Bewohner, die oft unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten. Der Fast-Fashion-Trend und unsere Konsumgewohnheiten verursachen diesen Raubbau an Natur und Menschen.
Eine Frau, ein Kleid – Minimalismus trifft Klimaschutz
Vor etwa eineinhalb Jahren beschloss Zippora Marti, dabei nicht mehr mitzumachen und weniger zu konsumieren: Die Schweizerin nahm sich vor, 2018 ein Jahr lang jeden Tag dasselbe Kleid tragen. „Erst nur für mich privat, irgendwann habe ich mich aber entscheiden, das öffentlich zu machen“, sagt sie.
So entstand das Projekt ONE: eine Frau, ein Jahr, ein Kleid (das von einem kleinen lokalen Label designt und produziert wurde). „Ich versuche, die Dinge zu reduzieren, die ich besitze“, schreibt Marti dazu auf ihrem Blog: „Weil für jeden Gegenstand, den ich kaufe, Ressourcen wie Wasser, Strom, Holz, Metall, Öl und menschliche Energie und Intelligenz benötigt werden.“
365 Tage lang postete Marti täglich ein Foto auf Instagram, Facebook und ihrem Blog, immer in ihrem schwarzen Kleid, das sie mit verschiedenen Strumpfhosen, Schals, Schuhen und Jacken kombinierte – die allerdings auch limitiert waren. Marti kaufte in ihrem Experiment-Jahr kaum etwas Neues, und wenn, dann nur Secondhand oder von nachhaltigen Marken. In den Kommentaren auf Facebook und Instagram bekam sie viel Lob, und viele Menschen fühlten sich von ihrem minimalistischen und nachhaltigen Stil inspiriert.
Hat das Experiment sie auch mal vor Probleme gestellt? „Probleme?“, fragt Marti zurück. „Ich hab das Kleid am Morgen angezogen, am Abend wieder ausgezogen, dazwischen irgendwann ein Foto gemacht und es gewaschen, wenn es schmutzig war. Da gab es keine Probleme.“
Typischste Reaktion auf das Experiment: „Viele Leute waren nach der ersten Skepsis fasziniert und wollten mehr wissen. Manche haben es mir sogar nachgemacht.“
Diesen Satz sagte sie am häufigsten: „Ja, ich wasche das Kleid!“
Was sie vermisst hat: „Meine bunten Jumpsuits, die ich im Sommer gerne trage.“
Die wichtigste Erkenntnis: „Dass es den anderen egal ist, was ich trage, und ich diesbezüglich machen kann, was ich für richtig halte.“ Heute sagt sie sogar: „Ich mache nichts mehr, weil andere sonst etwas Bestimmtes über mich denken könnten.“
Christoph Küffer ist ein Jahr lang nicht geflogen
Das Experiment: Christoph Küffer hat in seinem Berufsleben die Erde mehrfach mit dem Flugzeug umkreist, „mindestens zehn Mal“, schätzt er. Küffer ist Professor für Siedlungsökologie und Privatdozent für Pflanzenökologie, er lehrt und forscht an der Hochschule für Technik im schweizerischen Rapperswil und an der ETH Zürich. Nach der Pariser Klimakonferenz im Dezember 2015 beschloss er, 2016 auf Flugreisen zu verzichten. Um die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, müssen die weltweiten Emissionen bis 2060 auf Null reduziert werden, und Küffer konnte und wollte als Umweltwissenschaftler seine hohe persönliche CO2-Bilanz nicht länger verantworten.
Ihm war klar, dass der Verzicht nicht leicht werden würde – immerhin ging es für ihn nicht bloß darum, den Jahresurlaub künftig mit Zug statt Flug anzutreten. Küffer war und ist für internationale Projekte verantwortlich, bei denen der regelmäßige Austausch vor Ort als selbstverständlich gilt, ebenso wie der Besuch von Konferenzen im Ausland. „Die größte Herausforderung war es, wie ich meine Entscheidung kommunizieren sollte“, sagt er. Seine Lösung: Er erklärte das Ganze zu einem „Experiment“ und kündigte das auch mit einem Blogeintrag auf der Webseite der ETH an.
Umweltwissenschaften im Selbstversuch
Küffer wurde damit zum Umweltwissenschaftler, der testet, wie man persönlich mit dem globalen Umweltproblem umgehen kann. Ob Forschung und wissenschaftliche Zusammenarbeit noch funktionieren, wenn man weniger reist, stattdessen per Skype konferiert und die Feldarbeit im Ausland an lokale Forscher delegiert. „Ich habe mich selbst als Experiment verstanden, wie das zum Beispiel Mediziner seit Jahrhunderten immer wieder getan haben“, sagt Küffer. „Zum Glück bin ich kein Mediziner. Für deren gefährlichen Experimente hätte mir wohl der Mut gefehlt.“
Aber auch sein Klimaexperiment erforderte Mut: „Ich habe meinen Arbeitsalltag auf den Kopf gestellt und damit auch denjenigen vieler Kolleginnen und Kollegen stark beeinträchtigt.“ Mit der Zeit merkte er allerdings, dass man mehr zu gewinnen als zu verlieren hat, wenn man sich auf neue Möglichkeiten einlässt. Insgesamt habe er von dem flugfreien Jahr profitiert: mehr Zeit mit der Familie, höhere Produktivität, keine verlorenen Tage auf Flughäfen und in Flugzeugen, romantische Zugfahrten nach Lissabon oder Athen, spannende Treffen, Beobachtungen und Erlebnisse auf den langsamen Reisen, neue Erfahrungen im Umgang mit modernen Kommunikationsmitteln.
Selbstauferlegtes Flugverbot brachte neue Einsichten
Gleichzeitig konnte er sich in seiner Forschung stärker auf lokale Probleme konzentrieren, was ihm zu neuen Kontakten und Projekten verhalf. Sein Horizont sei durch seinen Selbstversuch nicht geschrumpft, sondern gewachsen. Ende 2016 zog er in einem weiteren Blogbeitrag eine Bilanz seines Experiments und kündigte an: „Ich werde auch im nächsten Jahr versuchen, nicht zu fliegen.“
Typischste Reaktion auf das Experiment: „Bei mir geht das leider nicht.“
Diesen Satz sagte er am häufigsten: „Uns rennt die Zeit davon.“ Küffer ist der Meinung, dass wir in unserem persönlichen Umfeld experimentieren müssen, wie wir unsere Gesellschaft, unsere Arbeit und unser Leben neu erfinden können – „und zwar ab heute, nicht nach der Pensionierung.“
Was er vermisst hat: „Die Freunde rund um die Welt, die ich nun kaum mehr treffen kann.“
Die wichtigste Erkenntnis: „Es gibt tausend Wege zu mehr Nachhaltigkeit. Der Unterschied von nachhaltigem und nicht nachhaltigem Leben ist nicht, dass das Erste weniger Spaß macht. Im Gegenteil: Nachhaltigkeit ist gesünder, spannender und ökologischer – aber man muss mehr selbst denken.“
Wie es nach dem Jahr weiterging: Küffer hat nicht aufgehört – sein Experiment läuft inzwischen im vierten Jahr. Vor Kurzem ist er allerdings zum ersten Mal wieder geflogen, von Athen zu einer Konferenz in Kairo. „Bis Athen klappte es mit Schiff und Zug, danach blieb nur das Flugzeug“, sagt er. Auf der Reise von Zürich nach Athen und zurück besuchte er eine für seine Weiterbildung wichtige Ausstellung und traf sich mit verschiedenen Kolleg*innen – und bewies so auch auf dieser Reise, dass ein Verzicht aufs Flugzeug weitgehend möglich ist.
Rob Greenfield baut ein Jahr lang sein Essen selbst an
Das Experiment: Ist es im 21. Jahrhundert noch möglich, seine Lebensmittel komplett selbst anzubauen und zu verarbeiten? Diese Frage versucht Rob Greenfield gerade zu beantworten. Im November 2018 begann der damals 32-jährige Amerikaner sein Jahr als Selbstversorger. Greenfield ist Umweltaktivist und hat schon mit ähnlichen Projekten für ein nachhaltigeres Leben geworben – etwa, indem er sich ein Jahr lang nur mit natürlich vorkommendem Wasser gewaschen oder bei einer Radtour durch die USA nur Lebensmittel gegessen hat, die von Supermärkten weggeworfen worden waren.
Sein Anbau-Experiment bezeichnete er als „extrem herausfordernd“, vor allem, weil es so viel Zeit in Anspruch nahm: 40 bis 60 Stunden pro Woche verbrachte er mit Pflanzen, Säen, Ernten und damit, seine Ernte zu verarbeiten, zu kochen und zu essen. „Mein Leben dreht sich um Lebensmittel“, sagte Greenfield. Sogar sein Salz und sein Öl gewann er selbst. Auf die Jagd ging er nicht, aber er fischte regelmäßig – das sei wichtig für den Proteinhaushalt.
Selbstversorgung als Vollzeitjob
Greenfield lebt in Florida, und bevor er sein Projekt starten konnte, musste er erst einmal herausfinden, was sich in seiner Region gut anbauen lässt. Er hat bei Bauern und Gärtnern nachgefragt, Bücher gelesen, Videos angeschaut. Über Social Media kam er mit einer Frau in Kontakt, die ihm anbot, in ihrem Garten zu wohnen, wo er sich ein kleines Haus gebaut hat, komplett mit eigener Biogasanlage, Regenwasserspeicher und Wasserfilter.
Um ihn herum lagerten in Regalen dutzende Kürbisse, Gläser voll mit fermentiertem Obst und Gemüse, getrocknete Kräuter und Früchte, Kisten mit Kartoffeln und Grapefruits und in einem Gefrierschrank Fisch sowie noch mehr Obst und Gemüse. Er unterhielt nicht nur den Garten, der an sein Haus grenzte, sondern einige weitere in der näheren Umgebung, und sammelte Früchte, Gemüse und Kräuter ein, die er andernorts in der Stadt fand – allerdings nie, ohne die Besitzer*innen eines Baums oder Gartens vorher zu fragen.
Experiment ohne viel Erfahrung gestartet
„Wenn ich etwas aussäe und ein paar Monate später einen großen Berg Essen auf dem Tisch habe, ist das für mich immer noch eine Art Wunder“, sagte Greenfield, der vor Beginn seines Projekts so gut wie keine Erfahrung mit dem Anbau von Lebensmitteln hatte. Wer mitten in einer Überflussgesellschaft beginnt, sich vollständig selbst zu ernähren, verändert seine Lebensgrundlage. Das zu bewerkstelligen, empfand Greenfield täglich aufs Neue als Erfolg – „und Erfolg macht Spaß!“
Dass sein Lebensstil nicht für jeden infrage kommt, weiß Greenfield, aber darum geht ihm auch nicht. „Was ich mache, ist extrem“, sagte er einer Reporterin von National Geographic. „Es soll die Menschen aufwecken. Fünf Prozent der Weltbevölkerung lebt in den USA und verbraucht 25 Prozent der weltweiten Ressourcen.“ Wie bei seiner vorherigen Projekten will Greenfield Aufmerksamkeit erregen. Zeigen, was möglich ist, und seine Mitmenschen zum Nachdenken anregen: Woher kommt mein Essen, wie sehr schadet es der Umwelt, was kann ich verändern?
Typischste Reaktion auf das Experiment: „Viele Menschen fühlen sich inspiriert. Nicht unbedingt dazu, all ihre Nahrungsmittel selbst anzubauen und einzulagern, aber immerhin mehr von lokalen Bauern zu beziehen.“
Was er vermisst: „Die Bequemlichkeit. Nach einem langen, harten Tag wäre es schön, nach Hause zu kommen und einfach etwas zu essen zu haben. Stattdessen muss ich etwas zubereiten und zwar aus rohen, unbearbeiteten Zutaten. Außerdem denke ich sehr oft an Brot und Olivenöl!“
Die wichtigste Erkenntnis: „Dass Lebensqualität Zeit kostet. Es kostet Zeit, gesund zu bleiben. Zu tun, was uns glücklich macht. Sich gut zu ernähren. Unsere Beziehungen kosten Zeit. Ich glaube, unsere Bequemlichkeit ist nicht gut für uns und die Erde.“
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