Vegetarismus den Tieren zuliebe – einige Menschen dürften sich hiermit identifizieren. Doch die Milchindustrie und Massenhaltung von Legehennen sind tierethisch ebenfalls problematisch. Eine neue Studie beleuchtet, wieso Vegetarier:innen das eine Tierleid nicht unterstützen, das andere aber schon.
„Die Fleischindustrie ist grausam – deshalb ernähre ich mich vegetarisch“: So lautet häufig das Argument von Menschen, die unter anderem Wurst sowie Schinken von ihrem Speiseplan streichen und stattdessen zu Milch, Käse oder Eiern greifen. Und das, obwohl auch diese Produkte meist aus der Massentierhaltung stammen.
Zwei Wissenschaftlerinnen wollten in einer qualitativen Pilotstudie wissen, woher dieses widersprüchliche Verhalten rührt. Provokativ gefragt: Wieso wollen Menschen das eine Tierleid nicht unterstützen, das andere aber schon? Schließlich werden beispielsweise in der Milchindustrie die Kühe zwangsbefruchtet, damit sie in großen Mengen Milch abgeben – und Kälber ihren Müttern entrissen. All das findet nachweislich statt. Sind die Tiere nicht mehr leistungsfähig genug, werden sie ebenfalls geschlachtet.
Das Verhalten, sich dennoch aus tierethischen Gründen vegetarisch zu ernähren, bezeichnen die beiden Forscherinnen Devon Docherty und Carol Jasper von der University of Stirling in Schottland als Käseparadox. Eine Anlehnung an das Fleischparadox – also das ethische Dilemma, Schweine und Hühner zu essen, Hunde und Katzen aber zu verhätscheln.
Käseparadox: Kognitive Dissonanz greift auch bei der Ernährung
Hier greift das psychologische Phänomen der kognitiven Dissonanz, die Menschen tendenziell versuchen zu vermeiden: das unangenehme Gefühl, das zum Beispiel durch zuwiderlaufende Wahrnehmungen oder Absichten entsteht. Etwa, indem man das eigene Haustier innig streichelt, während die Schweinebratwurst auf dem Grill brutzelt. Wird man sich der Widersprüchlichkeit bewusst, finden Menschen in der Regel Gründe, die ihrem Handeln Sinn geben sollen.
Beim Fleischparadox kann das beispielsweise das Argument sein, das Tier stamme aus einem Bio-Betrieb und habe ein „schönes Leben“ vor seinem Tod gehabt. Die eigene Widersprüchlichkeit wird so relativiert – tierethische Probleme verharmlost.
Wie die qualitative Studie durchgeführt wurde
Ähnlich – so die Annahme der Forscherinnen – muss es sich mit Vegetarier:innen verhalten, die auf Fleisch und Fisch verzichten, aber weiterhin andere tierische Produkte konsumieren. In einer kleinen, nicht repräsentativen, aber qualitativ ausführlichen Studie haben sie zwölf junge Vegetarier:innen eingehend dazu befragt, warum für sie der Konsum tierischer Produkte problematisch ist – und weshalb sie ihn trotzdem praktizieren. Ihre Forschungsergebnisse veröffentlichten sie im Fachblatt „Appetite“.
Bei den Proband:innen handelt es sich um gleich viele Frauen wie Männer in ihren 20ern. Die teils vorstrukturierten Interviews dauerten im Durchschnitt eine Dreiviertelstunde und fanden persönlich statt; drei davon wurden online durchgeführt. Bei den Teilnehmer:innen handelt es sich mehrheitlich um Europäer:innen, sie haben einen Schul- oder Universitätsabschluss, und unterschiedliche kulturelle Hintergründe, wie es heißt. Sie alle ernährten sich zum Zeitpunkt der Befragung bereits zwischen sechs Monate und 25 Jahre vegetarisch.
So begründeten die Befragten ihren Konsum von Milch, Käse und Eiern
Docherty und Jasper stellten fest, dass den Teilnehmer:innen gleichermaßen bewusst sei, welche moralischen Probleme Käse wie auch Eier mit sich bringen. Ähnlich wie Fleisch. Zwei der Teilnehmer:innen erklärten, sich wie „Heuchler:innen“ zu fühlen. Ein:e andere:r Teilnehmer:in gab zu, dass Milchbetriebe „grausam“ seien – Kälber von ihren Müttern zu trennen sei sogar verwerflicher, als das Leben der Tiere zu beenden. Diese kognitive Dissonanz ist bei den Befragten laut der Studie unterschiedlich ausgeprägt gewesen.
Die Gründe, wieso sie dennoch an tierischen Produkten festhalten, waren ebenso vielfältig. Die beiden Forscher:innen identifizierten folgende als wesentlich:
- Gesundheitsaspekte: Die Befragten gaben an, vor allem Eier wegen ihres hohen Proteingehalts und der Mikronährstoffe zu konsumieren. Milch und Joghurt wurden hingegen als unterschiedlich gesund eingeschätzt. Die meisten Proband:innen ersetzten Fleisch als Eiweißquelle durch Milchprodukte oder Eier, heißt es.
- Praktikabilität und Verfügbarkeit: Für manche Befragte sei es einfacher, ein tierisches Produkt durch ein anderes zu ersetzen. Außerdem erklärten sie, dass es vor allem außer Haus Umstände bereite, vegane Mahlzeiten zu bekommen. Auch der höhere Preis manch pflanzlicher Alternativen sei ein Argument für den Konsum tierischer Produkte.
- Geschmacksempfinden: Käse könne man, so die Befragten, bislang kaum durch pflanzliche Produkte ersetzen. Außerdem sei er ein beliebter Ersatz für Fleisch, weshalb der Verzicht schwerfallen würde.
- Soziale Außgrenzung: Sich rein pflanzlich zu ernähren sei außerdem ein soziales Problem, wie aus der Studie hervorgeht. Demnach würden Freund:innen oder Familie dem eigenen Essverhalten kritisch gegenüberstehen. Auch von Schikane berichten Teilnehmer:innen, sodass sie den Vegetarismus als Kompromiss sehen. So würde der soziale Frieden und die eigene Zugehörigkeit gewahrt. Immer noch, erklären die Proband:innen, würden Veganer:innen stigmatisiert. Gespräche über Ernährungsethik seien nur schwer bis gar nicht möglich.
Ähnliche Argumente für Vegetarismus und Fleischkonsum
Auffällig war der Studie zufolge ebenfalls, dass Teilnehmer:innen vor allem Produkte essen, deren tierische Herkunft nicht mehr so offensichtlich ist. So ist es für die Befragten moralisch oft schwieriger, Milch zu konsumieren. Bei verarbeitetem Käse hätten sie dieses Problem allerdings weniger.
Das könnte erklären, warum der Milchkonsum in westlichen Ländern zuletzt zurückgegangen war und der Käseverzehr angestiegen ist, resümieren die Autorinnen, die gleichzeitig für mehr Forschung in Sachen Käseparadox appellieren.
Den beiden Wissenschaftlerinnen zufolge rechtfertigen sowohl Fleischesser:innen als auch Vegetarier:innen mit ähnlichen Argumenten ihren Konsum. Einzig und allein das Argument, es sei „natürlich“, tierische Nahrungsmittel zu sich zu nehmen, fiel bei den Proband:innen der Studie nicht.
Quelle: Appetite
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