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Bürgerversammlung: Wie das politische Instrument funktioniert

Bürgerversammlung
Foto: CC0 / Pixabay / geralt

Eine Bürgerversammlung soll den politischen Entscheidungsprozess verbessern und Politikverdrossenheit verhindern. Hier erfährst du, was genau man unter dem Begriff versteht und wie er in der deutschen und europäischen Politik umgesetzt wird.

Deutschland ist eine repräsentative Demokratie. Das spürst du als mindestens 18jährige:r Bürger:in daran, dass du zwar politische Repräsentant:innen wählen kannst, aber nicht direkt an politischen Entscheidungen beteiligt bist. Welche Gesetze schließlich verabschiedet werden, entscheidet nicht das Volk selbst, sondern auf Bundesebene Bundestag und Bundesrat und auf kommunaler oder Landesebene das jeweilige Entscheidungsorgan.

Um das bürgerschaftliche Engagement zu fördern und Politikmüdigkeit entgegenzuwirken, empfehlen einige Forscher:innen, mehr direktdemokratische Elemente in das jetzige System zu integrieren. Bei Formen der direkten Demokratie sind die Bürger:innen von Anfang an in den politischen Entscheidungsprozess involviert, können diskutieren, Fragen stellen und zu Ergebnissen gelangen, die politische Auswirkungen haben. Eine Bürgerversammlung ist eine Möglichkeit, dies umzusetzen.

Was ist eine Bürgerversammlung?

Eine Bürgerversammlung soll den Austausch zwischen Bürger:innen fördern.
Eine Bürgerversammlung soll den Austausch zwischen Bürger:innen fördern.
(Foto: CC0 / Pixabay / StockSnap)

Im Zentrum einer Bürgerversammlung steht der Dialog zwischen gleichberechtigten Bürger:innen. Hier können Menschen unterschiedlichen Alters, Geschlechts und Berufes zusammenkommen, Argumente zu einem bestimmten Themenfeld austauschen und im Idealfall gemeinschaftlich an einer Lösung arbeiten. Wer eine solche Versammlung einberuft, kann dabei variieren.

Auf kommunaler Ebene können dies zum Beispiel Bürgermeister:innen oder Gemeinderäte sein. Aber auch Politiker:innen oder Bürger:innen selbst können eine Bürgerversammlung initiieren beziehungsweise beantragen. Die genauen Vorgaben hängen dabei von der Gemeindeordnung beziehungsweise den Regelungen des Bundeslandes ab.

Um sicherzustellen, dass alle ausreichend informiert sind, sind an den Versammlungen häufig auch unabhängige Expert:innen beteiligt. Diese klären kurz aus wissenschaftlicher Sicht über die Thematik auf. Moderator:innen sorgen dafür, dass die Diskussionsrunden reibungslos ablaufen und alle Beteiligten zu Wort kommen können.

Bei der Einladung zu Bürgerversammlungen sollten Veranstalter:innen darauf achten, dass die Teilnehmer:innen die Gesamtbevölkerung möglichst gut repräsentieren. Bei den Citizen’s Assemblies in Großbritannien wurde das britische Volk so zum Beispiel nach Alter, Ethnizität, Geschlecht, sozialem Status und Region aufgeschlüsselt. Die jeweiligen Prozentzahlen sollten dann auch möglichst mit den Teilnehmer:innen der Bürgerversammlung übereinstimmen. Dies ist in manchen Bereichen besser, in anderen weniger gut geglückt.

Ablauf einer Bürgerversammlung

Eine Bürgerversammlung verläuft in der Regel in mehreren Runden, in denen eine bestimmte Anzahl von Teilnehmer:innen aufeinander trifft und verschiedene Bereiche eines Themenfeldes diskutiert. Davor beziehungsweise zwischendurch gibt es oft einen Input durch geladene Expert:innen oder Erklärungen der Moderation.

Ein Beispiel für eine Bürgerversammlung sind die Bürgerwerkstätten, die im Rahmen eines Pilotprojekts in Sachsen durchgeführt wurden. Die Werkstätten initiierte der sächsische Ministerpräsident mit dem Wunsch, Lösungen für lokale Probleme zu entwickeln und einer zu großen Distanz zwischen Entscheidungsträger:innen und Volk entgegenzuwirken. Die Versammlungen fanden in allen Landkreisen und kreisfreien Städten statt.

In der Regel betrug die Anzahl der Teilnehmer:innen zwischen 80 und 100. Das Besondere dabei ist, dass nur Personen geladen wurden, die in ihrer Freizeit oder nebenberuflich ehrenamtlich tätig sind. Laut der Evaluation gab es nur bedingt ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Männern und Frauen. So waren die Männer mit 57 Prozent stärker vertreten. Bezüglich des Alters waren vor allem unter 20- und 40-Jährige in der Minderheit. Im Evaluationsbericht ist vermerkt, man wolle künftig verstärkt darauf achten, auch jüngere Teilnehmer:innen anzuwerben.

Der Ablauf der Bürgerwerkstätten gliederte sich in drei Phasen:

  • In der Vorphase eröffneten die Veranstalter:innen die Versammlung formal und klärten über die Anliegen und den Ablauf der Versammlung auf. Moderator:innen und Sachverständige erhielten ein spezielles Briefing.
  • In der Hauptphase diskutierten die Teilnehmer:innen in fünf Runden. Jede Runde dauerte 30 Minuten. Die Diskussionen fanden an runden Tischen statt. Die Sachverständigen wechselten von Tisch zu Tisch, sodass jede Gruppe einmal mit jedem/jeder Sachverständigen sprechen konnte. Themen waren zum Beispiel Infrastruktur, Rahmenbedingungen des Ehrenamts, wirtschaftlicher Strukturwandel oder die Gewinnung von Fachkräften.
  • Nach der letzten Diskussionsrunde beendeten die Moderator:innen die Versammlung formal. Veranstalter:innen und Moderator:innen trafen sich anschließend zur Evaluation der Veranstaltung.

Die Ratschläge und Ideen aller 13 Versammlungen sind in einer Broschüre zusammengefasst. Diese ist online zugänglich. Die jeweiligen Ressorts der Staatsregierung überprüften, welche der Vorschläge tatsächlich auf Landesebene umsetzbar sind. Seit Ende 2019 steht es der Landesregierung frei, diese mit in politische Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Inwieweit die Ergebnisse die politische Landschaft in Sachsen prägen, wird sich wohl in Zukunft noch herausstellen müssen.

Wie politisch relevant ist eine Bürgerversammlung?

Eine Bürgerversammlung hat in Deutschland nicht die Macht, politische Entscheidungen zu treffen.
Eine Bürgerversammlung hat in Deutschland nicht die Macht, politische Entscheidungen zu treffen.
(Foto: CC0 / Pixabay / qimono)

Nach deutschem Recht ist eine Bürgerversammlung kein Entscheidungsorgan. Das bedeutet, die Ergebnisse sind rechtlich nicht bindend. Für Politiker:innen stellen sie höchstens eine beratende Funktion dar. Je nach politischer Ebene gibt es dazu jedoch Bestimmungen, die die politische Repräsentant:innen dazu zwingen, sich zumindest mit den Ergebnissen auseinanderzusetzen. In Baden-Württemberg sind Gemeindeorgane zum Beispiel verpflichtet, die Ergebnisse innerhalb von drei Monaten zu behandeln.

Für erfolgreiche Bürgerversammlung ist es jedoch wichtig, die Teilnehmer:innen vorher davon zu überzeugen, dass die Versammlung politisch relevant ist. Sonst sind Bürger:innen wohl kaum motiviert, sich freiwillig und in der Regel unentgeltlich tagelang mit politischen Themenfeldern auseinanderzusetzen.

Politiker:innen dürfen Bürgerversammlungen deshalb nicht nutzen, um bereits feststehende Entscheidungen zu legitimieren. Es muss gewährleistet sein, dass das Ergebnis der Versammlung offen ist und die Veranstaltung nicht von den Interessen einer bestimmten Partei bestimmt wird.

Bürgerversammlung: Ziele von erhöhter Bürgerbeteiligung

Ein zentrales Ziel von Beteiligungsformaten wie einer Bürgerversammlung ist es, politische Entscheidungen zu optimieren. So fließen mehr Interessen und Meinungen in die Entscheidungsfindung mit ein. Das kann nicht nur zu hochqualitativen Ergebnissen führen, sondern auch die Akzeptanz von politischen Entscheidungen in der Bevölkerung verbessern.

Weitere Ziele von Bürgerversammlungen sind:

  • Anstoßen von Debatten in der breiten Öffentlichkeit
  • Stärken der Demokratie, indem Bürger:innen demokratische Ideale nähergebracht werden
  • Wiederbelebung lokaler Gemeinschaften
  • Förderung von sozialen Kompetenzen der Beteiligten

Bürgerversammlungen außerhalb Deutschlands

Bürgerversammlungen sind mittlerweile weltweit verbreitete Formen der Bürgerbeteiligung. Zu den bekanntesten Beispielen gehören vermutlich die irischen Citizens‘ Assemblies. Im Vorhinein misstrauisch beäugt, kamen sie zu konstruktiven Ergebnissen, die den politischen Entscheidungsprozess maßgeblich beeinflussten.

So gelten die Ergebnisse einer irischen Bürgerversammlung aus dem Jahr 2012 als Wegbereiter der gleichgeschlechtlichen Ehe. Ein Thema der Assemblies im Jahr 2016 war beispielsweise eine Änderung der Abtreibungsgesetze. Wissenschaftler:innen gehen davon aus, dass vor allem die Empfehlungen der Bürgerversammlung einen großen Teil der irischen Bürger:innen dazu bewegten, für eine Liberalisierung der harten Gesetze zu stimmen.

Auch in Großbritannien gab es bereits Citizens‘ Assemblies, zum Beispiel zu den Themen Sozialhilfe oder Brexit. In Frankreich gab es im Rahmen der Grand Débat National Bürgerkonferenzen, auf denen Bürger:innen Themen wie Energiewende, Steuern und Demokratie besprachen. Auf europäischer Ebene organisiert die EU-Kommission regelmäßig Bürgerdialoge, bei denen europäische Bürger:innen mit Politiker:innen in Kontakt treten und diskutieren können.

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