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Hikikomori: Wieso sich Menschen freiwillig isolieren

hikikomori
Foto: CC0 / Pixabay / Pexels

Hikikomori sind Menschen, die sich freiwillig aus verschiedenen Gründen aus der Gesellschaft zurückziehen. Der Begriff stammt aus dem Japanischen, das Phänomen selbst tritt auch in anderen Teilen der Welt auf.

Das japanische Wort Hikikomori wird im Deutschen je nach Kontext meist mit „Rückzug“ oder „sich wegschließen“ übersetzt. Es bezeichnet Menschen, die sich über einen längeren Zeitraum in ihre Wohnung zurückziehen und soziale Kontakte aller Art so weit wie möglich meiden. Aber nicht nur die Betroffenen, sondern auch das Phänomen des Rückzugs selbst kann mit dem Begriff gemeint sein.    

Hikikomori: Was bedeutet das?

Als Hikikomori gelten Menschen, die sich sechs Monate oder länger in ihrer eigenen Wohnung isolieren.
Als Hikikomori gelten Menschen, die sich sechs Monate oder länger in ihrer eigenen Wohnung isolieren.
(Foto: CC0 / Pixabay / StockSnap)

Laut der Pharmazeutischen Zeitung definiert das japanische Gesundheitsministeriums Menschen als Hikikomori, die sechs Monate oder länger das Haus nicht verlassen und sich dabei komplett von Familie und restlicher Gesellschaft isolieren. Die Betroffenen gehen nicht mehr zur Arbeit oder zur Schule und vermeiden auch Kontakt zu engen Bezugspersonen wie Eltern, Geschwistern oder Freund:innen. Nicht selten kann sich dieses monatelange „Wegschließen“ sogar zu einem jahrelangen Rückzug ausweiten: Die Pharmazeutische Zeitung berichtete 2016, dass rund 35 Prozent der statistisch erfassten Hikikomori das Haus für mehr als sieben Jahre nicht mehr verlassen hätten.

Einer Statistik des japanischen Arbeitsministeriums zufolge galten im Jahr 2019 fast eine Million Japaner:innen als Hikikomori, so Deutschlandfunk Kultur. Damit ist diese Art der freiwilligen Selbstisolation in Japan besonders stark verbreitet. Das merkt auch die Japanologin Evelyn Schulz von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität in einem Artikel zum Thema an. Das Phänomen tritt in anderen Ländern aber ebenfalls auf, laut Schulz zum Beispiel gehäuft in Spanien, den USA, Südkorea und Indien. Zwischen 2008 und 2014 etwa hätten Ärzt:innen allein in der spanischen Großstadt Barcelona 190 Fälle solcher extremen Selbstisolation aufgezeichnet, berichtet das Wissensmagazin Spektrum

Wer ist vom Hikikomori-Phänomen betroffen?

Bei den in Barcelona erfassten Fällen handelte es sich laut Spektrum überwiegend um Patient:innen im Alter von rund 40 Jahren, die zum Zeitpunkt der Behandlung im Schnitt etwa drei Jahre in Isolation gelebt hatten. Auch in Japan sollen der Japan Times zufolge etwa 613.000 Menschen zwischen 40 und 60 Jahren Hikikomori sein. Das wäre ein höherer Anteil als in der Altersgruppe zwischen 15 und 39 Jahren, wo aber immerhin von etwa 541.000 Betroffenen ausgegangen wird.

Dieser recht hohe Anteil an Menschen im mittleren oder höheren Alter ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass Hikikomori sich oft für lange Phasen ihres Lebens zurückziehen und an ihrer Situation jahre- oder gar jahrzehntelang nichts ändern. Wenn sie schließlich doch Hilfe in Anspruch nähmen und in diesem Zug dann von der Statistik erfasst würden, seien sie häufig schon im fortgeschrittenen Alter, so Evelyn Schulz. Andererseits gäbe es aber auch Hikikomori, bei denen sich das Rückzugsbedürfnis erst in späteren Lebensjahrzehnten entwickle und die vorher keine sozialen Probleme aufwiesen.      

80 Prozent der japanischen Hikikomori sind einer aktuellen Statistik zufolge männlich, so Deutschlandfunk Kultur. Allerdings könne die Dunkelziffer weiblicher Betroffener wesentlich höher sein. Frauen seien in der japanischen Wahrnehmung ohnehin stärker mit dem häuslichen Bereich verknüpft, gibt Miho Goto, die Gründerin einer Hilfsorganisation für Hikikomori, gegenüber Deutschlandfunk Kultur zu bedenken. Dementsprechend falle es weniger auf, wenn sie das Haus kaum noch oder gar nicht mehr verließen.  

Trotz der hohen Zahlen in der Altersgruppe ab 40 aufwärts sind vom Hikikomori-Phänomen auch viele Jugendliche betroffen. In Deutschland haben etwa die Kinder- und Jugendärzte im Netz von der Problematik Kenntnis genommen und klären über die Hintergründe auf. 

Hikikomori: Warum ziehen sich Menschen selbst zurück?

Menschenansammlungen und soziale Situationen machen vielen Hikikomori große Angst.
Menschenansammlungen und soziale Situationen machen vielen Hikikomori große Angst.
(Foto: CC0 / Pixabay / aykapog)

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Hikikomori ist ein vergleichsweise neues Feld. Dementsprechend besteht noch viel Forschungsbedarf. Insbesondere bei den Auslösern und Beweggründen für die Selbstisolation sind noch Fragen offen.  

  • Psychische Erkrankungen: Eine Rolle können dabei zum Beispiel bereits vorhandene psychische Erkrankungen spielen. Die Kinder- und Jugendärzte im Netz zitieren eine Studie von Roseline Yong und Kyoko Nomura, laut derer viele untersuchte Hikikomori schon vor ihrem Rückzug in psychiatrischer Behandlung gewesen seien und etwa zu selbstverletzendem Verhalten neigten. Auch Schizophrenie, Depression, Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen oder Störungen aus dem Autismusspektrum können nach Evelyn Schulz bei Hikikomori vorliegen. Es sei allerdings nicht klar, ob solche Probleme tatsächlich der ausschlaggebende Grund für die soziale Isolation seien, oder ob es sich bei ihnen eher um eine Folge des langfristigen Ausklinkens aus dem menschlichen Miteinander handle.
  • Soziale Ängste: Probleme mit eben diesem Miteinander sind nach Einschätzung verschiedener Untersuchungen ein Hauptgrund dafür, dass sich Menschen sozial isolieren. Yong und Nomura kommen in ihrer Studie zu dem Ergebnis, dass zwischenmenschliche Schwierigkeiten eine wesentliche Motivation für die Hikikomori darstellen, soziale Kontakte zu meiden. Teilnehmer:innen der Studie hätten in einer Erhebung zum Beispiel besonders häufig Aussagen wie „Ich bin besorgt darüber, was andere über mich denken könnten“ oder „Ich kann mich nicht in Gruppen einordnen“ angekreuzt, so die Kinder- und Jugendärzte im Netz. Auch Mobbing oder familiäre Probleme können laut Deutschlandfunk Kultur ein Grund dafür sein, dass Hikikomori den Umgang – und insbesondere den Konflikt – mit anderen Menschen bewusst meiden. 
  • Gesellschaftlicher Druck: Einen weiteren bedeutenden Grund sieht Evelyn Schulz im gesellschaftlichen Leistungs- und Erwartungsdruck, den sie gerade in Japan als besonders hoch einschätzt. Schon das Schulsystem sei sehr fordernd und leistungsorientiert, im Beruf und auch im Privatleben setze sich dieser Trend dann fort. Auch außerhalb Japans kann zu starker Leistungsdruck gerade für junge Leute eine psychische Herausforderung darstellen.
  • Digitalisierung: Schließlich steht auch die immer weiter fortschreitende Digitalisierung im Verdacht, das Hikikomori-Problem zu verstärken. Schulz zufolge gelten viele Betroffene als „internetsüchtig“. Das digitale Netz mache es ihnen einfacher, realen Kontakten aus dem Weg zu gehen. 

Gibt es Wege aus der Selbstisolation?

Hikikomori kann es durch therapeutische Hilfe gelingen, ihre selbstgewählte Isolation wieder zu verlassen.
Hikikomori kann es durch therapeutische Hilfe gelingen, ihre selbstgewählte Isolation wieder zu verlassen.
(Foto: CC0 / Pixabay / PublicDomainPictures)

Obwohl das Internet zur Verschärfung der Selbstisolation beitragen kann, deutet Schulz an, dass es zugleich auch einen positiven Effekt haben könnte: Im Online-Austausch mit anderen könnten Hikikomori sich sozialen Kontakten vorsichtig wieder annähern, beispielsweise über Blogs oder Foren. Umgekehrt könnte das Internet auch Therapeut:innen oder Ärzt:innen den Zugang zu sozial isolierten Hilfebedürftigen und die Behandlung ihrer sozialen Ängste erleichtern.

Otohiko Hosaka, der Vater eines Hikikomori, berichtet gegenüber Deutschlandfunk Kultur, dass der Selbstrückzug früher von Familienangehörigen und der Gesellschaft einfach stillschweigend akzeptiert worden sei. Mittlerweile hat sich aber gerade in Japan ein anderes Problembewusstsein entwickelt und es gibt Hilfsangebote. Neben Ärzt:innen und Therapeut:innen gehören dazu auch Organisationen wie Miho Gotos Anlaufstelle für Angehörige und Betroffene oder die Non-Profit-Organisation „New Start“.    

In anderen Ländern ist das Bewusstsein für das Phänomen dagegen oft noch weniger stark ausgeprägt, obwohl die soziale Isolation auch dort zunimmt: Laut einem Bericht des Goethe-Instituts Japan vermeiden zwischen fünf und zehn Prozent der jungen Deutschen soziale Kontakte, weil sie Angst haben, von ihren Mitmenschen bewertet zu werden. Es handelt sich also – wie auch Evelyn Schulz anmerkt – längst um ein länderübergreifendes Phänomen, das vielleicht zum Nachdenken über grundlegende Probleme in der modernen Gesellschaftsstruktur und im menschlichen Miteinander anregen sollte. 

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