Der Klimawandel ist eine existentielle Bedrohung für die Menschheit, da gibt es kaum Zweifel. Doch Expert:innen glauben, dass das Artensterben mindestens so gefährlich ist. Wir sollten dieser schleichenden Krise mehr Aufmerksamkeit schenken.
Dass die Klimakrise unser Leben auf diesem Planeten zunehmend ungemütlich macht, dürfte inzwischen den meisten Menschen klar sein. Nicht nur für die vielbeschworenen Eisbären am schmelzenden Nordpol wird die Zeit knapp, die gesamte Menschheit sieht ihrem eigenen Ende ins Auge, wenn die Temperaturen weiter steigen.
Dass eine solche Gefahr auch durch eine andere, leisere Krise droht – und zwar sowohl für den Eisbären als auch für den Menschen – ist weniger bekannt. Dabei hängen beide Probleme eng zusammen: Das Artensterben bedroht die menschliche Existenz in ähnlichem Maße wie der Klimawandel. Und der Klimawandel ist eine Ursache für das Artensterben.
„Wir könnten tatsächlich den Beginn des sechsten Massenaussterbens beobachten“
Rund eine Million Tier- und Pflanzenarten sind derzeit vom Aussterben bedroht, schätzt der Weltbiodiversitätsrat IPBES. So dramatisch diese Zahl auch klingt: Die Schätzung ist zum einen eher konservativ. Zum anderen sagt sie nichts darüber, was das bedeutet, für die Ökosysteme des Planeten und letzten Endes für die Menschheit.
Die Autoren einer recht spektakulären Studie von Anfang 2022 kritisieren, dass in Berechnungen zu gefährdeten Arten viel zu wenige Spezies berücksichtigt würden. Wirbellose etwa, die rund 95 Prozent der bekannten Arten ausmachen, würden kaum einbezogen.
Die Studienautoren um den Biologen Robert H. Cowie vermuten, dass wir am Beginn eines großen Massenaussterbens stehen. Sie haben exemplarisch die Aussterberate von Weichtieren (Muscheln und Schnecken) errechnet und glauben, alles deute auf eine sehr viel höhere Aussterberate hin als bisher bekannt – ein Zeichen für das das sechste Massenaussterben. Das fünfte übrigens war das Ende der Dinosaurier.
„Wir könnten tatsächlich den Beginn des sechsten Massenaussterbens beobachten“, schreiben die Wissenschaftler. Sie sehen die Biodiversitätskrise als menschengemacht – eine unangenehme Parallele zum Klimawandel.
Auch die Nachhaltigkeits-Forscherin und Biologin Jun-Prof. Dr. Lisa Biber-Freudenberger vom Zentrum für Entwicklungsforschung an der Universität Bonn ist der Ansicht, dass das sechste Massenaussterben bereits begonnen hat. Der Unterschied zu den bisherigen fünf Massenaussterben sei, dass dieses Mal der Mensch der Haupttreiber sei und nicht, wie in der Vergangenheit, beispielsweise natürliche geologische Prozesse.
„Zum ersten Mal erleben wir, dass eine einzelne Art für das Aussterben extrem vieler anderer Arten verantwortlich ist“,
sagt die Wissenschaftlerin. Sie kennt sich aus mit dem Thema: Sie ist Ko-Autorin für einen neuen Bericht des Weltbiodiversitätsrats IPBES, der aktuell erarbeitet wird.
Kollaps von Ökosystemen
All den düsteren Prognosen und Warnungen liegt eine simple Tatsache zugrunde: Jede Spezies, die verschwindet, erhöht das Risiko für den Kollaps bedeutender Ökosysteme und damit auch für den Fortbestand der Menschheit.
Denn in den hochkomplexen Systemen der Natur existiert keine Art einfach nur für sich. Jede Spezies interagiert mit ihrem Ökosystem und mit anderen Arten, sie erfüllt eine Funktion. Die Stabilität von Ökosystemen, das ist heute wissenschaftlicher Konsens, ist von ihrer Vielfalt abhängig.
„Meistens hat das Aussterben einer einzelnen Art noch keinen sehr großen Effekt“, erklärt Biber-Freudenberger. „Andere Spezies können ihre Funktion häufig übernehmen.“ Aber: „Wenn viele Arten innerhalb von kurzer Zeit aussterben, gibt es nicht mehr genügend Arten, die sozusagen einspringen können.“ Das Ökosystem kommt aus dem Gleichgewicht.
Dass das auch gefährlich für den Menschen ist, zeigt ihr folgendes Beispiel: Wenn Ökosysteme gestört werden, kann das zum Aussterben von hochspezialisierten Arten führen, die an genau diese Umgebung angepasst waren. Dann vermehren sich oft sogenannte Generalisten – wie zum Beispiel Ratten oder Stechmücken. „Und die bringen dann auch oft Probleme mit sich, zum Beispiel weil sie Krankheiten auf den Menschen übertragen.“
Die Tatsache, dass die Forschung noch längst nicht alle Arten und erst recht nicht alle ihre Funktionen kennt, macht die menschlichen Eingriffe in die Ökosysteme nur umso gefährlicher.
Die Menschheit braucht Artenvielfalt
Ein bisschen ist das wie bei dem beliebten Geschicklichkeitsspiel mit dem Turm aus Holzblöcken: Zieht man einen Block heraus, passiert noch nicht viel. Man kann sogar relativ viele Blöcke entfernen, ohne, dass richtig viel passiert. Aber nach und nach wird der Turm instabiler, fängt an zu schwanken und irgendwann, wenn zu viele Teile fehlen, stürzt er ein.
Was ein solcher Einsturz – übertragen auf die Biodiversität, also der Kollaps eines oder mehrerer Ökosysteme – für die Menschheit bedeuten würde, übersteigt heute noch unsere Vorstellungskraft. Dennoch ist das eine reale Bedrohung.
Denn so wenig wir es oft wahrhaben wollen, so sehr sind wir Menschen abhängig von natürlichen Ökosystemen und Ressourcen: für Nahrung, für Wohnung, für Kleidung und so weiter.
Nehmen wir unsere Ernährung: Über ein Drittel der weltweiten Ernte ist von der Bestäubung durch Insekten und andere Tiere abhängig. Bestäuber erhöhen die Erntemenge von 87 der wichtigsten Nahrungspflanzen weltweit, schreibt die FAO. Auch viele pflanzenbasierte Medikamente hängen indirekt von der Bestäubung durch Tiere ab. Bereits heute aber nimmt die Anzahl der bestäubenden Insekten (wie beispielweise Bienen) ab.
Wenn man mal aufwendige Ideen zur Bestäubung durch den Menschen außen vor lässt, ist die Rechnung ist relativ einfach: Weniger bestäubende Insekten = weniger Ernte = weniger Lebensmittel für den Menschen.
Noch ein Beispiel: Für rund 3,3 Milliarden Menschen weltweit – 40 Prozent der Menschheit – ist Fisch die Hauptproteinquelle (FAO). Zugleich braucht rund ein Viertel aller Meereslebewesen – darunter über 4.000 Fischarten – Korallenriffe zum Überleben (EPA).
Korallen aber sind durch die Erwärmung und Versauerung der Meere extrem gefährdet. Weltweit werden Korallenbleichen beobachtet, sprich: Korallenriffe sterben ab. Mit den Korallenriffen geht die Lebensgrundlage für viele Fischarten und damit auch für viele Menschen verloren. Zugleich können die Riffe dann die Küsten nicht mehr schützen, etwa vor Sturmwellen, Tsunamis und Erosion.
Ähnliche Szenarien lassen sich etwa für das sensible Ökosystem der Mangroven aufstellen oder für wichtige Bodenorganismen. So kann das Verschwinden weniger Arten riesige Ökosysteme massiv stören und damit auch die Existenz vieler Menschen bedrohen.
Und übrigens betrifft das nicht nur Menschen, für die Korallen oder Mangroven vor der Haustür liegen: „Der große Anteil der Bevölkerung in Deutschland ist zwar meistens nicht so direkt von unseren Ökosystemen hier abhängig wie Menschen in anderen Gegenden der Welt, die etwa unmittelbar auf Fischbestände oder Bodenfruchtbarkeit angewiesen sind“, so Biber-Freudenberger.
„Aber wir dürfen uns da nicht täuschen: Wir sind genauso abhängig von der Biodiversität. Nur nutzen wir oft die Biodiversität und Ökosysteme von woanders.“
Wie lange noch bis zum Kollaps?
Dramatisch heißt es in der eingangs erwähnten Studie von Cowie & Co., das große Massenaussterben könne „sogar innerhalb eines oder weniger Jahrhunderte passieren.“
Seriös lässt sich allerdings heute kaum vorhersagen, wie lange wir noch haben, bis bestimmte Ökosysteme aufgrund des Artensterbens kollabieren, sagt Biber-Freudenberger. „Es gibt zwar Szenarien. Diese basieren aber immer auf bestimmten Annahmen. Das Ökosystem der Erde ist extrem komplex, noch viel komplexer als das Klimasystem. Es gibt hier noch viel mehr unterschiedliche Treiber als beim Klimawandel, also zum Beispiel Landnutzung, Verschmutzung, Klimaveränderungen.“ Auch wenn Rechnungen mit so vielen Variablen und Unbekannten fast unmöglich sind: Ein verheerendes Ergebnis ist einigermaßen sicher, wenn sich der Trend nicht umkehrt.
Wie der Kollaps eines Ökosystems aussehen kann, können viele Menschen in Deutschland vor ihrer Haustür sehen: „Die meisten der bei uns noch vorhandenen Wälder erfüllen heute nicht mehr die Funktionen, die sie einmal erfüllt haben“, so Biber-Freudenberger. Sie haben einen wirtschaftlichen Zweck, aber „sie tragen nicht mehr in dem Maße zur Klimaregulierung, Biodiversität oder Wasserspeicherung im Boden bei, wie es naturnahe Wälder tun. In diesem Sinne sind viele Wälder hier schon kollabiert.“
Warum wir Klimawandel und Artensterben zusammen betrachten müssen
Das macht überdeutlich, dass der Mensch auf vielerlei Weise zur Krise der Artenvielfalt beiträgt. Er jagt und tötet Tierarten bis an den Rand des Aussterbens oder darüber hinaus – Elefanten, Nashörner oder manche Robbenarten etwa. Vor allem aber geraten heute immer mehr Arten dadurch in Bedrängnis, dass ihre Lebensräume verschwinden, meistens zugunsten der menschlichen Nahrungsmittelproduktion. Zugleich belasten hochgiftige Chemikalien aus Landwirtschaft und Industrie Böden und Gewässer, unser Müll kommt noch dazu.
Mehr lesen: Artensterben: Das sind die wichtigsten Ursachen
„Der Mensch ist die einzige Spezies, die in der Lage ist, die Erde in großem Maßstab zu verändern, und er hat die gegenwärtige Krise zugelassen“,
heißt es bei Cowie. Die wohl größte menschengemachte Veränderung der Erde, die Klimakrise, bedroht auch die Artenvielfalt. Meere werden wärmer, Wüsten breiten sich aus, viele Gegenden der Erde werden trockener, andere häufiger überflutet. Mit der Geschwindigkeit dieser Veränderungen können viele Spezies nicht mithalten.
„Wir müssen Klimakrise und Biodiversitätskrise viel stärker zusammen sehen“, glaubt Forscherin Biber-Freudenberger.
„Wir kriegen keinen echten Klimaschutz hin, wenn wir nicht auch die Biodiversität schützen.“
Die Expertin hält beide Krisen für gleich gefährlich für den Fortbestand der Menschheit. Sie fordert, dass bei politischen Entscheidungen deren Auswirkungen auf die Biodiversität mitgedacht werden müssen. Der Erhalt der Artenvielfalt müsse einen viel höheren Stellenwert bekommen. „Wenn Arten weg sind, sind sie weg. Das Artensterben ist unumkehrbar.“
Können wir etwas tun?
Um möglichst viele Arten zu schützen, braucht es klassische Naturschutzstrategie wie mehr effektive Schutzgebiete. Besonders wichtig ist das für Tiere oder Pflanzen, die es nur in ganz bestimmten Gegenden gibt, etwa auf Inseln. Nur, wenn menschliche Aktivitäten wie Jagd und Landwirtschaft verbannt oder reduziert werden, haben manche Arten eine Chance zu überleben.
Vereinzelt können dann auch Wiederansiedelungen von Arten gelingen, die in bestimmten Gegenden bereits verschwunden waren – eine beliebte Erfolgsstory ist etwa die der Wölfe im Yellowstone Nationalpark in den USA, deren Wiederansiedelung in den Neunzigern dazu beitrug, das Ökosystem wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Gleichzeitig ist auch mehr Forschung nötig, um Arten zu identifizieren und die komplexen Zusammenhänge in den Ökosystemen der Erde zu verstehen. Die Forscher um Robert H. Cowie fordern eine „präventiven Archäologie“: Wissenschaftler:innen sollen „so viele Arten wie möglich sammeln und dokumentieren, bevor sie verschwinden“. Das Earth Genome Project etwa hat sich das Ziel gesetzt, die Genome aller bekannten Tier- und Pflanzenarten zu sequenzieren und zu katalogisieren.
Langfristige Erfolge im Artenschutz hängen aber auch davon ab, dass die Menschheit aufhört, den Planeten zu verschmutzen – es braucht weltweit dringend strengere Gesetzgebungen und Kontrollen zu Landnutung, zum Einsatz von Chemikalien sowie Strategien zur (Plastik-)Müllvermeidung.
Das heißt aber nicht, dass wir uns zurücklehnen und darauf warten sollten, dass Politik und Wirtschaft in die Pötte kommen. Wir alle tragen durch unsere Konsumentscheidungen und Verhaltensweisen dazu bei, dass Eingriffe in die Natur Lebensräume gefährden oder dass sich das Klima weiter erhitzt. Darum haben wir auch die Macht, durch unsere Entscheidungen positiven Wandel voranzutreiben.
„Wir müssen jetzt handeln, bevor noch mehr Arten verschwinden“, sagt Biber-Freudenberger. „Wenn wir nichts tun, wird es viel teurer werden als wenn wir jetzt etwas tun.“
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