Reisen ohne Flugzeug – ist das überhaupt noch vorstellbar, wenn man etwas von der Welt sehen will? Und vielleicht sogar übers Meer muss? Unsere Autorin Nadja Schlüter hat sich die Zeit genommen, es herauszufinden. Und dabei viel über die Kunst des Unterwegsseins gelernt. Ein Erfahrungsbericht.
Manchmal wirkt Europa sehr klein. In wenigen Stunden kann man mit dem Flugzeug überall sein. So betrachtet, liegen Warschau, Rom, Madrid, Berlin und Stockholm dicht gedrängt nebeneinander. Aber man kann dieses zusammengeschobene Europa wieder aufrollen und weit und groß werden lassen: indem man aufs Flugzeug verzichtet. Ich finde, das ist ein gutes Argument für das Reisen über Land – mal ganz abgesehen davon, dass es umweltfreundlicher ist.
Natürlich ist mir klar, dass Urlaubsreisen niemals klimafreundlich sein können, weil sie verzichtbar sind. Und es ist auch nicht so, dass ich nie mehr in ein Flugzeug steigen werde. Aber innerhalb Europas und vor allem, wenn ich die Zeit dafür habe, will ich wenigstens diesen kleinen Verzicht leisten.
Darum haben mein Freund und ich Anfang 2019 beschlossen, im Sommer von Brüssel aus ins Baltikum zu reisen, ohne Flugzeug. Alle anderen Verkehrsmittel waren erlaubt: Bus, Zug, Auto, Schiff. Rückblickend kann ich das nur empfehlen. Auf jedem Schritt der Reise, bei der Planung angefangen, lernt man etwas. Darüber, wie Reisen funktioniert und wie nicht. Was gut läuft und was falsch. Wie weit Strecken wirklich sind, und wer auf ihnen unterwegs ist.
Die Planung: erst leicht, dann knifflig
Der Anfang war leicht: Unser erstes Ziel sollte Vilnius sein, und die Zugverbindung in die litauische Hauptstadt führte nur über Weißrussland, wofür man ein Visum brauchte. Also blieb der Reisebus. Das hieß: Mit dem ICE nach Berlin, kurz Freunde treffen, dann in den Nachtbus. Nach ein paar Tagen in Vilnius würden wir ein Auto mieten und von dort zur Kurischen Nehrung, durch Lettland, auf eine estnische Insel, in einen Nationalpark und nach Tallinn fahren.
Dann wurde es schwieriger. Wenn wir nicht die gleiche Strecke zurückfahren wollten, mussten wir übers Meer. Also erstmal mit der Fähre von Tallinn nach Helsinki übersetzen. Von dort gab es die Option, über die Ostsee bis Travemünde zu fahren.
Erst fanden wir die Idee ganz lustig, dann sahen wir die Reisezeit und die Preise: 30 Stunden, 200 Euro aufwärts pro Person. Dazu kam der Gedanke: eine halbe Kreuzfahrt? Ist das nicht fast genauso schlimm wie fliegen? Mein Freund wurde kurz schwach und suchte Flugverbindungen von Helsinki nach Brüssel: viereinhalb Stunden, teilweise für unter hundert Euro. Was wieder mal zeigte, dass da irgendwas nicht stimmen kann: Fliegen ist wirklich erschreckend günstig.
Ich blieb stur und recherchierte weiter. Letztlich war die Lösung eine Überfahrt von Helsinki nach Stockholm (immerhin nur eine Nacht auf dem Schiff), zwei Nächte dort, dann mit dem Zug nach Kopenhagen, mit dem Nachtzug nach Hamburg und über Köln zurück nach Brüssel.
Während der Planung habe ich eine Sache vermisst, die mir wie eine sehr gute Geschäftsidee vorkam: eine einzige App für Reiseverbindungen in Europa. Egal von wo nach wo, egal in welchem und in welches Land. In der man einstellen kann, welche Verkehrsmittel man nutzen will, und ob die Verbindungen nach Zeit oder Preis geordnet angezeigt werden sollen. Sämtliche Tickets muss man natürlich auch darüber buchen können. Das hätte vieles leichter gemacht.
Kleine Philosophie des Unterwegsseins
Die meisten, denen ich von dem Plan erzählte, lachten und sagten so etwas wie: „Haha, da ist ja wirklich mal der Weg das Ziel!“ Aber ich liebe den Zustand des Unterwegsseins wirklich. Ich kann selten besser entspannen als im Zug oder Bus, weil man zum einen festsitzt und nicht viel mehr machen kann als lesen, schreiben, schlafen (im Gegensatz zum Flugzeug aber auch ab und an rumlaufen und manchmal sogar aussteigen). Zum anderen ist diese faule Zeit nicht unproduktiv, weil man vorwärts kommt. Man hält inne und bewegt sich gleichzeitig.
Ich will aber nicht schönreden, dass es auch nerven kann. Die Busfahrt nach Vilnius war angenehm, aber dass wir zwei Mal jeweils eine Stunde festhingen (einmal nahe der weißrussischen Grenze wegen einer ausgedehnten Passkontrolle, einmal ohne Grund an einer Raststätte), eher nicht.
Die Nacht auf dem Schiff, Innenkabine unterm Autodeck, fand ich recht beklemmend. Und die Zeit im Nachtzug von Kopenhagen nach Hamburg hatte ich mir entspannt vorgestellt, aber leider war der dänische Zug ein Dieselfahrzeug, das sehr viel Krach machte (und vermutlich auch sehr viel Dreck), und die Sitze waren sehr unbequem. Geschlafen habe ich fast gar nicht.
Im Bus sind andere Menschen unterwegs als im Flieger
Trotzdem ist es nicht so, dass ich wegen der vielen Fahrerei am Ende nicht erholt gewesen wäre. Im Gegenteil, ich fühlte mich sogar sehr erholt. Und spannend war es auch. Nicht nur wegen der tollen Städte, die wir besucht, und der unfassbar schönen Natur, die wir gesehen haben. Sondern auch wegen der Menschen, die man trifft, wenn man über Land reist. Im Flugzeug sieht man gefühlt immer den gleichen Schlag: Geschäftsreisende und Leute aus der Mittelschicht, die Urlaub machen, in meinem Fall also: meine eigene Blase.
Bei der Reise übers Land mischen sich die Menschen und ihre Reisegründe viel grundsätzlicher. Im Bus fahren auch Arbeitsmigranten, die ihre Familien besuchen wollen. Im Nachtzug die Interrail-Jugendlichen, die ihre Ferien oder die Zeit nach der Schule nutzen. Auf dem Schiff über die Ostsee eine lustige Mischung aus Partylöwen, die den – im Vergleich zu Finnland und Schweden – günstigen Alkohol wegsaufen und Karaoke singen; Reisegruppen-Rentnern; Menschen mit Geld, die sich eine Luxuskabine buchen und über den Service im bordeigenen Burgerladen meckern; und denen, die, wie wir, einfach nur auf die andere Seite dieses kleinen Meers wollen und in ihren tristen C-Klasse-Kabinen zwischen Autodeck und Maschinenraum vor sich hin dösen.
Vor allem bekommt man aber eben dieses unglaublich gute Gefühl dafür, wie weit die Wege sind. Auf der Karte sehen sie oft so kurz aus, und mit dem Flugzeug fühlen sie sich auch so an. Sobald man sich auf Rädern fortbewegt, ist die Weite zurück. Ebenso wie die Erkenntnis, dass es zwischen Start und Ziel sehr viel Schönes, aber auch eine Menge Trostloses zu sehen gibt, über das man mit einem Flieger einfach hinwegbraust.
Fazit: Das waren die Emissionen der Reise
Natürlich wollte ich am Ende auch wissen, wie viel Emission ich jetzt eigentlich eingespart hatte. Laut Atmosfair erzeugt ein Flug von Brüssel nach Vilnius und zurück pro Person etwa 980 Kilogramm, also knapp eine Tonne CO2. Mit einem Emissionsrechner habe ich kalkuliert, wie viel CO2 ich auf meiner Reise produziert habe:
- Zug von Brüssel nach Berlin: ca. 40 kg CO2
- Bus von Berlin nach Vilnius: ca. 30 kg CO2
- Mietwagen: ca. 215 kg CO2
- Schiff von Helsinki nach Stockholm: ca. 280 kg CO2
- Zug von Stockholm nach Brüssel: ca. 85 kg CO2
Am Ende komme ich auf 650 kg CO2 und eine Ersparnis von 330 kg. Im ersten Moment finde ich das erschreckend wenig. Aber es ist natürlich besser als nichts. Beziehungsweise: Nur nichts wäre noch besser gewesen.
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