Diverse Skandale haben Zweifel am Prinzip der CO2-Kompensation geweckt. Macht es überhaupt Sinn, dass Verbraucher:innen und Unternehmen ihre Emissionen ausgleichen? Utopia hat mit diversen Expert:innen gesprochen und liefert Antworten auf wichtige Fragen.
Sowohl Unternehmen als auch Privatpersonen nutzen freiwillige CO2-Kompensation, um die von ihnen verursachten Treibhausgase auszugleichen. Eine Recherche der Zeit und des Guardian weckte neue Zweifel an diesem Prinzip: Diese haben Regenwaldschutzprojekte des weltweit führenden Zertifizierers von CO2-Kompensationen Verra unter die Lupe genommen und dabei unter anderem Studien neu ausgewertet. Das Ergebnis: Mehr als 90 Prozent der Zertifikate der untersuchten Projekte sollen keinerlei CO2 einsparen.
Schon zuvor hatten Recherchen Zweifel an dem Prinzip der CO2-Kompensation und den Organisationen dahinter geweckt. Die Zeit hatte zum Beispiel mehrmals Aussagen und Versprechungen der Baumpflanzorganisation Plant for the Planet widerlegt.
Utopia hat mit Expert:innen des Umweltbundesamts, des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie und des Öko-Instituts über die Vorwürfe gegen Verra gesprochen. Sie erklären, wo die Schwächen bei Kompensation durch Waldschutz-Projekte liegen – und geben Tipps für Verbraucher:innen, die den Klimaschutz unterstützen wollen.
Warum sollen Zertifikate aus Verra-Waldschutzprojekten wertlos sein?
Verra verwaltet den bekannten Verified Carbon Standard (VCS), einen weit verbreiteten Standard zur Zertifizierung von CO2-Emissionsreduktionen. Die Zeit und der Guardian erheben in ihrer Recherche schwere Vorwürfe gegen Verra. Zahlreiche Waldschutzprojekte des führenden Zertifizierers auf dem Markt sollen demnach ihren Beitrag zum Klimaschutz vielfach überschätzt haben. Erhebliche Teile der CO2-Zertifikate, mit denen Unternehmen weltweit ihre Emissionen kompensieren, wären demnach wertlos.
Wie kann das sein? Die betroffenen Projekte haben nicht etwa Bäume gepflanzt, sondern Wälder geschützt. Um den Nutzen fürs Klima zu berechnen, erstellen die Waldschutzorganisationen gemäß Verra-Regelungen Prognosen darüber, wie viel Entwaldung sie verhindern werden. Diese Prognosen werden von einer von Verra zugelassenen dritten Partei überprüft. Auf Basis dieser Daten werden CO2-Zertifikate erstellt, die Unternehmen und Privatpersonen kaufen können, um ihre Emissionen auszugleichen. Das Problem: Laut Zeit wurde die Bedrohung der Wälder bei den Verra-Projekten im Durchschnitt um 400 Prozent zu hoch eingeschätzt. Wird im Vorhinein mit einer zu hohen Abholzungsrate gerechnet, werden ungerechtfertigt hohe Emissionsminderungen zertifiziert und vermarktet.
Sind Zertifikate empfehlenswert, die aus Regenwaldschutzprojekten generiert werden?
Maßgeblich ist also die Frage: Würde ohne ein bestimmtes Projekt eine CO2-Senke wie ein Wald zerstört oder in seiner Funktion eingeschränkt? Jens Teubler vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie betont: „Das ist sehr viel schwerer zu beantworten als zum Beispiel die Frage, welche fossilen Energieträger in einem nationalen Energiemix durch PV- und Windenergieanlagen verdrängt werden.“
Aus diesem Grund raten viele NGOs und Expert:innen davon ab, den Schutz von Wäldern für Zertifikate zu verwenden. Auch das Umweltbundesamt erklärt auf unsere Anfrage, sogenannten „avoided emissions“ – so der Fachbegriff für die Methoden, die Zeit und Guardian bei Verra kritisieren – kritisch gegenüberzustehen.
Die Zeit schätzt, dass 90 Prozent der Regenwald-Kompensationsgutschriften wertlos fürs Klima sind. Ist das realistisch?
„Ja, das ist realistisch für Gutschriften aus dem Schutz von Wäldern“, erklärt Teubler vom Wuppertal Institut. „Es wird seit vielen Jahren die mangelnde Transparenz bei Klimaschutzzertifikaten kritisiert.“ Er verweist auf weitere Unklarheiten: Rechnet sich nur die Käufer:in die eingesparten Emissionen an? War die Finanzierung notwendig für den Effekt?
Stefanie Rother vom Umweltbundesamt erwähnt weitere grundlegende Probleme – zum Beispiel sicherzustellen, dass negative Auswirkungen der Schutzprojekte auf Anwohner:innen und Umwelt ausgeschlossen werden. Sie betont: „Die in den Artikeln geäußerte Kritik an diesen Waldschutzprojekten kann nachvollzogen werden. Der freiwillige Kohlenstoffmarkt ist jedoch breit und dynamisch angelegt, sodass damit nicht alle Anbieter, Standards und Projekttypen zu verurteilen sind.“ In der Branche finde eine interne Diskussion über Qualitätskriterien statt, an der sich auch das Umweltbundesamt beteilige.
Lambert Schneider vom Öko-Institut verweist auf andere Analysen und Literatur, die darauf hinweisen, dass es massive Probleme mit der Integrität der Zertifikate gibt. Wie sehr die Emissionsminderungen überschätzt werden, dazu gibt es unterschiedliche Schätzungen. Die Organisation Silverra geht davon aus, dass 70 Prozent der Zertifikate keine Qualität haben. Andere Studien schätzen 94 Prozent.
Was muss sich ändern?
Zertifikate aus Waldschutzprojekten stehen also zurecht in der Kritik. Das schwächt das Vertrauen in die freiwillige CO2-Kompensation. Wie könnte man es besser machen?
Laut Teubler vom Wuppertal Institut bräuchte es andere Finanzierungsmöglichkeiten für Waldschutzprojekte. Er könne sich einen Portfolio-Ansatz vorstellen, bei dem ein bestimmter Prozentsatz der Erlöse von Unternehmen in den Schutz von Wäldern fließt, aber nicht zur Anrechnung negativer Emissionen herangezogen wird. Generell fände der Experte es sinnvoll, wenn Unternehmen den größten Teil ihrer direkten und energiebedingten Emissionen zunächst vermeiden, reduzieren oder direkt substituieren – anstelle sie zu kompensieren.
Das Umweltbundesamt plädiert dafür, den Umgang mit CO2-Gutschriften und der entsprechenden Kommunikation zu ändern. Derzeit kompensiert man, um private Emissionen oder die eines Unternehmens auszugleichen. Das Amt schlägt vor, die gesparten Emissionen stattdessen als Beitrag zu den Klimazielen des Landes zu zählen, in dem das Kompensationsprojekt stattfindet. Ein Unternehmen würde dann zum Beispiel damit werben, einen finanziellen Beitrag zum Klimaschutzziel des Projektlands in Höhe der auszugleichenden Emissionen geleistet zu haben.
„Damit umgeht man das Problem einer Doppelzählung und die Gefahr, statt eines Reputationsgewinns am Ende für eine Kompensation ohne echten Mehrwert kritisiert zu werden“, erklärt Rother vom Umweltbundesamt. Es gibt schon Bestrebungen, Klimaschutzprojekte mit dieser Kommunikation anzubieten. Der Gold Standard, ein weiterer Kompensationsstandard, weist solche Kompensationen zum Beispiel als „Impact Claim“ aus. Die Kritik an Verra zeige Rother zufolge auch, dass der freiwillige Markt robuste Kriterien (zum Beispiel Monitoring und Reporting) benötige – andernfalls könne Greenwashing betrieben werden.
Ist es überhaupt sinnvoll, dass Unternehmen und Verbraucher:innen freiwillig CO2 kompensieren?
Die Antworten der Expert:innen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Ja, aber mit Einschränkungen.
Schneider vom Öko-Institut betont, dass eine Kompensation grundsätzlich nur dann sinnvoll ist, wenn die Emissionen nicht vermieden werden können. Solche unvermeidbaren Emissionen wird es immer geben, davon ist auch Teubler vom Wuppertal Institut überzeugt. Er hält den Ankauf von Klimaschutzzertifikaten durch Unternehmen für legitim und sinnvoll – vor allem wenn es darum geht, die Emissionen zu kompensieren, die entlang der Wertschöpfungskette entstehen, also zum Beispiel durch Lieferanten.
Auch Rother vom Umweltbundesamt ist überzeugt, dass freiwillige Kompensation zum Klimaschutz beitragen kann – wenn sie sich auf unvermeidbare Emissionen beschränkt. Das hat verschiedene Vorteile: Zum Beispiel fließen so regelmäßig Gelder in Klimaschutzprojekte in Entwicklungsländern, die vor Ort neben der Schaffung von Arbeitsplätzen auch weitere positive Effekte wie beispielsweise bessere Luftreinhaltung haben. „Durch die Förderung einer klimaschonenden Wirtschaftsweise wird zu einer nachhaltigen Entwicklung beigetragen“, folgert die Expertin.
Wie können Verbraucher:innen seriöse Kompensationsprojekte erkennen?
„Eine wesentliche Erkenntnis unserer Analysen ist, dass es nicht den einen guten Standard gibt,“ erklärt Lambert Schneider vom Öko-Institut. „Der Gold Standard ist zum Beispiel am besten, wenn es darum geht, dass Projekte keine negativen sozialen Wirkungen haben. Die Climate Action Reserve schneidet am besten ab, wenn es darum geht, bei Waldprojekten eine Kohlenstoffspeicherung langfristig sicherzustellen.“ Dazu kommt, dass sich Standards auch nach Projekttypen unterscheiden. Laut Schneider werden die Emissionsminderungen durch effiziente Kochherde sehr überschätzt, aber die Projekte haben eine hohe positive soziale Wirkung.
Sein Institut kann deshalb keinen Standard speziell empfehlen. Eine bessere Übersicht liefert aber ein Scoring-Tool der Carbon Credit Quality Initiative, die das Öko-Institut zusammen mit zwei NGOs gegründet hat. Hier können Verbraucher:innen Informationen zu CO2-Projekten eingeben (zum Beispiel Art des Projekts, Standard, Land der Umsetzung) und erhalten eine Einschätzung zur Qualität der Zertifikate.
Teubler vom Wuppertal Institut empfiehlt außerdem, auf Empfehlungen unabhängiger Stellen zu achten. Das Umweltbundesamt hat 2018 eine Broschüre herausgegeben und empfiehlt darin unter anderem, sich an Qualitätsstandards zu orientieren, die Mindestanforderungen für den Klimanutzen erfüllen. Zu diesen zählte das Umweltbundesamt 2018 allerdings auch den VCS-Standard von Verra.
Das Umweltbundesamt hat gegenüber Utopia versichert, den Ratgeber zu freiwilliger CO2-Kompensation ausführlich zu aktualisieren. Im Zuge dessen will das Amt auch die Frage des Erfüllens von Mindestanforderungen an die Wahrung der Klima-/Umweltintegrität kritisch beleuchten. „Beim damaligen Erstellen des Ratgebers wurden die Standards allgemein in einer Matrix untersucht, keine einzelnen Projekte oder einzelnen Methodologien“, erklärt Rother.
Worauf kann man außerdem achten?
Teubler vom Wuppertal Institut stellt klar, dass der Ausgleich von Emissionen vorrangig für Staaten relevant sei. Er rät Unternehmen und Verbraucher:innen, direkt Klimaschutzprojekte und Projekte zum Erhalt von Ökosystemen zu unterstützen. Hier könne oft eine größere Wirkung erzielt werden als durch den Erwerb von Klimaschutzzertifikaten, die eher eine „buchhalterische“ Funktion haben. „Da könnte eine Spende an den lokalen Naturschutzverein sogar effektiver sein“, urteilt der Experte.
Wenn Verbraucher:innen kompensieren, sollten sie darauf achten, dass sie den Ausgleich nicht „überkompensieren“, indem sie in anderen Bereichen mehr bzw. klimaschädlicher konsumieren. Wer zum Beispiel beim Fliegen kompensiert und deshalb mehr fliegt, schadet dem Klima in der Regel mehr. Zu klären, wie verlässlich Zertifikate sind, ist Teublers Meinung nach Aufgabe von Politik, Wissenschaft und Unternehmen.
Das Umweltbundesamt setzt auf Emissionsminderungen, die aus Projekten mit dem Prüfmechanismus der UN stammen. Rother betont die Vorteile: „Hier sind prüfende Institutionen haftbar und die Aufsicht erfolgt durch UN-Gremien. Zudem sind die Projektprüfungen einsehbar.“
Die Weltwirtschaft hat sich in Sachen Klimaschutz in den letzten Jahren sehr auf den Zertifikatehandel konzentriert. War das ein Fehler?
„Ich halte es immer für einen Fehler bei der Frage des Klimaschutzes auf einzelne Lösungswege zu vertrauen“, erklärt Teubler vom Wuppertal Institut. „Es wird, zumindest in den nächsten Jahrzehnten, keine technischen Innovationen, politischen Ideen oder marktwirtschaftlichen Konzepte geben, die uns alleine aus der Misere holen.“
Dem Experten zufolge werden wir stattdessen auf die Kombination einer Vielzahl unterschiedlicher Maßnahmen durch unterschiedliche Akteure der Gesellschaft angewiesen sein, von der Konsum- und Mobilitätswende, über „Just Transition“, CO2-Preise, „Air-Capture“, Kreislaufwirtschaft, und die nachhaltige Transformation von Gewerbe und Industrie. „Klimaschutzzertifikate können hierbei eine wichtige Schlüsselfunktion einnehmen, weil sie eine ausgleichende Wirkung haben. Persönlich würde ich jedoch andere Maßnahmen priorisieren.“
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