Früher traf man sich mit Bekannten, um einen lustigen Abend bei einem gemeinsamen Essen zu verbringen. Heute ist das komplizierter, weil viele Gäste auf irgendetwas verzichten möchten, etwas nicht zu vertragen scheinen. Haben wir zu viel Angst, “das Falsche” zu essen?
Selbstverständlich weiß man um die Allergien im Freundeskreis und nimmt bei der Menüplanung auch Rücksicht auf Vegetarier:innen und Veganer:innen. Doch mittlerweile gibt es immer mehr Menschen, die kein Gluten mehr zu sich nehmen, unter einer Laktoseintoleranz leiden, keine Kohlenhydrate mehr essen, kein Fett mehr, keinen Zucker und so weiter.
Da stehen Gastgeber:innen dann mitunter frustriert und ratlos zwischen den Kochbüchern und beschließen, sich künftig mit den Freund:innen in einem Restaurant zu treffen, wo alle das Gericht auswählen können, das gerade zur momentanen Ernährungsphase passt.
Wenn Ernährung Ideologie und Neurose wird
Spaß beiseite: Essen ist heutzutage nicht mehr für jede:n nur Genuss und Freude. Für manche wird es zunehmend zu einer ernsten und anstrengenden Angelegenheit, die man fast schon als Krankheit betrachten könnte: die Orthorexie. Allerdings ist Orthorexie bislang keine offiziell anerkannte Störung. Entsprechend vorsichtig formuliert es Psychologin Friederike Barthels vom Institut für Therapie- und Gesundheitsforschung (IFT-Nord): “Ein orthorektisches Ernährungsverhalten ist definiert als eine möglicherweise pathologische Fixierung auf gesunde Ernährung.”
“Für diese gesunde Ernährung werden ganz persönliche, subjektive Maßstäbe angelegt”, beschreibt Barthels, die sich seit über zehn Jahren mit dem Phänomen beschäftigt. Tatsächlich ist das Spektrum möglicher Ernährungsweisen bei Menschen, die an Orthorexie leiden, breit gefächert: Veganer:innen können ebenso betroffen sein wie Menschen, die der “Carnivore Diät” folgen, also hauptsächlich Fleisch essen; Rohköstler:innen leiden ebenso darunter wie Menschen, die sich an der Keto-Diät orientieren. “Man wird nicht zwei Personen mit einer orthorektischen Ernährungsweise mit einer Mahlzeit glücklich machen können”, so die Psychologin.
Prinzipiell ist es eine positive Entwicklung, dass viele Menschen heute bewusster damit umgehen, was sie essen, dass sie mehr ökologisch angebaute oder regionale Produkte kaufen und auf Inhalts- und Zusatzstoffe achten oder weniger Fleisch essen, weil das eben nachhaltiger ist.
Gesund essen ist mittlerweile aber auch Hype und Lifestyle. Man definiert sich nicht mehr darüber, was man gerne isst, sondern darüber, was man nicht isst. „Essen wird zum Stilmittel. Künftig definieren wir uns über unsere Ernährung,“ lautet die provokante These der Ernährungswissenschafterin Hanni Rützler im Food Report 2016.
Orthorexie: sensible und obsessive Esser:innen
Expert:innen formulieren das etwas vorsichtiger. Sie sprechen vom „sensiblen Esser“, also von Menschen, die bestimmte Stoffe oder Lebensmittel meiden. Nicht weil sie unter einer ärztlich attestierten Allergie oder Unverträglichkeit leiden. Sondern weil sie glauben, dadurch besser oder gesünder leben zu können.
Dabei schießt der eine oder andere über das Ziel hinaus: Der Begriff Orthorexia nervosa bezeichnet eine (klinisch noch nicht klassifizierte) Essstörung, bei der die Betroffenen ein auffallend ausgeprägtes Bedürfnis haben, sich gesund zu ernähren und Lebensmittel nicht nur in gesund und ungesund, sondern beispielsweise auch in ethisch gut oder schlecht kategorisieren. “Erfunden” hat die Orthorexie der US-amerikanische Alternativmediziner Steven Bratman, der die Symptome erstmals 1997 in einem ausführlichen Artikel beschrieb.
Wer an Orthorexie leidet, für den ist die Beschäftigung mit „gesundem“ oder “richtigem” Essen im Übermaß zu einer Obsession geworden. Orthorektiker:innen verbringen extrem viel Zeit damit, Speisepläne auszuarbeiten, die ausschließlich aus Lebensmitteln bestehen, die sie als „gut“ erachten. “Objektiv betrachtet ernähren sich einige Betroffene tatsächlich sehr gesund”, erläutert Barthels. “Andere hingegen nutzen weniger seriöse Quellen, schränken ihre Ernährung zunehmend ein, sodass am Ende nur noch sehr wenige Lebensmittel gegessen werden.” Dann könne Orthorexie auch körperlich zu einem Gesundheitsproblem werden.
Im schlimmsten Fall führt diese Essstörung zu einer Mangelernährung, wenn der Speiseplan nur noch aus den wenigen erlaubten Nahrungsmitteln besteht. Teils droht auch soziale Isolation, wenn Orthorektiker:innen Einladungen und Restaurants meiden, aus Angst, etwas Falsches zu sich zu nehmen.
Nicht jede Person, die sich bewusst ernährt, leidet damit schon an Orthorexie. Und wer bestimmte Nahrungsmittel meidet, ist noch lange kein:e Neurotiker:in. Aber bei den immer neuen Ess-Trends und Verzichts-Moden stellt sich schon die Frage, ob man tatsächlich gesünder lebt, wenn man auf immer mehr Dinge verzichtet.
Warum ist Orthorexie keine offizielle Diagnose?
Orthorexie wird derzeit nicht als eigenständige Essstörung in Klassifikationssystemen wie dem DSM-5 oder ICD-10 geführt. Das liegt laut Psychologin Barthels auch daran, dass dafür nicht genügend Daten vorliegen: “Störungsbilder werden erst nach langjährigen Forschungsprozessen in den ICD-10 oder DSM-5 aufgenommen. Dafür sind viele Studien nötig, die eindeutig zeigen: Wie sind die Symptome? Wie ist die Prävalenz? Was sind Risikofaktoren? Und die haben wir für die Orthorexie einfach noch nicht.”
Ferner sei wissenschaftlich durchaus umstritten, ob es sich um ein eigenes Krankheitsbild handele: “Viele Stimmen sagen, dass es sich eigentlich nur um eine Variante bekannter Essstörungen handele, also einer Art Magersucht unter dem Deckmantel der gesunden Ernährung.” Barthels sieht indes gravierende Unterschiede etwa zur Magersucht: “Bei der Orthorexie geht es vor allem auch darum, sich zu ernähren, während bei anderen Essstörungen der Verzicht auf Nahrung im Mittelpunkt steht. Auch die Fokussierung auf ein schlankes Körperbild sehen wir bei der Orthorexie nicht zwangsläufig.”
Nichtsdestotrotz sieht Barthels sowohl Argumente für als auch gegen eine Aufnahme in entsprechende Klassifikationssysteme: Dafür spreche, dass eine offizielle Diagnose auch zur Entwicklung von Fachbüchern und Leitlinien für eine Therapie oder die Einrichtung spezieller Behandlungszentren führen würde. Dann könnten Betroffene leichter Hilfe finden.
Ebenso könnte es allerdings zu einer Pathologisierung von Verhaltensweisen kommen, die eigentlich normal seien oder nur in vorübergehenden Lebensphasen aufträten. Darüber hinaus sei eine Orthorexie etwa für Menschen mit vorheriger Magersucht vielleicht sogar eine Verbesserung: “Betroffene haben in vielen Therapien gelernt, dass Essen wichtig und gut für den Körper ist, behalten aber Kontrolle über ihr Essverhalten, indem sie sich möglichst gesund ernähren – aufgrund der hohen Sterblichkeitsrate bei der Anorexie ist es letztendlich besser, wenn die Person lernt, überhaupt etwas zu essen, selbst, wenn das zwanghaft oder sehr eingeschränkt ist.”
Wie viele Menschen sind davon betroffen?
Ohne eindeutige Diagnosekriterien ist eine Antwort auf diese Frage unmöglich. Psychologin Barthels schätzt die Prävalenz ähnlich wie bei anderen Essstörungen ein. Das hieße deutlich unter ein Prozent der Bevölkerung wären betroffen.
Für spezifische Gruppen in Deutschland – konkret: Ernährungsberaterinnen und -berater sowie sportlich aktive Studierende – haben ältere Studien teils deutlich höhere Zahlen ergeben.
Was sind Warnzeichen für eine Orthorexie?
- Exzessive Beschäftigung mit Lebensmittelauswahl
- Stark eingeschränkte Ernährung, etwa durch den Ausschluss ganzer Lebensmittelgruppen
- Soziale Isolation aufgrund der Essgewohnheiten, weil auf Essen in gesellschaftlichen Kontexten wie Familienfeiern verzichtet wird
- Schuldgefühle oder Angst nach dem Verzehr “unerlaubter” Lebensmittel
- Zeitaufwändige Planung und Vorbereitung von Mahlzeiten
“Ein weiteres wichtiges Warnzeichen ist, wenn die Ernährung das Leben dominiert, und andere Bereiche wie Freundschaften oder Hobbys vernachlässigt werden”, betont Barthels.
Gibt es Risikofaktoren oder bestimmte Persönlichkeitstypen?
Orthorexie tritt laut Barthels eher bei perfektionistischen Menschen und solchen mit einem hohen Bedürfnis nach Kontrolle auf. Auch Zwangsstörungen oder Ängstlichkeit, zum Beispiel Angst vor Krankheiten, könnten das Risiko erhöhen. “Viele Betroffene berichten, dass sie sich durch ihre Ernährung besonders diszipliniert und moralisch überlegen fühlen”, erklärt Barthels. Ebenso könnten eine frühere Essstörung oder ein hoher Stellenwert des Themas Ernährung in der Familie Risikofaktoren sein. Insgesamt entwickle sich eine Orthorexie oft schleichend, Betroffene würden mit der Zeit oft immer strenger mit sich werden.
Welche psychologischen Mechanismen stehen dahinter?
Orthorexie kann als Bewältigungsstrategie für Stress oder Unsicherheit dienen. “Das strikte Befolgen von Ernährungsregeln vermittelt ein Gefühl von Kontrolle und Sicherheit”, sagt Barthels. Ein weiterer Faktor könne Angst vor Krankheiten sein. Oft hätten Betroffene auch eine sehr perfektionistische Vorstellung davon, was Gesundheit bedeutet: “Ich muss mich jeden Tag hundert Prozent perfekt fühlen, was natürlich unrealistisch ist.”
Und schließlich werde die Bedeutung von Ernährung oft überschätzt, so die Expertin weiter: “Natürlich ist es nicht gut, wenn ich mich jeden Tag nur von Schokolade ernähre, aber wenn ich jeden Tag einen Schokoriegel esse, wird das meine Gesundheit auch nicht massiv beeinträchtigen.” Menschen mit orthorektischem Ernährungsverhalten neigten indes dazu, diesen einzelnen Ereignissen sehr große Bedeutung beizumessen.
Welche Rolle spielen soziale Medien?
Wissenschaftlich betrachtet wird die Bedeutung sozialer Medien ambivalent gesehen: So zeigen einige Arbeiten, dass Betroffene durch die Vernetzung mit anderen ein Problembewusstsein entwickeln und sich gegenseitig darin unterstützen, ihre Essstörung zu überwinden.
Daneben gibt es aber durchaus Studien, die den negativen Effekt unterstreichen, den das ständige Betrachten definierter und dünner Körper der Fitness-Influencer auf Instagram und anderen Plattformen hat. “Letztendlich werden diese aber niemanden orthorektisch machen”, sagt Barthels. Vielmehr müsse dafür eine Prädisposition vorliegen, die dann vielleicht verstärkt werde.
Welche therapeutischen Ansätze sind wirksam?
Laut Psychologin Barthels kann eine an Essstörungstherapien angelehnte Behandlung hilfreich sein sowie je nach individuellem Fall auch eine Ernährungsberatung. Dabei sei aber wichtig, nicht gegen das Wertesystem der betroffenen Person zu arbeiten: “Einem:r Veganer:in im Zuge der Beratung Fleisch zu empfehlen, ist dann nicht hilfreich.” Ebenso könnten Betroffene psychotherapeutische Entlastung brauchen, weil die Orthorexie etwa eine Reaktion auf Stressoren in ihrem Leben sei.
Letzten Endes gehe es darum, wieder einen entspannten Umgang mit der eigenen Ernährung zu finden und wieder Freude am Essen mit Freunden oder Hobbys zu finden, sagt Barthels: “Es ist ja nicht nur das Essen, was dann darüber entscheidet, wie gut es einem letztendlich geht und wie gesund man ist.”
Gewinner der Orthorexie: die Industrie
Allergien und Unverträglichkeiten treten heute scheinbar häufiger auf als früher, auch vor Fett und Zucker fürchtet man sich mehr denn je. Die Lebensmittelindustrie reagiert darauf – mit einer wahren Flut von „Frei von“-Produkten. Für diejenigen, die tatsächlich zum Beispiel an Zöliakie (Gluten-Unverträglichkeit) oder an einer Laktose-Intoleranz leiden, ist das ein großer Fortschritt.
Fakt ist aber auch, dass viele Menschen diese Produkte kaufen – obwohl sie gar nicht betroffen sind. „Rund 32 Prozent der Deutschen behaupten, an Lebensmittelunverträglichkeiten oder Allergien zu leiden. Von den restlichen 2/3 verzichten 81 Prozent freiwillig auf gewisse Lebensmittel. Unter anderem tun sie das aus dem Gefühl heraus, diese Nahrungsmittel nicht zu vertragen“, so eines der Ergebnisse von „Lebensmittelintoleranz – die Vermarktung der Angst“ einer Studie des Marktforschungsinstituts Targeted.
Größter Gewinner dieser Entwicklung ist die Lebensmittelindustrie. Die vermarktet ja schon Produkte “ohne Zusatzstoffe” – obwohl sie selbst für die vielen Zusätze in Lebensmitteln verantwortlich ist – und bedient mit “functional food” den Wunsch nach Essen, das über die Ernährung hinaus noch eine nützliche Nebenwirkung hat.
Jetzt kann sie Produkte ohne Laktose, ohne Gluten und (neu) ohne Histamin deutlich teurer verkaufen als reguläre, obwohl sie für Gesunde keine Vorteile bieten.
Sind glutenfreie und laktosefreie Produkte automatisch gesünder?
In einigen Supermärkten füllen glutenfreie Produkte ganze Regale, teilweise gibt es sogar schon so absurde Angebote wie Wasser (!) ohne Gluten. Dabei leidet nur etwa ein Prozent der Deutschen unter Zöliakie, einer Entzündung des Darms, die durch Gluten ausgelöst wird. Zöliakie-Betroffene müssen sich ihr Leben lang glutenfrei ernähren, da schon die kleinsten Mengen für sie schädlich sind. Für Gesunde bringt eine glutenfreie Ernährung dagegen keinen echten Gewinn. Obwohl Promis wie Lady Gaga dafür werben, nimmt man durch glutenfreie Produkte nicht ab, und glutenfreie Produkte weisen sogar eine höhere Anzahl an Zusatzstoffen auf, weil das Produkt durch den Wegfall von Weizen geschmacklich aufgepeppt werden muss.
Auch “laktosefrei” ist ein Megatrend. Laut GfK griffen im vergangenen Jahr 9,4 Millionen Haushalte zu laktosefreien Produkten. Davon litten nur 18 Prozent an einer Laktose-Intoleranz. Die Milchzucker-Unverträglichkeit äußert sich in starken Blähungen, Magenbeschwerden oder Durchfall, schätzungsweise sind in Deutschland davon etwa 15 Prozent der Bevölkerung betroffen. Für Menschen, die Milchzucker aufspalten können, bringt der Griff zu laktosefreien Produkten aber keine Vorteile – im Gegenteil: Da Milchprodukte die Hauptlieferanten des Mineralstoffs Calcium sind, der für die Stabilität des Knochengerüstes mitverantwortlich ist, vergrößert sich dadurch das Risiko einer Osteoporose (wobei das nicht ganz so einfach ist – siehe Milch-Mythen).
Fazit: auf Orthorexie verzichten
In Sachen Orthorexie muss man schon klar unterscheiden: Für tatsächliche Betroffene ist der Verzicht auf problematische Inhaltsstoffe wichtig und richtig. Und sich bewusst zu ernähren statt industrielle Lebensmittel unbesehen zu konsumieren, ist ebenfalls sinnvoll. Bio ist immer besser, weil es dabei nicht nur um die eigene Gesundheit, sondern auch um ökologisch verträgliche Landwirtschaft geht. Und ein bisschen veganer oder saisonaler zu leben hat auch ökologische Vorteile.
Wer aber glaubt, an einer Intoleranz zu leiden, sollte sich unbedingt von entsprechenden Fachärzt:innen untersuchen lassen. Gluten- und Laktose-Intoleranz oder andere Unverträglichkeiten (Fructose, Histamin, Allergien…) lassen sich nur durch medizinische Tests zweifelsfrei feststellen. Niemand, der gesund ist und sich ausgewogen ernährt, braucht industrielle “Frei von”-Lebensmittel, die oft mit zusätzlichen Verarbeitungsschritten weiter denaturiert wurden als ohnehin schon.
Wichtig: Wer vermutet, an Orthorexie oder anderen Essstörungen zu leiden, sollte sich unbedingt Hilfe suchen – Ärzt:innen, Therapeut:innen, Selbsthilfegruppen oder sonstige Beratungsangebote können Betroffene auf ihrem Weg unterstützen.
Mit Material der dpa.
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