Früher traf man sich mit Bekannten, um einen lustigen Abend bei einem gemeinsamen Essen zu verbringen. Heute ist das komplizierter, weil viele Gäste auf irgendetwas verzichten möchten, etwas nicht zu vertragen scheinen. Haben wir zu viel Angst, „das Falsche“ zu essen?
Selbstverständlich weiß man um die Allergien im Freundeskreis und nimmt bei der Menüplanung auch Rücksicht auf Vegetarier:innen und Veganer:innen. Doch mittlerweile gibt es immer mehr Menschen, die kein Gluten mehr zu sich nehmen, unter einer Laktoseintoleranz leiden, keine Kohlenhydrate mehr essen, kein Fett mehr, keinen Zucker und so weiter.
Da stehen Gastgeber:innen dann mitunter frustriert und ratlos zwischen den Kochbüchern und beschließen, sich künftig mit den Freund:innen in einem Restaurant zu treffen, wo alle das Gericht auswählen können, das gerade zur momentanen Ernährungsphase passt.
Wenn Ernährung Ideologie und Neurose wird
Spaß beiseite: Essen ist heutzutage nicht mehr für jede:n nur Genuss und Freude. Für manche wird es zunehmend zu einer ernsten und anstrengenden Angelegenheit, die man fast schon als Krankheit betrachten könnte: die Orthorexie.
Prinzipiell ist es eine positive Entwicklung, dass viele Menschen heute bewusster damit umgehen, was sie essen, dass sie mehr ökologisch angebaute oder regionale Produkte kaufen und auf Inhalts- und Zusatzstoffe achten oder weniger Fleisch essen, weil das eben nachhaltiger ist.
Gesund essen ist mittlerweile aber auch Hype und Lifestyle. Man definiert sich nicht mehr darüber, was man gerne isst, sondern darüber, was man nicht isst. „Essen wird zum Stilmittel. Künftig definieren wir uns über unsere Ernährung,“ lautet die provokante These der Ernährungswissenschafterin Hanni Rützler im Food Report 2016.
Orthorexie: sensible und obsessive Esser:innen
Expert:innen formulieren das etwas vorsichtiger. Sie sprechen vom „sensiblen Esser“, also von Menschen, die bestimmte Stoffe oder Lebensmittel meiden. Nicht weil sie unter einer ärztlich attestierten Allergie oder Unverträglichkeit leiden. Sondern weil sie glauben, dadurch besser oder gesünder leben zu können.
Dabei schießt der eine oder andere über das Ziel hinaus: Der Begriff Orthorexia nervosa bezeichnet eine (klinisch noch nicht klassifizierte) Essstörung, bei der die Betroffenen ein auffallend ausgeprägtes Bedürfnis haben, sich gesund zu ernähren und Lebensmittel nicht nur in gesund und ungesund, sondern beispielsweise auch in ethisch gut oder schlecht kategorisieren. „Erfunden“ hat die Orthorexie der US-amerikanische Alternativmediziner Steven Bratman, der die Symptome erstmals 1997 in einem ausführlichen Artikel beschrieb.
Wer an Orthorexie leidet, für den ist die Beschäftigung mit „gesundem“ oder „dem richtigen“ Essen im Übermaß zu einer Obsession geworden. Orthorektiker:innen verbringen extrem viel Zeit damit, Speisepläne auszuarbeiten, die sich aus den Lebensmitteln zusammensetzen, die sie für „gut“ erachten.
Im schlimmsten Fall führt diese Essstörung zu einer Mangelernährung, wenn der Speiseplan nur noch aus den wenigen erlaubten Nahrungsmitteln besteht. Teils droht auch soziale Isolation, wenn Orthorektiker:innen Einladungen und Restaurants meiden, aus Angst, etwas Falsches zu sich zu nehmen.
Nicht jede Person, die sich bewusst ernährt, leidet damit schon an Orthorexie. Und wer bestimmte Nahrungsmittel meidet, ist noch lange kein:e Neurotiker:in. Aber bei den immer neuen Ess-Trends und Verzichts-Moden stellt sich schon die Frage, ob man tatsächlich gesünder lebt, wenn man auf immer mehr Dinge verzichtet.
Gewinner der Orthorexie: die Industrie
Allergien und Unverträglichkeiten treten heute scheinbar häufiger auf als früher, auch vor Fett und Zucker fürchtet man sich mehr denn je. Die Lebensmittelindustrie reagiert darauf – mit einer wahren Flut von „Frei von“-Produkten. Für diejenigen, die tatsächlich zum Beispiel an Zöliakie (Gluten-Unverträglichkeit) oder an einer Laktose-Intoleranz leiden, ist das ein großer Fortschritt.
Fakt ist aber auch, dass viele Menschen diese Produkte kaufen – obwohl sie gar nicht betroffen sind. „Rund 32 Prozent der Deutschen behaupten, an Lebensmittelunverträglichkeiten oder Allergien zu leiden. Von den restlichen 2/3 verzichten 81 Prozent freiwillig auf gewisse Lebensmittel. Unter anderem tun sie das aus dem Gefühl heraus, diese Nahrungsmittel nicht zu vertragen“, so eines der Ergebnisse von „Lebensmittelintoleranz – die Vermarktung der Angst“ einer Studie des Marktforschungsinstituts Targeted.
Größter Gewinner dieser Entwicklung ist die Lebensmittelindustrie. Die vermarktet ja schon Produkte „ohne Zusatzstoffe“ – obwohl sie selbst für die vielen Zusätze in Lebensmitteln verantwortlich ist – und bedient mit „functional food“ den Wunsch nach Essen, das über die Ernährung hinaus noch eine nützliche Nebenwirkung hat.
Jetzt kann sie Produkte ohne Laktose, ohne Gluten und (neu) ohne Histamin deutlich teurer verkaufen als reguläre, obwohl sie für Gesunde keine Vorteile bieten.
Sind glutenfreie und laktosefreie Produkte automatisch gesünder?
In einigen Supermärkten füllen glutenfreie Produkte ganze Regale, teilweise gibt es sogar schon so absurde Angebote wie Wasser (!) ohne Gluten. Dabei leidet nur etwa ein Prozent der Deutschen unter Zöliakie, einer Entzündung des Darms, die durch Gluten ausgelöst wird. Zöliakie-Betroffene müssen sich ihr Leben lang glutenfrei ernähren, da schon die kleinsten Mengen für sie schädlich sind. Für Gesunde bringt eine glutenfreie Ernährung dagegen keinen echten Gewinn. Obwohl Promis wie Lady Gaga dafür werben, nimmt man durch glutenfreie Produkte nicht ab, und glutenfreie Produkte weisen sogar eine höhere Anzahl an Zusatzstoffen auf, weil das Produkt durch den Wegfall von Weizen geschmacklich aufgepeppt werden muss.
Auch „laktosefrei“ ist ein Megatrend. Laut GfK griffen im vergangenen Jahr 9,4 Millionen Haushalte zu laktosefreien Produkten. Davon litten nur 18 Prozent an einer Laktose-Intoleranz. Die Milchzucker-Unverträglichkeit äußert sich in starken Blähungen, Magenbeschwerden oder Durchfall, schätzungsweise sind in Deutschland davon etwa 15 Prozent der Bevölkerung betroffen. Für Menschen, die Milchzucker aufspalten können, bringt der Griff zu laktosefreien Produkten aber keine Vorteile – im Gegenteil: Da Milchprodukte die Hauptlieferanten des Mineralstoffs Calcium sind, der für die Stabilität des Knochengerüstes mitverantwortlich ist, vergrößert sich dadurch das Risiko einer Osteoporose (wobei das nicht ganz so einfach ist – siehe Milch-Mythen).
Fazit: auf Orthorexie verzichten
In Sachen Orthorexie muss man schon klar unterscheiden: Für tatsächliche Betroffene ist der Verzicht auf problematische Inhaltsstoffe wichtig und richtig. Und sich bewusst zu ernähren statt industrielle Lebensmittel unbesehen zu konsumieren, ist ebenfalls sinnvoll. Bio ist immer besser, weil es dabei nicht nur um die eigene Gesundheit, sondern auch um ökologisch verträgliche Landwirtschaft geht. Und ein bisschen veganer oder saisonaler zu leben hat auch ökologische Vorteile.
Wer aber glaubt, an einer Intoleranz zu leiden, sollte sich unbedingt von entsprechenden Fachärzt:innen untersuchen lassen. Gluten- und Laktose-Intoleranz oder andere Unverträglichkeiten (Fructose, Histamin, Allergien…) lassen sich nur durch medizinische Tests zweifelsfrei feststellen. Niemand, der gesund ist und sich ausgewogen ernährt, braucht industrielle „Frei von“-Lebensmittel, die oft mit zusätzlichen Verarbeitungsschritten weiter denaturiert wurden als ohnehin schon.
Wichtig: Wer vermutet, an Orthorexie oder anderen Essstörungen zu leiden, sollte sich unbedingt Hilfe suchen – Ärzt:innen, Therpeut:innen, Selbsthilfegruppen oder sonstige Beratungsangebote können Betroffene auf ihrem Weg unterstützen.
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