Artgerechte Tierhaltung ist ein zentraler Begriff in der Debatte um Tierwohl. Doch was genau ist damit gemeint? Und wie artgerecht ist Tierhaltung in Deutschland?
Artgerechte Tierhaltung: Was heißt das?
Auch wenn häufig von „artgerechter Tierhaltung“ die Rede ist, gibt es für den Ausdruck keine offizielle Definition. Auf der Internetseite des BMEL (Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft) findet sich unter „artgerechter Tierhaltung“ aber mitunter Folgendes:
„Für die Haltung von Nutztieren hat der Gesetzgeber zahlreiche Vorgaben an die Züchtung, Haltung, medizinische Behandlung, Transport und Schlachtung von Tieren gemacht. Sie zielen darauf ab, dass ein Tier seinen Bedürfnissen entsprechend gehalten und unnötiges Leid sowie Umweltbelastungen vermieden werden.“
Unter „artgerecht“ wird also eine Tierhaltung verstanden, die möglichst an die natürlichen Lebensbedingungen des Tieres angepasst ist. Was jedoch konkret als natürliches Bedürfnis gilt und bis zu welchem Grad dieses bei der Tierhaltung berücksichtigt wird, ist nicht eindeutig gesetzlich festgelegt. Berücksichtigt werden müssten aber folgende Punkte:
- Umwelt: Wie sieht der natürliche Lebensraum der Tiere aus? Welchen Stellenwert nehmen Platz und Bewegungsfreiheit ein?
- Futterangebot: Was frisst das Tier in freier Wildbahn und wie gelangt es an sein Futter?
- Gruppengröße: Ist das Tier Einzelgänger oder Herdentier? Gibt es eine natürliche Rangordnung? Wie sieht das Sozialverhalten der Tiere aus?
Tierhaltung in Deutschland: Das ist die Gesetzeslage
Tierschutz ist heute im deutschen Verfassungsrecht verankert (Artikel 20a im Grundgesetz). 2002 wurde Tierschutz zum Staatsziel erklärt. Konkrete Regelungen sind im Tierschutzgesetz (TierSchG) niedergeschrieben, das 1972 in Kraft trat und seitdem mehrmals geändert wurde. Dabei handelt es sich um ein Bundesgesetz, das heißt es gilt für alle Bundesländer gleichermaßen.
Das Gesetz enthält einzelne Abschnitte, die verschiedene Aspekte in Bezug auf den Umgang mit Tieren regeln – so gibt es etwa Regelungen zur Tötung, zu Tierversuchen und zum Handel mit Tieren. Der zweite Abschnitt macht Vorgaben zur Tierhaltung:
„Wer ein Tier hält, betreut oder zu betreuen hat,
1. muss das Tier seiner Art und seinen Bedürfnissen entsprechend angemessen ernähren, pflegen und verhaltensgerecht unterbringen,
2. darf die Möglichkeit des Tieres zu artgemäßer Bewegung nicht so einschränken, dass ihm Schmerzen oder vermeidbare Leiden oder Schäden zugefügt werden,
3. muss über die für eine angemessene Ernährung, Pflege und verhaltensgerechte Unterbringung des Tieres erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen.“
Was „seinen Bedüfnissen entsprechend“, „artgemäß“ oder „angemessen“ konkret bedeutet, wird im TierSchG nicht festgelegt, sondern liegt im Ermessen des BMEL. So kann das BMEL nach §2a mittels Rechtsverordnung bestimmte Haltungsbedingungen gesetzlich vorschreiben, sofern der Bundesrat zustimmt.
Haltungsbedingungen von Nutztieren in Deutschland
Hier findest du einen kurzen Überblick, wie Tierhaltung in den allermeisten deutschen Ställen aussieht. Um den Rahmen nicht zu sprengen, haben wir uns auf die häufigsten Nutztiere beschränkt:
Legehennen und Masthühner:
Die Haltungsbedingungen von Legehennen unterscheiden sich je nach Haltungsart. Nach Angaben des BMEL kommen einem Huhn in Bodenhaltung 0,11 Quadratmeter Stallfläche ohne Auslauf zu. Derzeit stammen knapp zwei Drittel aller Eier aus Bodenhaltung. Elf Prozent aller Legehennen leben in Kleingruppenhaltung, in der sie noch weniger Stallfläche haben.
Greifst du stattdessen zu Eiern aus Freilandhaltung, haben die Hühner zusätzliche vier Quadratmeter Auslauf. In ökologischer Landwirtschaft sind es 0,16 Quadratmeter Fläche und Quadratmeter Quadratmeter Auslauf. Bio-Eier sind damit zwar die bessere Wahl, doch auch hier ist der Platz pro Huhn sehr eingeschränkt. Ob 4 Quadratmeter einer artgerechten Haltung entsprechen, kann also diskutiert werden. Allerdings sind dies gesetzliche Mindestanforderungen. Einige Bio-Höfe bieten ihren Tieren deutlich mehr Auslauf.
Bei Masthühnern sind die Haltungsbedingungen noch dramatischer: Laut BMEL ist Bodenhaltung die Regel, in der die Tiere in fünf bis sieben Wochen auf ihr Schlachtgewicht gemästet werden. Im gemästeten Zustand teilen sich 16 bis 26 Tiere einen Quadratmeter Stallboden.
Rinderzucht und Milchkühe:
Nach Angaben des BMEL werden Dreiviertel aller Rinder in Laufställen gehalten. Wie genau die Laufställe aussehen, ist sehr unterschiedlich: Teils stehen die Rinder auf Betonspalten mit sehr wenig Auslauf, teils werden sie in größeren Boxen gehalten, die mit Stroh ausgelegt sind. Daneben gibt es noch immer Höfe mit Anbindehaltung, in der sich die Tiere gar nicht frei bewegen können. Etwa ein Drittel aller Kühe haben im Sommer Zugang zur Weide. Wie artgerecht Rinder gehalten werden, ist also jedem Bauer mehr oder weniger selbst überlassen.
Auch die jährliche künstliche Besamung von Milchkühen, die für die Milchproduktion notwendig ist sowie die Tatsache, dass Mutter und Kalb nach der Geburt getrennt werden, kann nicht als artgerecht angesehen werden.
Laut BMEL muss einem Schwein zwischen 50 und 110 Kilogramm mindestens 0,75 Quadratmeter Fläche zur Verfügung stehen. In der ökologischen Landwirtschaft liegt das Minimum bei 1,3 Quadratmeter und einem Quadratmeter Auslauf.
Säue werden mindestens zweimal im Jahr künstlich befruchtet und kurz vor dem Geburtstermin in die „Abferkelbucht“ gebracht. Diese enthält sogenannte Ferkelschutzkörbe, die die Ferkel davor schützen sollen, versehentlich von der Mutter erdrückt zu werden. Dass Ferkelschutzkörbe überhaupt notwendig sind, zeigt wieder, dass auch hier keine artgerechte Tierhaltung gegeben ist.
Vermeidbares Tierleid: Hier muss dringend gehandelt werden
Eines ist klar: Die Haltungsbedingungen in Deutschland sind meist weit von artgerechter Tierhaltung entfernt. Teils sind noch immer Praktiken vorzufinden, die Tieren großes Leid zufügen und mit dem Grundsatz des TierSchG eigentlich nicht vereinbar sind. Dieser Grundsatz lautet: „Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.“
Allerdings gehört Tierleid zum traurigen Alltag in der deutschen Tierindustrie, wie folgende Beispiele zeigen (die Liste könnte noch fortgeführt werden):
- Betäubungsloses Kastrieren von Ferkeln: Das Kastrieren von Ferkeln ist noch bis bis 31.12.2019 erlaubt – so hat es Ende 2018 die Koalition beschlossen. Da ein solcher Eingriff auch unter Betäubung durchgeführt werden könnte, steht diese Praktik in klarem Widerspruch zum Leitsatz des TierSchG.
- Seit August 2016 ist die Schnabelkürzung in Deutschland verboten. Schnabelkürzungen wurden durchgeführt, um zu verhindern, dass sich Hühner auf engstem Raum gegenseitig zerpicken. Das Verbot ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung. Zusätzlich zum Verbot müssten aber auch die Haltungsbedingungen der Legehennen geändert werden, um ein solches Verhalten zu vermeiden.
- Kastenstandhaltung von Sauen: Sauen werden kurz vor der künstlichen Befruchtung und bis zu vier Wochen danach in einzelne Boxen gesperrt. Dies soll die Chancen einer erfolgreichen Besamung erhöhen, bedeutet aber für das Schwein, sich über Wochen kaum bewegen zu können.
- Gruppengrößen und Sozialverhalten der Tiere werden in der Massentierhaltung nicht berücksichtigt; ebenso wenig wie die natürliche Bindung zwischen Muttertier und Kind, die meist sehr früh voneinander getrennt werden. Zu den physischen Leiden kommen so auch seelisches Qualen hinzu.
- Überzüchtung von Nutztieren: Viele Rassen sind heutzutage überzüchtet und hinsichtlich der Leistung, die die Tiere erbringen müssen, völlig überlastet.
- Kurze Lebensdauer in der Tierzucht: Erbringt ein Tier nicht mehr die volle Leistung, wird es in der Regel geschlachtet. So sinkt die Lebensdauer von Legehennen oder Milchkühen auf einen Bruchteil der natürlichen Lebenserwartung. Auch das wird der natürlichen Lebensweise der Tiere nicht gerecht.
Fazit und Tipps zur Unterstützung artgerechter Tierhaltung
Besonders in der Politik aber auch im Gesetzestext selbst wird gerne von „artgerechter Haltung“ oder dem „Tierwohl“ gesprochen. Die Realität entspricht diesen Leitsätzen allerdings ganz und gar nicht. Grund dafür ist, dass es sich nicht um geschützte Begriffe handelt, die konkrete Vorgaben machen. Das deutsche Tierschutzgesetz klingt damit zunächst vielversprechend, schafft aber keine vertretbaren Bedingungen für die Tiere.
Vor allem in der konventionellen Nutztierhaltung leben Tiere alles andere als artgerecht. Die gesetzlich vorgeschriebenen Mindestanforderungen reichen bei Weitem nicht aus, um Tieren ein angenehmes Leben zu gewähren. Fleisch- und Milchprodukte aus konventioneller Landwirtschaft solltest du daher komplett meiden.
Doch auch eine ökologische Landwirtschaft ist nicht immer gleichzusetzen mit artgerechter Tierhaltung. Hier solltest du dich unbedingt vorher informieren, welche Bio-Siegel für bessere Haltungsbedingungen stehen. Im Idealfall kaufst du tierische Produkte direkt beim Bauern deines Vertrauens. So kannst du dir vor Ort selbst ein Bild von den Haltungsbedinungen machen. Außerdem unterstützt du damit kleinere Höfe, die mit den niedrigen Preisen der Massentierhaltung nicht konkurrieren können.
Am besten für das Tierwohl ist es natürlich, wenn du deinen Konsum von Tierprodukten reduzierst. Denn unser steigendes Verlangen nach immer mehr tierischen Produkten hat Massentierhaltung überhaupt erst möglich gemacht. Inzwischen gibt es viele sehr gute pflanzliche Alternativen zu Milch- und Fleischprodukten, die du auch als nicht-Veganer einfach einmal ausprobieren kannst.
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