Die Corona-Pandemie zwingt uns zu einem neuen Alltag, oft im Homeoffice, teils in Kurzarbeit. Das gibt uns aber die Chance, unseren Lebensstil zu hinterfragen – und der Wirtschaft die Gelegenheit, den Klimawandel endlich einzukalkulieren.
Bei einem Bühnenauftritt im Herbst 2019 sagte Zukunftsarchitekt und Soziologe Harald Welzer: „Ich brauche keinen Klimawandel, um mir eine autofreie Stadt zu wünschen.“ Er bringt damit zum Ausdruck, dass nicht immer der Klimawandel der Grund sein muss, um über einen Lebensstil nachzudenken, der einen geringeren CO2-Ausstoß verursacht.
Welzer
fragt weiter, ob ein solcher Lebensstil wirklich Verzicht für uns bedeutet.
Oder nicht etwa: Eine Änderung unseres Verhaltens, die sich auf viele
Lebensbereiche ausbreitet – Zeit, Wohnen, Arbeit, Stadtentwicklung, Mobilität und
Migration – und uns auch zugutekommen und gefallen könnte. Nehmen wir das einmal
genauer unter die Lupe.
Corona-Pandemie: Ist das noch meine Stadt?
Wir versuchen seit Wochen, unser Alltagsleben den Konsequenzen der Corona-Krise anzupassen. Vieles ändert sich. Nicht nur dürfen wir Freunde und Verwandte nicht mehr oder nur eingeschränkt treffen. Wir sehen sie auch nicht mehr an den Orten, an denen wir sie gerne treffen würden: in Kneipen, Cafés, Restaurants oder Biergärten, im Museum oder Kino, in Gruppen im Park oder am Wochenende bei einem Ausflug. Stattdessen laufen die Telefonleitungen heiß, Videos werden produziert und Sprachnachrichten aufgenommen.
Den Weg zur Arbeit, den wir vorher oft mitten im Berufsverkehr verbrachten, verbringen wir nun mit Schlafen, bei der ersten Homeschooling-Unterrichtsstunde, bei einem Hundespaziergang, beim Sport oder schon am heimischen Arbeitsplatz.
Über den Tag verteilt sieht man in den Innenstädten oft entspannt aussehende Menschen, die bei einem Spaziergang Geschäftstelefonate führen. Jogger schießen wie Pilze aus dem Boden und anschließend durch die Stadt. Im Supermarkt und anderswo sind Eile und Ellbogen-Mentalität sinnlos: 1,5 Meter Abstand plus Türwächter sorgen für Ordnung und teils lange Schlangen.
Wer durch die Straßen geht, kann mancherorts eine veränderte Geräuschkulisse wahrnehmen: Menschenstimmen sind lauter als Autos. „Ist das noch meine Stadt?“, könnte man sich fragen.
Ausgangsbeschränkungen: Gefängnis oder Freilauf?
Unser Aktionsradius nach außen ist in vieler Hinsicht beschränkt. Dadurch haben wir jedoch die Chance, zu sehen, was unser Alltagsverhalten mit uns macht. Ob mit dem Verzicht nicht auch schöne Dinge Einzug halten, die vor der Krise zu kurz kamen. Die uns weniger oder anders konsumieren lassen. Nicht nur, weil Geschäfte geschlossen sind. Sondern auch, weil unser alltägliches Leben sich geändert hat.
Für viele bedeutet das derzeit: etwas weniger Hektik. Die Freude über vorher Selbstverständliches, wie der Austausch mit mehreren lieben Menschen gleichzeitig, ist größer. Die Vorfreude auf ein richtiges Wiedersehen? Noch größer! Manche Dinge, zu denen man sich schwer aufraffen kann, wie zum Beispiel zum Joggen, bereichern jetzt das Gemüt. Und im Homeoffice können viele die Sonne genießen.
Gleichzeitig gibt es Sorgen: Kinder müssen neben der Arbeit unterrichtet werden, Jobs gehen verloren, sind bedroht oder werden reduziert.
Wir finden uns derzeit in einem anderen, fremden Alltagsleben wieder. Zum ersten Mal seit dem Wirtschaftswunder in den 80er-Jahren wurde es in Deutschland ruhiger. Wir waren weder privat noch als Gesellschaft auf diese Situation vorbereitet, die wirtschaftlich so manchen Schaden anrichtet. In einem Wirtschaftssystem, das auf Wachstum ausgelegt ist. Und darauf, dass die Menschen über eine bestimmte Menge an Geld und die Gelegenheit verfügen, es auszugeben.
Wirtschaftswachstum kostet Ressourcen
Wachstum ist in unserer Wirtschaft das Ziel, das die meisten Unternehmen verinnerlicht haben. Unsere Ressourcen und deren natürlichen Grenzen werden dabei häufig nicht mitgerechnet. Ressourcen sind jedoch endlich und ihre Existenz in den verschiedenen Reservoirs der Erde wichtig, um Klimaprozesse am Laufen zu halten, die den Menschen gute Lebensbedingungen schaffen. Übermäßiger Verbrauch macht unser Klima kaputt. Oder, wie Harald Welzer es ausrückt: „Eine nicht nachhaltige Wirtschaft ist eine, die ihre eigenen Voraussetzungen konsumiert.“
Anders gesagt: Eine Wirtschaft, die Ressourcen nicht mit auf ihre Rechnung setzt, treibt klimatische Veränderungsprozesse, die sonst um ein Vielfaches langsamer oder gar nicht stattfinden würden, dramatisch an. Das bedeutet, dass wir ab einem bestimmten Punkt immer einen Preis für unkontrolliertes Wachstum bezahlen müssen. Unterm Strich heißt dieser: Klimawandel.
Post-Corona oder Post-Wachstum?
Wenn nun viele vom Post-Corona-Szenario reden, das gut für unser Klima sein soll, so ist damit eigentlich gemeint: Post-Wachstum. Post-Wachstum muss und soll nicht heißen, dass ab heute alle nur noch Zelt-Urlaub machen und auf höchstens eine Immobilie sparen dürfen.
Aber Post-Wachstum soll bedeuten, dass diverse Branchen durch angepasste Kalkulation und Zusammenarbeit eine Wirtschaftsform anstreben, die das Klima mit einbezieht.
Haben wir dann keine Freude am Leben mehr?
Wenn eine Post-Wachstums-Wirtschaft einher geht mit einer Post-Wachstums-Gesellschaft, dann ändert sich vieles. Denn eine Gesellschaft, deren höchstes Ziel nicht mehr Geld und Material ist, erlebt eine Werte-Verschiebung. Man bedient sich anderer Freuden: Mehr gestalterische Freiheit des Alltags durch flexiblere Arbeitssituationen. Gesteigerte Verfügbarkeit öffentlicher Mittel, wie öffentliche Verkehrsmittel. Mehr Raum für Familien.
Eine Post-Wachstums-Gesellschaft fragt gesteigert nach dem Sinn in den Tätigkeiten, die wir täglich ausführen, um die Erfüllung nicht allein im Geldbeutel zu finden. Zeit gewinnt damit an Wert. Das individuelle Wohlergehen sowie das Gemeinwohl rücken stärker in den Mittelpunkt.
Womöglich klingt dieses klimaschonende und utopisch anmutende Szenario für den ein oder anderen weltfremd. Post-Corona aber vielleicht etwas weniger weltfremd. Vielleicht klingt es dann sogar nach einem erstrebenswerten Ziel. Wofür der Klimawandel Anlass sein sollte – aber tatsächlich nicht der alleinige Grund sein muss.
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