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„Haben gesehen, wie das Wasser um die Ecke geschossen kam“

"Haben aus dem Fenster gesehen, wie das Wasser um die Ecke geschossen kam"
Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Wie geht es den Menschen, die vor einem Jahr die Flutkatastrophe im Ahrtal miterlebt haben? Ein Bericht zeigt, wie unterschiedlich Menschen mit der Situation zurechtkommen. Expert:innen kritisieren den heutigen Umgang mit der Ahr. Denn nach der Flut sei vor der Flut.

Ein Artikel in der Zeit berichtet von zwei Familien, die die Flutkatastrophe im Ahrtal vor einem Jahr miterlebten. In der Nacht zum 15. Juli 2021 kommt es nach extremem Starkregen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz zu Hochwasser, Häuser werden in den Wassermassen mitgerissen, Menschen flüchten auf Dächer – mindestens 135 Menschen sterben.

Bleiben oder gehen? So gehen Opfer nach der Flut um

Die Zeit berichtet nun von Familie Mattschall. Die Mutter der Familie erlebt mit ihrem damals 14-jährigen Sohn die Flut im ersten Stockwerk ihres Hauses in Liers, während der Mann die Nacht in seinem Restaurant arbeitet. Die Tochter ist bei Bekannten. Erst zwei Tage nach der Flut ist die Familie wieder vereint. Sie versuchen ihr Haus zu renovieren, suchen sogar eine neue Küche aus – in Eierschalenfarben. Doch vor dem Küchenstudio bricht die Frau zusammen. Sie kann nicht mehr in das Haus zurückkehren. „Ich könnte meinen Sohn nie wieder bei Regen allein im Haus lassen“, zitiert die Zeit die Frau. Die Familie zieht in eine Wohnung – auf einem Berg. Dort oben hoffen sie, kann sie das Wasser nicht mehr erreichen.

Anders Familie Heinrichs aus Schuld. Die heute 31-jährige Julia Heinrichs hat sich entschlossen zu bleiben. Das Haus ihres Vaters, in dem sie aufgewachsen ist, baut sie „ziemlich allein wieder auf“, sagt sie gegenüber der Zeit. Am Abend der Flut ist sie mit ihrer Tochter und den beiden Kindern ihrer Schwägerin bei ihrem Vater. „Wir haben aus dem Fenster gesehen, wie das Wasser um die Ecke geschossen kam“, erzählt sie der Zeit. Sie retten sich zunächst ins oberste Stockwerk und dann, als das Wasser das Haus flutet, schließlich über das Dach ins Nachbarhaus. Seit der Katastrophe schaue sie öfter nach dem Wetterbericht. Angst bekomme sie, wenn es viel regnet. Doch, sie habe Sorge, dass es wieder zu einer Flut komme, aber „nach der Flut hat‘s mich wieder hergezogen“, berichtet sie. Für den nächsten Starkregen habe sie einen Notfallplan: Mit ihrer Tochter zu einer Freundin fahren, die weiter oben an einem Berg wohnt. Mit dabei habe sie jetzt immer einen Grundriss vom Haus und die Ausweise. „Man packt jetzt anders“, sagt Henrichs.

Traumabewältigung bei den Opfern der Flutkatastrophe

Durch die katastrophale Nacht sind Schätzungen zufolge mindestens 15.000 Menschen traumatisiert worden – neben vielen Flutbetroffenen auch Mitarbeiter:innen von Leitstellen und Helfer:innen. Rund 4.000 davon könnten schwere Traumata mit langfristigem Behandlungsbedarf erlitten haben. Der Jahrestag am Donnerstag könnte laut einer Expertin für viele Flutopfer zur besonderen Belastung werden. Das Flusstal tauche wieder mehr in den Medien auf, die Erinnerung an die Katastrophe sei hier allgegenwärtig, sagte die Leiterin des Traumahilfezentrums in Grafschaft oberhalb des Ahrtals, Katharina Scharping, der Deutschen Presse-Agentur.

Viele Flutopfer finden Menschenmengen immer noch „besonders anstrengend“, wie die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie mit Blick auf etliche Gedenkveranstaltungen im Ahrtal erklärte. Diese machten Angst: „Viele wollen lieber zu Hause in der Familie bleiben. Oder sie fahren weg.“ Beides habe sie schon öfter gehört.

Angesichts des Klimawandels: Ist die nächste Flut nah oder fern?

Wird es erneut zu einer Flutkatastrophe wie dieser kommen? Sonia Seneviratne, Professorin an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, sagte der Deutschen Presse-Agentur: „Starkregenereignisse werden mit zunehmender globaler Erwärmung häufiger und intensiver.“ Das Starkregenereignis, das zur Ahrtalflut geführt habe, sei durch menschliche Emissionen sowohl wahrscheinlicher gemacht worden als auch heftiger, stellte sie klar.

Meterhoch türmen sich Wohnwagen, Gastanks, Bäume und Schrott an einer Brücke über der Ahr in Altenahr.
Meterhoch türmen sich Wohnwagen, Gastanks, Bäume und Schrott an einer Brücke über der Ahr in Altenahr. (Foto: Boris Roessler/dpa)

„Nach der Flut ist vor der Flut“, mahnte Fred Hattermann, Leiter der Forschung zu Hydroklimatischen Risiken am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Daher brauche es Präventionsmaßnahmen. Was das für das Ahrtal bedeutet, erläutert Sabine Yacoub, BUND-Landesvorsitzende in Rheinland-Pfalz: „Die Ahr hat uns gezeigt, wo sie natürlicherweise entlangfließt. Doch statt das zum Teil neu entstandene Flussbett zu erhalten, wurde das Gewässer wieder ins alte Bett gezwungen. Streckenweise wurde es sogar noch weiter eingeengt als vorher, sodass die Ahr jetzt vielerorts naturferner ist als vorher. Das ist tragisch für den Naturschutz und fatal für den Hochwasserschutz. Eine wichtige Lehre aus der Katastrophe muss sein, dass in möglichen Überschwemmungsgebieten nicht mehr gebaut wird. Doch rheinland-pfälzische Gemeinden planen Baugebiete noch immer mitten in solchen Gebieten und nehmen dabei mögliche Katastrophen in der Zukunft in Kauf.“

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Politik wird zum Handeln aufgerufen

Der Vorsitzende des Bunds für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) Olaf Bandt fordert die Politik zum Handeln auf: „Die Katastrophe an der Ahr und in Nordrhein-Westfalen muss dazu führen, dass hochwasser- und klimaresiliente Schutzmaßnahmen mit hoher Priorität in Gesamtdeutschland umgesetzt werden.“

Die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer, sagte jedoch in einem Interview mit den Tagesthemen: „Das Ausmaß dieser Katastrophe konnte so niemand voraussehen.“ Daher sehe sie keinen Grund sich für das Krisenmanagement des Landes zu entschuldigen. Sie sehe aber ihre politische Verantwortung für den Katastrophenschutz darin, aus den Ereignissen zu lernen und sich neu aufzustellen.

Mit Material der dpa

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