Wer die Zerstörung der Heimat oder einer liebgewonnen Landschaft erlebt, empfindet mitunter einen Kummer über den Verlust, der schwer in Worte zu fassen ist. Solastalgie gibt dem Gefühl einen Namen – und kann uns helfen, darüber zu sprechen, was der Mensch dem Planeten antut.
Wir leben in einer Zeit, in der menschengemachte Umweltzerstörungen auf der ganzen Welt tägliche Realität sind. Regenwälder verschwinden, Tagebaue reißen die Erde auf, Öl verschmutzt ganze Küsten. Die Auswirkungen des anthropogenen (= vom Menschen gemachten) Klimawandels sind vielerorts längst zu spüren.
Zwar ist es nichts Neues, dass der Mensch seine Umwelt formt, doch nie zuvor passierten diese Veränderungen so umfassend und so schnell wie heute. Was das alles mit uns Menschen macht, kann unsere Sprache oft noch gar nicht richtig beschreiben. Doch während die Sprache der Realität einerseits hinterherhinkt, prägt sie andererseits unsere Wahrnehmung der Welt. Begriffe wie „Klimaangst“ oder „Eco-Anxiety“ sind wichtige erste Versuche, sprachlich abzubilden, wie sich die enormen und allgegenwärtigen Umweltveränderungen auf unsere mentale Gesundheit auswirken. Und sie haben gleichzeitig das Potenzial, mehr Bewusstsein für die Probleme zu schaffen, die damit zusammenhängen.
Wenn die Heimat keine Geborgenheit mehr bietet
Noch wenig bekannt ist der Begriff „Solastalgie“ (engl. „Solastalgia“). Er geht auf den australischen Umweltphilosophen und Nachhaltigkeits-Professor Glenn Albrecht zurück. Er veröffentlichte 2007 einen Artikel mit dem Titel „Solastalgia: The Distress Caused by Environmental Change“ (in etwa: „Solastalgie: Der Kummer, der durch Umweltveränderungen verursacht wird“) und beschäftigt sich seitdem regelmäßig mit dem Phänomen.
Den Begriff Solastalgie führt Albrecht zurück auf die lateinischen Begriffe solacium (Trost) sowie solus (Einsamkeit) und den griechischen Begriff algos (Schmerz).
„Wörtlich genommen beschreibt Solastalgie den Schmerz oder das Leid, die durch den Verlust oder das Fehlen von Trost verursacht werden, sowie das Gefühl der Isolation, das mit dem gegenwärtigen Zustand des eigenen Zuhauses […] zusammenhängt“,
schreibt Albrecht in seinem Aufsatz.
National Geographic, das einen der wenigen deutschen Texte über den Begriff veröffentlicht hat, umreißt ihn so: „Solastalgie bezeichnet den Schmerz über den Verlust tröstlicher heimatlicher Geborgenheit.“
Was zunächst abstrakt klingt, wird greifbarer durch die Entstehungsgeschichte des Begriffs, die zugleich Albrechts Geschichte ist: Als Umweltexperte in der Gegend um Hunter Valley im australischen Bundesstaat New South Wales wurde er Anfang der Nullerjahre immer häufiger von Bürger:innen kontaktiert, die sich wegen der Folgen des Kohletagebaus in der Region sorgten. Der Kohleabbau veränderte und prägte dort zunehmend die Landschaft und Gemeinden. Viele Menschen beschrieben Albrecht gegenüber einen Kummer und eine Sehnsucht, die stark dem Gefühl des Heimwehs ähnelten – obwohl diese Menschen ihre Heimat gar nicht verlassen hatten.
Einen passenden sprachlichen Ausdruck dieser Gefühle irgendwo zwischen Heimweh, Nostalgie, Schmerz und Einsamkeit gab es nicht. Albrecht erfand ihn: Er nannte diese „spezifische Form der Melancholie, die mit einem Mangel an Trost und intensiver Einsamkeit zusammenhängt“ Solastalgie.
Solastalgie berührt unsere Identität
Auch wenn der Begriff noch einigermaßen neu ist, das Phänomen ist es sicher nicht. Szenarien wie das oben beschriebene betrafen und betreffen hunderte Millionen Menschen weltweit. Tagebaue, Dämme oder Abholzungen, Kriege, Überflutungen, Erdrutsche, Brände oder einfach nur Bauprojekte oder Gentrifizierung verändern permanent die menschlichen Lebensräume.
Auch ohne dass sie das eigene Leben grundlegend beeinträchtigen, ohne dass etwa Eigentum zerstört oder die Gesundheit bedroht wird, können solche Eingriffe in unsere Heimat schmerzliche Verlusterfahrungen sein.
Zu dem „Schmerz, den man erlebt, wenn man erkennt, dass der Ort, an dem man wohnt und den man liebt, einem unmittelbaren Angriff ausgesetzt ist“, kommt dann, so Albrecht, „ein intensiver Wunsch, dass der Ort […] in einem Zustand erhalten werden soll, der weiterhin Geborgenheit oder Trost spendet.“
Dahinter steht die Annahme, dass ein Teil unserer Identität – bewusst oder unbewusst – an geographische Orte geknüpft ist. Jede Veränderung des Ortes, der Landschaften, berührt damit auch unsere Identität, unsere (Selbst-)Wahrnehmung. Die Gefühle von Einsamkeit, Verlassenheit und Trostlosigkeit, die Albrecht beschreibt, sind also nicht überraschend, ebenso wenig wie die Sehnsucht, diesen Teil unserer Identität wiederherzustellen.
Warum die indigene Bevölkerung besonders betroffen ist
Einige Expert:innen – Albrecht eingeschlossen – gehen davon aus, dass Solastalgie indigene Bevölkerungsgruppen in besonderem Maß betrifft, weil diese oft eine besonders enge emotionale, seit vielen Generationen bestehende Verbindung zu „ihrem“ Land haben. Der britische Guardian etwa berichtet über Solastalgie unter Inuit in Alaska, deren Lebensstil vom Klimawandel bedroht ist. Der Artikel zitiert Ashlee Cunsolo, Dekanin für arktische und subarktische Studien an der Memorial University in St. John’s (Kanada):
„Man muss nicht umziehen, um den Verlust der Heimat zu betrauern: Manchmal verändert sich die Umgebung um uns herum so schnell, dass diese Trauer bereits da ist.“
Albrecht ist überzeugt, dass Solastalgie für manche Menschen sogar zu schwerwiegenden psychischen Erkrankungen führen kann, zu Suchterkrankungen, Depressionen, Suizid. Er geht sogar so weit, sowohl soziale Probleme unter australischen Eingeborenen als auch erhöhte Suizid-Raten unter australischen Landwirt:innen auf Solastalgie zurückzuführen.
Ob man Solastalgie daher als rein philosophisch-gesellschaftliches Konstrukt betrachten möchte oder sogar als Grundlage psychosomatischer Erkrankungen ernstnehmen muss, ist noch offen.
Solastalgie als Chance?
Genauso offen ist, ob Schmerz und Sehnsucht, die Solastalgie innewohnen, nicht auch eine Chance bergen könnten. Zum einen durch den Begriff selbst: Wenn er tieferen Eingang in unsere Sprache findet, ermöglicht er uns, Dinge zu benennen, für die uns bisher die Worte gefehlt haben, Erfahrungen zu teilen und Debatten anzustoßen.
Zum anderen kann man Solastalgie in einer globalisierten Welt, die uns permanent mit Informationen und Bildern versorgt, auch unabhängig von der eigenen Betroffenheit verspüren oder umgekehrt, sich auch von weit entfernten Ereignissen so betroffen fühlen, dass man Solastalgie empfindet. Hier schließt Solastalgie an Klimaangst an: Die Phänomene – Angst, Schmerz, Sehnsucht – können einerseits immer mehr Menschen belasten, andererseits aber auch immer mehr Menschen bewegen, sich gegen Umweltzerstörungen und für den Erhalt der Umwelt einzusetzen – nicht nur vor der eigenen Haustür.
Glenn Albrecht selbst glaubt, dass Solastalgie auch eine zukunftsgerichtete Komponente hat. Anders gesagt: Wir sollten Solastalgie benennen, darüber sprechen und sie zum Anlass nehmen, uns gegen Umweltzerstörung einzusetzen, anstatt uns von ihr lähmen zu lassen.
Hinweis: Wenn du dich depressiv fühlst oder Suizid-Gedanken hast, wende dich an die Telefonseelsorge online oder unter Tel. 0800 / 111 0 111 oder 0800 / 111 0 222 oder 116123 oder an die Deutsche Depressionshilfe unter Tel. 0800 / 33 44 533 (wochentags tagsüber). In Notfällen kontaktiere bitte die nächste psychiatrische Klinik oder den Notarzt unter Tel. 112.
** mit ** markierte oder orange unterstrichene Links zu Bezugsquellen sind teilweise Partner-Links: Wenn ihr hier kauft, unterstützt ihr aktiv Utopia.de, denn wir erhalten dann einen kleinen Teil vom Verkaufserlös. Mehr Infos.War dieser Artikel interessant?
- CO2-Recycling – so werden Verpackungen daraus
- Kokosmilch: Gesunde Nährwerte oder exotischer Klimakiller?
- Wirtschaften im Kreislauf: Was Unternehmen tun – und was du tun kannst
- Tiefkühlkost versus Konservendose: Was ist besser?
- Klimafreundlich, umweltneutral & Co. – das steckt hinter den Kompensationsarten
- 2022 ist Jahr des Tigers – und es schadet den Tigern
- Heizung durchlaufen lassen - oder nicht? Expert:innen warnen vor schlechten Energiespar-Tipps
- Klimaneutral bis 2035? Eine Studie zeigt, wie das gelingen kann
- Wasserstoff-Tankstellen: So funktionieren sie (mit Karte)