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Regierung rückt von striktem AKW-Nein ab – FDP gegen „Kuhhandel“

Bayern, Essenbach: Wasserdampf steigt aus dem Kühlturm vom Atomkraftwerk (AKW) Isar 2.
Foto: Armin Weigel/dpa

Drei Atomkraftwerke müssten noch abgeschaltet werden. Doch die Bundesregierung lässt sich nun einen Türspalt offen für einen Weiterbetrieb der AKW. Angesichts der Energiekrise verweisen sie auf einen zweiten Stresstest zur Sicherheit der Stromversorgung.

Die Debatte um eine längere Nutzung der letzten deutschen Atomkraftwerke (AKW) entwickelt sich allmählich zu einem Stresstest für die Ampel-Koalition. Führende Grünen-Politiker wiesen am Wochenende erneut Forderungen nach einer Laufzeitverlängerung als Maßnahme gegen eine drohende Energiekrise vehement zurück.

Allerdings lässt die Bundesregierung einen Türspalt offen für einen Weiterbetrieb der drei noch verbliebenen Atomkraftwerke in Deutschland über das Jahresende hinaus. Eine Regierungssprecherin sagte am Montag in Berlin, die Frage der Atomkraftwerke sei für die Bundesregierung von Anfang an keine ideologische, sondern eine rein fachliche Frage gewesen. Sie verwies auf einen angekündigten zweiten Stresstest zur Sicherheit der Stromversorgung. „Das ist die Grundlage von Entscheidungen.“

Wirtschaftsministerium: „Wir rechnen jetzt noch mal und entscheiden dann“

Eine Sprecherin von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sagte, es werde auf der Basis von Fakten und Analysen entschieden. Es gebe nun die zweite Stresstest-Berechnung, die erstellt werde, um noch mal andere Szenarien abzuklopfen. Die erste Berechnung habe schon sehr verschärfte Annahmen unterstellt. „Aber dennoch, wir rechnen jetzt noch mal und entscheiden dann auf der Basis von klaren Fakten.“

Das Wirtschaftsministerium hatte am Sonntag einen zweiten Stresstest zur Sicherheit der Stromversorgung in Deutschland angekündigt. Es gehe darum, festzustellen, ob die Versorgungssicherheit im Stromsektor und der sichere Betrieb des Netzes unter verschärften Annahmen gewährleistet seien. Mit Ergebnissen sei „in den nächsten Wochen“ zu rechnen.

Forderungen nach einer Verlängerung der AKW-Laufzeiten kommen teilweise vom Koalitionspartner FDP. „Ich rate dringend dazu, die Laufzeiten der Kernkraftwerke für einen befristeten Zeitraum zu verlängern“, sagte Fraktionschef Christian Dürr den Zeitungen der Funke Mediengruppe. „Entgegen anders lautender Einschätzungen hat bereits ein Betreiber erklärt, dass er willens und in der Lage ist, die Laufzeiten befristet zu verlängern.“

FDP drängt auf Verlängerung der AKW-Laufzeiten

Einen „Kuhhandel“ zur Einführung eines Tempolimits lehnte Dürr ab. Der Deutschen Presse-Agentur sagte er am Montag: „Wir müssen alles tun, um die drohende Gaslücke zu schließen. Die Verlängerung der AKW-Laufzeiten kann dazu einen nennenswerten Beitrag leisten, das Tempolimit nicht. Wenn wir die Kernkraftwerke länger am Netz lassen, sparen wir Gas – denn wir verhindern, dass knappe Gasressourcen zur Stromerzeugung eingesetzt werden. Benzin und Diesel von der Tankstelle tragen bedauerlicherweise nichts dazu bei, den angespannten Energiemarkt zu entlasten. Dieser Kuhhandel würde also nicht dazu führen, die Versorgung im Winter zu sichern.“

Dürr erklärte, er habe großes Verständnis dafür, dass sich besonders die Grünen mit einer Laufzeitverlängerung schwertun. „Aber es geht uns nicht darum, ideologische Atomkraftdebatten wieder aufzumachen, sondern lediglich um eine befristete Maßnahme zur Einsparung von Gas.“

Zuvor hatten die FDP-Fraktionsvorsitzenden aus Bund und Ländern in einer gemeinsamen Erklärung formuliert: „Das Ende der Stromproduktion durch Kernenergie ist ein politisch definiertes und kein technisch vorgegebenes Datum. Politik muss die Kraft finden, diese politische Entscheidung angesichts einer so dramatischen Entwicklung politisch anzupassen.“ Die Bundesregierung müsse „jetzt und umgehend veranlassen, dass ein weiterer Satz Brennelemente für die drei Kraftwerke bestellt wird.“

Habeck: „Erst einmal ist die Atomkraft eine Hochrisikotechnologie“

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) warf den Befürwortern längerer AKW-Laufzeiten bislang mangelnde Objektivität vor. „Erst einmal ist die Atomkraft eine Hochrisikotechnologie und einige Äußerungen sind mir da einfach zu spielerisch“, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. „Fakt ist: Wir haben aktuell ein Gasproblem, kein Stromproblem. Dieses ‚Wir lassen die mal weiterlaufen, dann wird schon alles gut‘ steht weder im Verhältnis zu den Abstrichen bei den Sicherheitsstandards, die wir dafür in Kauf nehmen müssten, noch ist es der Situation angemessen.“

Die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang kritisierte, Atomkraft sei nicht das richtige Mittel, um von russischen Gaslieferungen unabhängig zu werden. Deutschland habe ein Problem mit der Wärmeenergie, nicht mit der Stromerzeugung, sagte sie dem Nachrichtenportal t-online. Neue Studien gingen davon aus, dass Atomkraft nur weniger als ein Prozent der Stromerzeugung aus Gaskraftwerken ersetzen könnte. „Es wäre, als ob man das Pflaster auf die falsche Stelle klebt.“

„Natürlich haben wir auch beim Strom ein Problem“, widersprach ihr Andreas Jung, Sprecher der Unionsfraktion für Klimaschutz und Energie. Es gebe Haushalte und Betriebe, die schon jetzt selbst nach Alternativen zum Gas suchten und etwa E-Heizungen anschafften. „Seit über vier Monaten wissen wir, dass im Winter eine Mangellage drohen kann und trotzdem wird immer noch Gas verstromt statt es zu speicher“, kritisierte der CDU-Politiker. Dies nun einseitig durch Kohlekraft zu ersetzen, schade dem Klima. Es sei daher insgesamt falsch, in einem Winter, in dem die Regierung selbst einen Energienotstand fürchte, noch vorhandene Kernkraftwerke abzustellen.

Dürr sagte, es gehe darum, die drohende Energielücke im Herbst zu schließen und dafür zu sorgen, dass Gas nicht länger zur Stromerzeugung genutzt werden müsse. Aber auch wegen steigender Energiepreise sollten die drei verbliebenen Kernkraftwerke in Deutschland am Netz bleiben. „Ein höheres Angebot an Strom auf dem Markt wirkt sich entlastend auf die Preise aus“, erklärte Dürr.

„Wir leben in einer Zeitenwende“

Der Landkreistag forderte, längere Atom-Laufzeiten zumindest zu prüfen. „Wir leben in einer Zeitenwende. Da ist es aus meiner Sicht unangemessen, Energiegewinnungsformen per se auszuschließen“, sagte Präsident Reinhard Sager der Neuen Osnabrücker Zeitung.

Auch die oppositionelle Union pocht auf einen Weiterbetrieb der drei verbliebenen Meiler. Die CSU-Umweltpolitikerin Anja Weisgerber sagte der Welt: „Wenn jede Kilowattstunde zählt, um die Gasverstromung zu reduzieren, dann ist es fahrlässig, drei sichere Kernkraftwerke Ende des Jahres abzuschalten.“ Der Wirtschaftsrat der CDU verwies auf ohnehin hohe Strompreise. Kernkraft würde den Preis stabilisieren, sagte Generalsekretär Wolfgang Steiger der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Drei Kernkraftwerke müssten abgeschaltet werden

„Wir fordern seit März einen Stresstest, ob für Bayern auch ohne Atomkraft bei einer Gasnotlage die Elektrizitätsversorgung sichergestellt ist“, sagte der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) der Augsburger Allgemeine. „Diese Frage wurde uns bis heute nicht beantwortet“, kritisierte er. Die Atomkraft könne hier zur Sicherung der Energieversorgung beitragen. Das Atomkraftwerk Isar 2 decke 15 Prozent des bayerischen Strombedarfs und könne mit den vorhandenen Brennstäben bis August 2023 laufen.

Die drei Kernkraftwerke Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2 müssen nach geltendem Recht spätestens am 31. Dezember 2022 abgeschaltet werden. Wirtschaftsminister Habeck und Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) hatten in einem Prüfvermerk im März von längeren Laufzeiten der Atomkraftwerke abgeraten. Einem kleinen Beitrag zur Energieversorgung stünden große wirtschaftliche, rechtliche und sicherheitstechnische Risiken entgegen, hieß es damals.

Warum eine Verzögerung des Atomkraft-Ausstiegs riskant ist, hat Utopia hier für euch zusammengefasst: Bei Energie unabhängig von Russland werden: Wieso Atomkraft der falsche Weg ist

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