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Soziologin: Langeweile hat eine Funktion – und ist ungleich verteilt

Langeweile
Foto: CC0 / Unsplash / Johnny Cohen

Langeweile ist nicht nur ein unangenehmes Gefühl – sie erfüllt eine wichtige Funktion und kann bei Nicht-Beachtung sogar der Gesundheit schaden. Eine Soziologin erklärt, wer sich in Deutschland am meisten langweilt und warum.

Chronische Langeweile erfüllt eine wichtige Funktion, und sie ist ungleich verteilt. Das erklärt die Soziologin Silke Ohlmeier im Interview mit der Zeit. Sie ist überzeugt, dass dieses Gefühl stark von Einkommen, Bildungsstand und Grad der Marginalisierung abhängt. Ohlmeier schreibt ihre Doktorarbeit zu dem Thema Langeweile und ist Mitglied der International Society of Boredom Studies. Ihr Buch „Langeweile ist politisch“ erscheint heute im Leykam Verlag.

Doch wie kann Langeweile politisch sein? Im Interview mit der Zeit erklärt sie: „Mit politisch meine ich, dass wir es nicht immer selbst in der Hand haben, ob uns langweilig ist, sondern Langeweile auch strukturell bedingt ist.“ Sie erforscht, warum das Gefühl ungleich in der Gesellschaft verteilt ist, beispielsweise zwischen Männern und Frauen, zwischen Arm und Reich. „Langeweile hängt immer auch von Machtverhältnissen und gesellschaftlichen Normen ab.“

Langeweile hat eine wichtige Funktion

Es gibt noch keine allgemeingültige Definition für Langweile, sagt Ohlmeier. Am besten gefalle ihr die Definition des Psychologen und Langeweileforschers John Eastwood: Langeweile sei die unangenehme Erfahrung, einer befriedigen Tätigkeit nachgehen zu wollen, es aber nicht zu können. Die Folge ist ein „unangenehmer Gefühlscocktail aus Müdigkeit, Stress, Unruhe und dem Gefühl, dass ein Augenblick ewig dauert“. 

Doch Langeweile ist keinesfalls nutzlos, betont Ohlmeier. Wie jede negative Emotion habe auch Langeweile eine Funktion. „Langeweile macht uns darauf aufmerksam, dass unsere Umwelt nicht im Einklang mit unseren Fähigkeiten steht. Sie hat die evolutionäre Funktion, uns zum Erkunden zu bringen und uns dabei weiterzuentwickeln. Sie motiviert uns, unsere Umstände so zu verändern, dass sie besser zu uns passen.“ Würden unangenehme Gefühle jedoch zum Dauerzustand, erfüllten sie ihre Funktion nicht mehr. Es komme also auf die Art der Langeweile an. 

Die drei Arten der Langeweile

In der soziologischen Forschung wird zwischen drei Arten der Langeweile unterschieden, erklärt die Expertin: Der situativen Langeweile, die keine langfristigen Folgen habe, Beispiele sind, im Stau festzustecken oder beim Arzt warten zu müssen, und der chronischen Langeweile – beispielsweise, wenn ein:e Auszubildende:r über lange Zeit hinweg nicht genug spannende Aufgaben bekommt. Die dritte Art sei die existenzielle Langeweile, „bei der einem das ganze Leben fad vorkommt“.

Die existenzielle Langeweile könne weitreichende Folgen haben, erklärt sie. Studien zeigen beispielsweise, dass diese Art der Langeweile oft mit Depression, Sucht und Essstörungen einhergeht. 

Menschen mit geringer Bildung und niedrigem Einkommen langweilen sich häufiger

Eine Langzeitstudie kam sogar zu dem Ergebnis, dass Menschen, die sich häufig langweilten, ein überdurchschnittlich hohes Sterberisiko hätten. Dafür hatten zwei Epidemiolog:innen, wie Ohlmeier ausführt, über 7.000 Teilnehmer:innen befragt und über einen langen Zeitraum begleitet. Von übermäßiger Langeweile berichteten vor allem diejenigen, die beruflich nur gering qualifiziert waren, schlecht bezahlte Jobs hatten und sich wenig körperlich betätigten. Diese Menschen starben im Schnitt auch früher. „Wahrscheinlich führte also nicht die Langeweile selbst zum frühen Tod, sondern die prekären Lebensumstände waren für die Langeweile und auch das hohe Sterberisiko verantwortlich“, ordnet die Soziologin ein. 

Dass Menschen mit geringer Bildung und niedrigem Einkommen sich häufig langweilten, belegen auch andere Studien. Ohlmeier führt aus: „Denjenigen mit wenig Geld, Ansehen und Kontakten fällt es in unserer Gesellschaft schwerer, Zugang zu befriedigenden Tätigkeiten zu erlangen. Kaum jemand möchte einen langweiligen Job haben, aber je nachdem, wie ich meine Chancen auf eine spannendere Arbeitsstelle einschätze, arrangiere ich mich mit der Langeweile oder eben nicht“. Zudem ermögliche Geld die gesellschaftliche Teilnahme an verschiedenen Aktivitäten, wie beispielsweise ins Kino zu gehen.

Gering bezahlte, eintönige Jobs führen nicht automatisch zu Langeweile

Doch das bedeutet laut Ohlmeier nicht, dass alle gering bezahlten Jobs zu Langeweile führten, und gut bezahlte Jobs niemals. Stattdessen gehe es um die Wahrnehmung der Menschen, die die Tätigkeit ausführten, betont sie: „Es geht eher um Passung zwischen Mensch und Arbeit, das Arbeitsumfeld und die Frage, wie sinnvoll ich meinen Job empfinde.“ Auch in hoch bezahlten und angesehenen Berufen sei Langeweile möglich. Als Beispiel nennt sie einen ihrer Bekannten: Ein Rechtsanwalt, der nur aus Sorge um Statusverlust nicht den Job wechseln möchte – sich als Anwalt aber viel langweilt.

Die Soziologin erklärt, dass Langweile auch oft Stigma anhaftet: Wer für das Unternehmen vermeintlich wichtig ist, der habe gar keine Zeit, sich zu langweilen. Langeweile werde auch oft als persönliches Versagen behandelt. Dabei hätten gerade Kinder, insbesondere Kleinkinder, oft noch gar nicht die Fähigkeit, sich selbst über längere Zeit zu beschäftigen, und brauchten dabei oft noch Hilfe von Erwachsenen. Auch für Jugendliche und Erwachsene gilt laut Ohlmeier: „Zum Teil können wir zwar selbst gegen unsere Langeweile vorgehen. Die Lebensumstände mancher Menschen machen es ihnen aber schwerer.“

Mütter und Väter gehen unterschiedlich mit Langeweile um

Für ihre Doktorarbeit wertete Ohlmeier Beiträge in Onlineforen aus, in denen sich Mütter über das Thema Langeweile austauschten. Das Ergebnis: Einige Mütter sahen ihre Rolle von Care-Arbeit und Haushalt als wichtig an und empfanden keine Langeweile. Diejenigen, die sich langweilten, hätten jedoch doppelt gelitten, so Ohlmeier. Sie litten an ihrer Langeweile „und daran, dass sie an den gesellschaftlichen Vorstellungen von guter Mutterschaft gescheitert waren. Sie dachten, dass die Mutterschaft sie vollkommen ausfüllen würde, und litten daran, dass es nicht so war.“

Ihre Elternzeit zu verkürzen und so die Ursache ihrer strukturellen Langeweile anzugehen, sei für sie jedoch nicht infrage gekommen. Sie hätten keine andere Betreuungsmöglichkeit und es hätte ihrer Vorstellung einer Mutter entgegengestanden. 

Stattdessen haben die Mütter online Vorschläge ausgetauscht, um ihre Tage zu füllen, beschreibt Ohlmeier: viel unterwegs sein, in den Zoo gehen oder zum Mutter-Kind-Yoga. Ihrer Ansicht nach der falsche Ansatz. Langweile entstünde nicht immer, weil man zu wenig tut, sondern auch, wenn man das Falsche tut: „Wenn eine Mutter mehr selbstbestimmte Zeit möchte, hilft es wenig, doppelt so häufig in den Zoo zu gehen.“

Bei Vätern sei dies anders. Sie suchten eher nach Auswegen und hätten eher das Gefühl, eine Wahl zu haben. „Bei Vätern gibt es nicht diese Vorstellung, dass sie außer ihrem Kind nichts anderes brauchen und ihnen der Sport, der Job und ein Hobby nicht fehlen“, so Ohlmeier. 

Was tun gegen Langeweile?

Dabei seien schöne Erlebnisse und Entertainment bei situativer Langeweile nicht unbedingt verkehrt, doch die Sinnhaftigkeit der Beschäftigung dürfe nicht zu kurz kommen. „Die Frage sollte nicht sein: Wie kann ich meine Langeweile minimieren? Sondern: Was weckt mein echtes Interesse?“

Oft könne man die Langweile im Alltag auch nicht umgehen – und sollte es laut der Soziologin auch nicht. Wichtig sei es, sich bewusst zu machen, wofür man die Langeweile aushält: Die Steuererklärung zu machen ist beispielsweise langweilig, hat aber ein wichtiges Ziel.

Doch auf Dauer ist Langeweile der Soziologin zufolge nicht erstrebenswert, erst recht nicht in großen Lebensbereichen wie im Job, Partnerschaft oder Elternsein. „Wenn ich mein Leben als langweilig empfinde, dann ist es wichtig, hinzuschauen und es zu verändern. Damit das für alle Menschen unabhängig von ihrer sozialen Position möglich wird, müssen wir Langeweile gesellschaftlich ernst nehmen“, fasst Ohlmeier zusammen.  

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