Unsere Städte könnten ruhiger, sicherer, großzügiger und gesünder sein, wenn wir unser Verhältnis zum Verkehr ändern würden. Der motorisierte Individualverkehr frisst den Platz, den wir für ein besseres Leben brauchen und vergiftet Luft und Umwelt. Wie könnte eine Lösung aussehen? Unser philosophischer Essay von Ines Maria Eckermann klärt auf.
Manche radeln zügig zur Arbeit, in Blouson und High Heels. Andere halten Händchen, während sie gemütlich in die Pedale treten. Seite an Seite durch eine Stadt. Ohne Verkehrslärm. Auf den Gehwegen begegnen sich alte Freunde und neue Bekannte, um zu plaudern – und finden einen Moment zur Ruhe. Die Stadt der Zukunft atmet mit sauberer Lunge und geht auf sanften Sohlen.
Blechlawinen in unseren Städten
Heute fahren fast doppelt so viele Autos durch Deutschland wie noch vor vierzig Jahren. Kein Wunder, dass die meisten davon fast leer sind. „Das Auto ist ein völlig ineffizientes Verkehrsmittel“, erklärt Uta Bauer vom Deutschen Institut für Urbanistik, denn in der Regel sitzen Menschen alleine im Auto. Den Rest der Zeit steht das Gefährt in der Gegend herum – und nimmt allen anderen Platz weg. Und selbst ein Auto, das nur in der Garage parkt, frisst den Raum, den man in überlaufenen Städten in Wohnfläche umwandeln könnte.
Uta Bauer meint, dass die autofahrende Mehrheit deutlich mehr Raum in der Stadt eingeräumt bekommt als Menschen, die einen schmaleren CO2-Fußabdruck haben. Allein der Liefer- und Schwerlastverkehr und der Transport von Menschen mit Behinderungen müsse bleiben – darüber hinaus seien keine Autos nötig. Eine Haltung, die vermutlich nicht jeder teilen dürfte.
Denn ebenso wie passionierte Autofahrer hat auch die Fahrzeugindustrie ein Interesse daran, dass der Pkw seine Vormachtstellung behält. Das ist nicht gerecht. Schließlich dürfen sich leidenschaftliche Kaffeetrinker auch nicht wünschen, dass Städte nach ihrer Vorliebe für koffeinhaltige Heißgetränke geplant werden. Oder dürfen Katzenliebhaber durchsetzen, dass Kratzbäume und Kletterstangen die Bürgersteige säumen? Natürlich wäre das absurd. Doch ist es weniger absurd, Städte nur nach den Interessen der Autoindustrie auszurichten? Am Ende steht eine Asphaltwüste wie Hannover.
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Ein Gedankenexperiment über Gerechtigkeit
„Eine nachhaltige Stadt ist eine, wo alle ihre Rechte bekommen“, findet deshalb Ulrich Petschow vom Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (Link). „Momentan sind die Rechte sehr ungleich verteilt. Es dominieren die, die in der Mitte der Straße fahren und auf kaum jemanden Rücksicht nehmen müssen.“ So betrachtet, lassen sich Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit kaum getrennt voneinander denken.
Doch wie soll Gerechtigkeit im öffentlichen Raum überhaupt aussehen? Ist das nicht ein zu abstraktes Konzept, um es auf so etwas Konkretes wie den Straßenverkehr anzuwenden? Nein, hätte der Philosoph John Rawls (1921–2002) gesagt. Um ein gerechtes Gesellschaftssystem zu schaffen, überlegte sich Rawls in den siebziger Jahren ein Gedankenexperiment, das sich auf alle moralischen Überlegungen übertragen lässt: den Schleier des Nichtwissens.
Damit meinte Rawls, dass wir politische und soziale Strukturen immer so gestalten sollten, als wüssten wir nicht, an welcher Stelle wir später selbst in dem geschaffenen System stehen. Werden wir reich oder arm sein, alt oder jung, werden wir in der Stadt oder auf dem Land leben, Auto fahren – oder eben nicht?
Wenn zwischen uns und der Antwort auf diese Fragen der Schleier des Nichtwissens liegt, so glaubte Rawls, werden wir gerechtere Pläne schmieden und bessere Gesellschaften planen. Hinter dem Schleier sind erst mal alle gleich. Und nur wer von dieser abstrakten Gleichheit ausgeht, kann gesellschaftliche Entscheidungen unparteiisch treffen. Das betrifft auch die Verkehrsplanung.
Auch unser Verkehr sollte unparteiisch sein
Klar, jenseits philosophischer Gedankenspiele werden wir nicht einfach in die Kaste der Radfahrer geboren oder kommen mit dem goldenen Lenkrad in der Hand zur Welt. Wir entscheiden uns meistens bewusst für das eine oder das andere.
Dennoch: Wer den Führerschein verliert, wird plötzlich feststellen, dass breitere Radwege eigentlich schon immer eine gute Idee gewesen wären. Wer umgekehrt, beispielsweise aus beruflichen Gründen, plötzlich viel im Auto sitzt, wird sich fragen, warum er plötzlich so häufig an der Ampel steht, um Fußgänger über die Straße zu lassen. Viele von uns wechseln außerdem jeden Tag mehrfach das Verkehrsmittel: Wir fahren mit dem Auto zum Bahnhof, steigen dort in den Zug zur nächsten Stadt, wo wir die U-Bahn zur Arbeit nehmen. Von der U-Bahn-Station zum Büro laufen wir zu Fuß. Abends nehmen wir schnell das Lastenrad, um einen Einkauf zu erledigen. Jedes dieser Verkehrsmittel konkurriert mit anderen; jedes davon sollte deshalb seinen gerechten Anteil am Verkehr bekommen.
Welches Fahrzeug werden wir morgen benutzen? Auf welche Fortbewegung sind andere angewiesen? Wir wissen es nicht. So kann der Schleier des Nichtwissens, von dem Rawls spricht, einen Hauch von Gerechtigkeit durch die Städteplanung wehen lassen. Der Philosoph war überzeugt: Ungleichheiten sind willkürlich. Momentan herrscht Willkür. Momentan ist der Platz auf den Straßen ungleich verteilt. Ulrich Petschow von Institut für ökologische Wirtschaftsforschung meint deshalb: „Die Landnahme des Automobils muss rückgängig gemacht werden.“ Andere Fachleute sehen das ähnlich. Alles andere sei nicht gerecht, willkürlich – und damit letztlich unmoralisch.
So könnte der öffentliche Raum neu verteilt werden
„Eigentlich ist es sogar eher eine Rückverteilung“, ergänzt Petschow. Denn die Städte auf Autos auszurichten, hatte weitreichende Folgen, die sich gar nicht so einfach wieder umkehren lassen. Und trotzdem muss es gemacht werden, wenn uns Gesundheit, Sicherheit und mehr Gerechtigkeit am Herzen liegen. Doch wie können die Unmotorisierten die Stadt zurückerobern? Uta Bauer und ihre Forschungskollegen vom Institut für Urbanistik (Link) haben dafür bereits viele Ideen gesammelt: „Der öffentliche Nahverkehr muss häufiger fahren, er muss verlässlicher und bequemer werden.“
Um auch überzeugte Autofahrer aus ihrem Hort der Einsamkeit in ein öffentliches Verkehrsmittel zu locken, müssen diese mehr Luxus bieten und leichter zu nutzen sein. „Städte und Verkehrsbetriebe müssen vernetzt denken und handeln“, schlägt Bauer vor. Das Stichwort dahinter lautet, etwas technisch, Multimodalität. Dann brauchen wir nicht zig Apps, Tarife und Tickets. Statt teurer und verschiedener Fahrscheine quer durch verschiedene Tarifzonen kaufen wir in einer nachhaltigen Zukunft nur noch ein einziges Ticket, mit dem wir erst in den Bus steigen, dann mit dem ICE in die nächste Stadt fahren und dort von einem Sammeltaxi ans Ziel gebracht werden. Mit einem Fahrschein, zu einem günstigen Preis. Man könnte den Nahverkehr sogar kostenlos machen, in Luxemburg und Augsburg wird das bald Realität.
Wie eine fußgängerfreundliche Stadt aussieht
Doch nicht nur längere Strecken müssen komfortabler zu bewältigen sein. Wer nicht in die Ferne schweifen will, soll das Gute zu Fuß finden. „Den Fußverkehr angenehmer zu machen, ist eine recht komplexe Aufgabe“, erklärt Bauer. „Denn dabei geht es nicht nur darum, von A nach B zu kommen, sondern man will sich auch aufhalten, verweilen, mit Leuten quatschen.“
Eine fußgängerfreundliche Stadt ist auch eine smarte Stadt. Sie hat deshalb breite Wege, sonst ist Ärger programmiert – schließlich denken die wenigsten Verkehrsteilnehmer regelmäßig über die andere Seite des rawlschen Schleiers nach. Die Wege sind gesäumt von Bänken zum Ausruhen oder zum Plausch mit Freunden. Und auch die Fassaden sollten die Menschen in Fußgänger verwandeln: Abwechslungsreiche Häuserfronten, kreative Boutiquen und Cafés machen den Spaziergang zu einem kleinen Erlebnis.
In der Stockholmer U-Bahn haben clevere Erfinder bereits mit spielerischen Elementen experimentiert und beispielsweise Treppen mit schwarz-weißer Folie und Drucksensoren in riesige Klaviere verwandelt. Das Ergebnis: Viel mehr Leute gingen lieber zu Fuß und spielten dabei ein Ständchen, statt die danebenliegende Rolltreppe zu nutzen. Leichtigkeit und Flexibilität sind die Zauberworte der utopischen Stadt. Und da kaum etwas leichter und flexibler ist als das Radeln, ist auch Petschow ein Freund des Fahrrads: „Wir müssen langsam mal umdenken: von car first auf bike first.“ Oder E-Bike, könnte man ergänzen.
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Vorschläge für eine fairere Stadt
Um diesen Gedanken voranzubringen schlägt Bauer vor: „Autofahren in der Stadt könnte durch eine City-Maut teurer werden, wie es in London und Stockholm gemacht wird.“ Dadurch müsse sich jeder überlegen, ob es ihm das wirklich wert ist. „Es muss sich auch an den Preisen zeigen, was sich die Gesellschaft leisten kann.“
Am einfachsten ist es, Parkplätze in andere Flächen umzuwandeln: So kommen in Amsterdam viele Hauptverkehrsstraße jetzt schon ohne parkende Autos aus – eine reale Utopie. Auf der Fläche, die sonst von einem SUV zugeparkt wurde, finden locker sechs Fahrräder Platz. Auf der fürs Parken eingesparten Fläche können Grünstreifen entstehen, auf denen Menschen picknicken, Federball spielen oder in Hochbeeten Gemüse ziehen. Das reduziert nicht nur den Flächenverbrauch für unbenutzte Verkehrsmittel, sondern auch die versiegelte Fläche in der Stadt.
Städten müssen umparken – in großem Stil
Damit Radfahren nicht nur gesund, sondern auch bequem im Alltag möglich ist, sollten Busse und Bahnen die Fahrradmitnahme in ihrer Planung gleich mitbedenken. Und am Ende der Fahrt warten Fahrradparkhäuser. Dort kann das Fahrrad sicher und platzsparend geparkt werden, bis sein Besitzer wieder nach Hause radeln möchte. In Kopenhagen, Amsterdam und Utrecht (siehe Bild oben) sind solche Parkhäuser längst angekommen. „Kopenhagen und Amsterdam haben schon vor 30 Jahren den Hebel umgelegt“, sagt Bauer. Da sei Deutschland noch weit hinterher. „In zehn Jahren wird sich aber schon viel getan haben“, ist sie sich sicher.
Für die Automobilindustrie würde eine solche Entwicklung düstere Zeiten einläuten, glaubt Ulrich Petschow: „Die Digitalisierung und die Elektrifizierung sind schon heute ein Problem, da sie viele Arbeitsplätze in der Zulieferindustrie überflüssig gemacht haben.“ Um ein Elektroauto zu bauen, sind heute deutlich weniger Arbeitskräfte nötig als früher: Schätzungen zufolge könnten dadurch bis 2035 rund 114.000 Arbeitsplätze verloren gehen (Link). Meint: Auch ohne Städte, die sich wandeln, könnte es den Arbeitskräften in der Automobilindustrie spätestens dann an den Kragen gehen, wenn die Roboter übernehmen. Die Wirtschaft muss folglich so oder so umdenken.
Das Auto verliert langsam seinen Status
Doch auch die Autobesitzer selbst müssen gedanklich umparken. „Ein Auto ist alles andere als ein günstiger Gebrauchsgegenstand, es ist eher eine kleine Wohnung“, sagt Petschow. Der Umweltexperte rät dazu, gedanklich davon Abstand zu nehmen, das Auto als Erweiterung unseres Selbst und als Statussymbol zu betrachten. Diese Geisteshaltung habe auch dazu geführt, dass sich Car Sharing bislang nicht gegen das eigene Auto durchsetzen konnte. Aktuell werden Leihautos eher zusätzlich zum eigenen Auto und nicht stattdessen verwendet. Wirklich nachhaltig wird Car Sharing erst, wenn mehrere Menschen in einem Auto sitzen und das Auto so häufig wie möglich genutzt und nur selten geparkt wird.
Vor allem Jüngere fördern diesen Wandel. Zukunftsforscher stellen immer wieder fest, dass gerade junge Menschen das Auto nicht mehr als Statussymbol benötigen: Sie inszenieren sich lieber über das neueste Smartphone, die innovativste Technik oder die Fernreise in exotische Länder (Quelle).
Fazit: Wer den Gedanken ernst nimmt, dass man mal auf dieser, mal auf jener Seite des Verkehrs stehen kann, wird zustimmen, dass der öffentliche Raum zurzeit sehr ungerecht verteilt ist. Viele Vorschläge können dazu beitragen, die Übermacht der Autos abzumildern: weniger Parkplätze, technologische Veränderungen, ein vernetzter öffentlicher Nahverkehr, die Umstellung des öffentlichen Raums auf „bike first“.
Am Anfang – und am Ende – steht die Erkenntnis, dass eine andere Verkehrsgestaltung nicht nur gerechter ist, sondern auch besser für unsere Gesundheit, die Umwelt und unsere Lebensqualität.
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