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Containern: Aktivistin wäre „ein Stück dankbar“ für Anzeige

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Marijan Murat/dpa

Beim Containern holen sich Aktivist:innen noch essbare Lebensmittel aus der Tonne. Bisher war das nicht erlaubt, das will die Bundesregierung aber ändern. Doch an der Idee der Entkriminalisierung gibt es Kritik – auch vonseiten der Umweltschützer:innen.

Sonntagabend in einem einsamen Gewerbegebiet im Großraum Stuttgart: Ein Auto hält unweit der Bundesstraße 27 im Hinterhof eines Supermarktes. Ein Mann und eine Frau steigen mit Plastiktaschen aus. Ihr Ziel: die Abfallcontainer des Geschäfts, aus denen sie ihren Eigenbedarf an Lebensmitteln für die kommende Woche herausfischen. Was sie nicht konsumieren können, wird verteilt.

Der Wagen von Ina und JJ, die zusammen in einer Wohngemeinschaft leben, ist nach einer halben Stunde vollgepackt: reife Bananen, ein Mandarinennetz mit einer einzigen zermatschten Frucht, grünliche Kartoffeln, zu weiche Avocados, mit Mehl bestäubte Müsliriegel und vieles mehr. „Für bestimmte Empfänger nehmen wir auch Sushi und Rinderrouladen mit“, erzählen die beiden Informatiker:innen. Sie ergattern überdies zwei Dutzend aus nicht ersichtlichen Gründen weggeworfene Schachteln mit Datteln. Mit einem kurzen Check im Internet schließen sie aus, dass es sich nicht um Ware aus einem Rückruf handelt. Was Informatiklehrerin Ina, 36, und Forscher JJ, 41, machen, nennt man Containern, und es ist in Deutschland nicht erlaubt.

Containern: Gesetzesänderung vorgeschlagen

Die Entnahme der Ware ist nach dem Gesetz Diebstahl, das Betreten des Firmengeländes Hausfriedensbruch. Wer verschlossene Container aufhebelt, macht sich auch noch der Sachbeschädigung schuldig. Doch die beiden selbst ernannten Lebensmittelretter:innen sind in langen Jahren des Containerns noch nie mit der Polizei aneinandergeraten. „Außer einer Begegnung mit zwei Security-Leuten ohne Folgen ist mir in acht Jahren nichts passiert“, erzählt Ina.

In der Bundesregierung wird gerade darüber diskutiert, wie man die jährlichen Lebensmittelverluste von bundesweit elf Millionen Tonnen am besten verringert. Ein Vorschlag des Landes Hamburg sieht vor, dass Containern nur noch bestraft werden soll, wenn ein Hausfriedensbruch vorliegt, „der über die Überwindung eines physischen Hindernisses ohne Entfaltung eines wesentlichen Aufwands hinausgeht oder gleichzeitig den Tatbestand der Sachbeschädigung erfüllt“. Wer also über eine niedrige Mauer steigt, um an den Abfallcontainer zu gelangen, und Lebensmittel mitnimmt, soll dafür nicht wegen Diebstahls belangt werden. Wer dafür ein Tor aufhebelt und beschädigt, müsste dagegen mit einer Strafe rechnen. Justizminister Marco Buschmann (FDP) und Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) werben für den Vorstoß.

Kritische Stimmen: „Da braucht es ein umfassenderes Konzept“

Baden-Württembergs Justizministerin Marion Gentges will den Vorschlag prüfen, spricht aber von „Augenwischerei“: „Tatsächlich gibt es doch kaum Container, aus denen man etwas herausnehmen kann, ohne zugleich einen strafbewehrten Hausfriedensbruch oder eine Sachbeschädigung zu begehen.“ Auch jetzt schon könnten Staatsanwaltschaften Verfahren gegen Menschen, die containern, wegen Geringfügigkeit einstellen. Insofern werde der Vorstoß an der bestehenden Praxis nichts ändern.

„Leuten zu ermöglichen, in Containern nach Lebensmitteln zu wühlen, kann nicht unsere Antwort auf die drängenden Fragen der Lebensmittelverschwendung sein. Da braucht es ein umfassenderes Konzept“, sagt die Christdemokratin.

„Das geltende Strafrecht und Strafprozessrecht halten bereits ausreichend Instrumente vor, um allen denkbaren Fallkonstellationen Rechnung zu tragen“, erläutert der Sprecher des Handelsverbands Lebensmittel, Christian Böttcher. Er warnt vor Gesundheitsrisiken, etwa wenn zurückgerufene Waren in den Behältern landen. „Da können auch mal nicht gleich sichtbare Fremdkörper wie Metallsplitter drin sein.“ Händler:innen, die ihre Abfalltonnen nicht vor unbefugtem Zugriff schützen, könnten zumindest theoretisch in Mitverantwortung genommen werden, wenn sie den Zugang zur Mülltonne bewusst ermöglichten.

Containern legalisieren: „nur eine Symptombekämpfung und keine Ursachenbekämpfung

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Einige Supermärkte scheinen das Containern zu dulden. (Marijan Murat/dpa)

Auch die beiden Aktivist:innen aus Stuttgart halten nicht viel vom Ansinnen der Ampel: „Containern legalisieren ist ja auch nur eine Symptombekämpfung und keine Ursachenbekämpfung“, meint JJ. „Es sollte wirtschaftliche Anreize wie Steuererleichterungen für die Läden geben, die nichts wegwerfen.“

Es scheint Supermärkte zu geben, die Containern dulden. An diesem Sonntag lassen die beiden Aktivist:innen auf ihrer üblichen Tour keine Angst vor Entdeckung erkennen. Als sie sich der Laderampe nähern, geht ein Licht an, sodass sie beim Durchwühlen der Behälter nicht mit einer Taschenlampe hantieren müssen. Auch eine Videokamera bringt die beiden nicht aus der Ruhe. Ina wäre eine Anzeige mit Gerichtsverfahren gar nicht unlieb. „Ich wäre ein Stück dankbar, denn dann könnten wir das Thema besser ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen.“

JJ fügt hinzu: „Ich finde inzwischen, ich habe mehr Recht, noch genießbare Lebensmittel rauszuholen, als die Firmen das Recht haben, Lebensmittel wegzuwerfen.“ Er und seine Mitbewohnerin berichten von enormen Ersparnissen im Alltag. Für Essen geben sie so gut wie nichts aus. Ina muss lange nachdenken, bevor sie die Frage nach zusätzlichen Einkäufen beantwortet. Sie nennt Hülsenfrüchte, Öle, Tofu.

Händler vs. Verbraucher:innen: Wer produziert mehr Lebensmittelabfall?

In der Debatte über Vergeudung von Fläche, Wasser und Energie durch weggeworfene Lebensmittel wird auch über Zahlen gestritten. Der Handelsverband etwa betont, er sei uneingeschränkt dafür, der Verschwendung Einhalt zu gebieten – „auch wenn wir mit sieben Prozent für weit weniger Verlust als die privaten Verbraucher mit 59 Prozent oder 6,5 Millionen Tonnen verantwortlich sind.“ Böttcher fügt hinzu: „Auf die Idee, private Abfalltonnen für Mülltaucher freizugeben, kommt ja verständlicherweise auch niemand.“

Die Ernährungsexpertin der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg, Vanessa Holste, relativiert diese Zahlen und warnt davor, die Konsument:innen an den Pranger zu stellen. Nicht weiter zu verwertende Abfälle wie Kaffeesatz, Knochen, Kartoffel- und Eierschalen machten fast 60 Prozent des Lebensmittelmülls in Privathaushalten aus. Die beiden Bundesminister zäumen das Pferd von hinten auf, meint die Ernährungswissenschaftlerin Holste.

„Man sollte lieber dafür sorgen, dass verzehrfähige Lebensmittel erst gar nicht in der Tonne landen“. So sortierten viele Händler unnötig Produkte schon Tage vor dem Erreichen des Mindesthaltbarkeitsdatums (MHD) aus. „Dieses gibt nur den Zeitpunkt an, bis zu dem der Hersteller garantiert, dass das ungeöffnete Lebensmittel bei durchgehend richtiger Lagerung seine spezifischen Eigenschaften, wie Geruch und Geschmack behält“.

70 Kilo Ausbeute durch Containern

Auch Ina und JJ verschmähen nicht grundsätzlich Waren mit abgelaufenem MHD. Die beiden bringen an diesem Abend eine Ausbeute von rund 70 Kilogramm nach Hause. So recht mögen sie sich aber nicht darüber freuen. „Für heute haben wir viel für uns und andere rausgeholt, aber unser Ziel ist ja eigentlich, gar nichts mehr zu finden“, erklärt JJ.

Einige Produkte landen in der eigenen Küche, andere im für jedermann zugänglichen Kühlschrank vor der WG-Haustür. Nicht mehr ganz taufrisches Brot kommt in einen Holzschrank daneben. Die ersten Interessenten lassen nicht lange auf sich warten. Eine Mutter mit zwei Kindern sucht sich Bananen, Äpfel, Eier, Sahne und Schokoriegel aus und verschwindet in der Dunkelheit.

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Die überschüssigen Mandarinen kommen in einen für alle zugänglichen Schrank eines „Fairteilers“. (Marijan Murat/dpa)

Digitalisierung im Kampf gegen Lebensmittelverschwendung

Wäre Digitalisierung für den Handel ein Instrument, um Überschuss zu verringern? Lösungen, bei denen Abverkaufs- und Bestelldaten miteinander verglichen und automatisch angenähert werden, seien zwar hilfreich, meint Böttcher. „Aber bei bis zu 50.000 Produkten pro Laden werden Angebot und Nachfrage nie genau in Deckung zu bringen sein.“ Ansonsten seien die Tafeln beim Handel beliebte Abnehmer für Ware mit kurzem MHD.

Auch Justizministerin Gentges sieht einen Weg zu gezielter Verteilung von Lebensmitteln in enger Kooperation von Supermärkten und sozialen Einrichtungen. Verbrauchervertreterin Holste setzt unter anderem auf den altbewährten Einkaufszettel: „Der zwingt einen, zu überlegen, was man wann und wie viel man isst und was man noch im Kühlschrank hat.“ Inas Rat lautet: „Nie hungrig einkaufen gehen.“

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