Utopia Image

Correctiv-Recherche zeigt: So schwierig sind Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland

Schwierige Lage für Schwangerschaftsabbrüche
Foto: © Chanintorn.v – stock.adobe.com

Wer eine Schwangerschaft abbrechen muss oder möchte, hat es in Deutschland auch im Jahr 2022 noch schwer. Eine neue Correctiv-Recherche zeigt, wo die Schwierigkeiten liegen. Sie ist ein unschöner Reminder, wie unwürdig unsere Gesellschaft mit Betroffenen umgeht. Ein Kommentar.

Rund 100.000 Schwangerschaftsabbrüche gibt es in Deutschland jährlich. Vollkommen egal, wie man zu dem Thema steht, diese Zahl ist real. Und sie zeigt: Es gibt einen hohen Bedarf an entsprechender medizinischer Versorgung. Eine neue Veröffentlichung des Recherchezentrums Correctiv gibt erstmals einen umfassenden Einblick, wie schlecht die Versorgungslage in Deutschland für ungewollt Schwangere ist.

Triggerwarnung: Im Text geht es um schlechte Erfahrungen mit Schwangerschaftsabbrüchen. Der Inhalt kann belastend sein.

Unwürdige Behandlung

In Kooperation mit Lokalredaktionen und der Plattform „Frag den Staat“ hat Correctiv über 1.500 Betroffene befragt und kann so einen Eindruck von den oft negativen Erfahrungen der Menschen geben, die Schwangerschaftsabbrüche erlebt haben. Zudem hat das Recherchenetzwerk ermittelt, wie viele öffentliche Kliniken den Eingriff überhaupt durchführen.

Das Bild, das hier entsteht, ist mehr als bedrückend. Jeder Person, die – aus welchen Gründen auch immer – einen Schwangerschaftsabbruch in Erwägung zieht, sollte eine vorurteilsfreie und medizinisch angemessene Gesundheitsversorgung zustehen. In der Bundesrepublik Deutschland ist man im Jahr 2022 davon weit entfernt.

Es mangelt nicht nur an öffentlichen Informationen und Ärzt:innen, die Abtreibungen durchführen: Auch die Art, wie mit Betroffenen umgegangen wird, ist einer modernen Gesellschaft nicht würdig.

Wenige Kliniken, große Entfernungen, schlechte Versorgung

Correctiv hat die erste Datenbank öffentlicher Kliniken erstellt, die Schwangerschaftsbbrüche durchführen. Die Recherche zeigte: Gerade einmal 60 Prozent der Krankenhäuser in öffentlicher Hand führen den Eingriff überhaupt durch – und nur 38 Prozent nach der sogenannten Beratungsindikation, d.h. wenn keine medizinischen oder kriminologischen Gründe vorhanden sind (s. unten).

Auch bei vielen niedergelassenen Gynäkolog:innen sind keine Schwangerschaftsabbrüche möglich. Und: Überhaupt an Informationen zu kommen ist für Betroffene auch heute noch oft extrem schwierig. Radikale Abtreibungsgegner:innen dürfen im Netz ungehindert Propaganda verbreiten. Ärzt:innen dagegen trauen sich noch immer aufgrund rechtlicher Unklarheiten und, das muss man so klar sagen, auch aus Angst vor aggressiven Abtreibungsgegner:innen oft nicht, überhaupt Informationen öffentlich zu machen.

„Man kann sich nicht über Praxen informieren, da diese öffentlich nicht bekannt sein wollen. Als Frau fühlt man sich wie ein Schwerverbrecher. Schrecklich. Und in einer Bettlerrolle.“

(Anonym)

Das führt nicht selten dazu, dass Betroffene oft lange suchen müssen, mitunter viele entwürdigende Gespräche führen müssen und dann lange Wege zurücklegen, um den Eingriff vornehmen zu lassen. Correctiv hat beispielsweise errechnet, dass Schwangere aus dem bayerischen Regensburg rund 100 Kilometer zur nächstgelegenen öffentlichen Klinik reisen müssen, die Abbrüche durchführt.

„Einen Arzt zu finden, war sehr schwer. Erstens war Urlaubszeit und von den drei Ärzten waren zwei im Urlaub. Der andere, der Zeit hatte, war so unfreundlich am Telefon, dass man gedacht hat, man macht einen Termin im Schlachthof aus. Die anderen Ärzte in der Region haben es in der siebten Schwangerschaftswoche nicht mehr mit Tabletten gemacht. Also musste ich fast 200 Kilometer in ein anderes Bundesland fahren, um einen Arzt zu finden, der den Eingriff macht.“

(Anonym)

Schwangerschaftsabbrüche: Die Lage in Deutschland

In Deutschland sind Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich rechtswidrig. Ausnahme: Wenn die Schwangerschaft aus einem sexuellen Übergriff resultiert (kriminologische Indikation) oder wenn sie eine Gefahr für die Gesundheit der schwangeren Person darstellt (medizinische Indikation). Diese Fälle machen laut Correctiv jedoch gerade einmal vier Prozent aller gemeldeten Schwangerschaftsabbrüche aus.

Straffrei bleibt ein Abbruch auch, wenn die betroffene Person und das medizinische Personal bestimmte Vorgaben erfüllen (Beratungsindikation): Betroffene müssen sich von einer staatlich anerkannten Stelle beraten lassen und danach mindestens drei Tage warten. Außerdem ist der Abbruch nur innerhalb der ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft möglich.

Übergriffiges Personal, schlechte Beratung, unzureichende medizinische Versorgung

In den Befragungen von Correctiv und den Recherchepartner:innen berichtete jede fünfte betroffene Person von Missständen bei der verpflichtenden Beratung. Schwangere seien erniedrigt und bedrängt worden, viele empfanden die Gespräche als übergriffig.

„Die Beraterin machte mir Vorwürfe, ich würde mein Leben über das meines ungeborenen Kindes stellen und sagte, wir Frauen seien auf der Welt, um Kinder zu bekommen.“

(Anonym)

Mit dem „Beratungsschein“, den Betroffene brauchen, um den Eingriff straffrei machen lassen zu können, ist der Schwangerschaftsabbruch eigentlich rechtlich und medizinisch unproblematisch – zumindest, wenn die medizinische Versorgung ausreichend ist.

Correctiv zufolge gab etwa jede vierte betroffene Person an, das medizinische Personal habe sich ihnen gegenüber unprofessionell verhalten, über 350 sprachen von einer schlechten medizinischen Versorgung. Es ist hier die Rede von Demütigungen und Beleidigungen, aber auch von mangelnder Nachsorge. Mehrere befragte Personen litten hinterher an massiven Ängsten vor dem Besuch bei Gynäkolog:innen.

Der Teufelskreis der Tabuisierung

Das Thema Schwangerschaftsabbrüche ist sensibel und in der Gesellschaft noch immer erschreckend stark umstritten. Es ist gut, dass Correctiv die Problematik mal wieder ins Bewusstsein ruft. Die Recherche macht nicht nur einen Missstand offenbar. Sie macht auch persönliches Leid öffentlich – Leid, das fast 30 Jahre nach der Einführung der Beratungsregelung vollkommen unnötig ist.

Schwangerschaftsabbrüche sollten nicht kriminalisiert werden.
So wäre es richtig: „Mein Körper, meine Entscheidung“ (Foto: CC0 Public Domain / Unsplash – Gayatri Malhotra)

Doch wir hängen noch immer im Teufelskreis der Tabuisierung: Schwangerschaftsabbrüche sind aus vielfältigen Gründen – ein Gruß in Richtung Kirche – ein Tabu-Thema. Das führt dazu, dass Betroffene sich unzureichend informieren können und ja, auch, dass sie schlecht behandelt werden. Gleichzeitig führt es dazu, dass sie sich kaum öffentlich gegen diese unwürdige Behandlung wehren, weil sie Angst haben müssen vor Unverständnis und Angriffen. Das Gefühl, wie Verbrecherinnen behandelt zu werden, beschreiben mehrere Betroffene in der Correctiv-Recherche. Wer sich als Verbrecherin fühlt, will nicht über die gemachten Erfahrungen sprechen. Und so können die massiven Misstände fortbestehen.

Dabei ist es vernünftig nicht nachzuvollziehen, dass wir als Gesellschaft solche Misstände hinnehmen, dass wir Menschen in einer oftmals schwierigen Lage einfach allein lassen oder sie, noch schlimmer, stigmatisieren. Niemand sollte sich heute für die Entscheidung, eine Schwangerschaft zu beenden, schämen müssen. Jede betroffene Person sollte, egal in welcher Situation, Zugang zu adäquater medizinischer Versorgung haben. Das haben Staat und Länder, das haben Kliniken, das haben aber auch wir als Gesellschaft sicherzustellen.

Bitte lies unseren Hinweis zu Gesundheitsthemen.

** mit ** markierte oder orange unterstrichene Links zu Bezugsquellen sind teilweise Partner-Links: Wenn ihr hier kauft, unterstützt ihr aktiv Utopia.de, denn wir erhalten dann einen kleinen Teil vom Verkaufserlös. Mehr Infos.

Gefällt dir dieser Beitrag?

Vielen Dank für deine Stimme!

Verwandte Themen: