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Rechtsanwältin: „Gewalt gegen Frauen ist fest verankert im Patriarchat“

Gewalt ist ein großes gesellschaftliches Problem
Foto: unsplash / engin akyurt

Laut der Rechtsanwältin Christina Clemm haben „alle verinnerlicht, dass sexualisierte Übergriffe stattfinden“. Sie würden „normalisiert“. Gewalt gegen Frauen müsse aber strukturell bekämpft werden, so die Frau, die Betroffene seit fast 30 Jahren vertritt.

Christina Clemm ist Rechtsanwältin für Straf- und Familienrecht in Berlin. Sie vertritt Betroffene geschlechtsspezifischer sowie rassistisch motivierter Gewalt, kürzlich ist ihr Buch „Gegen Frauenhass“ erschienen. Im Spiegel-Interview erklärt die Juristin, dass antifeministische Tendenzen fest in der Gesellschaft verwurzelt sind. Und vor allem in der Politik kaum ein Interesse daran bestehe, die Ursachen zu bekämpfen. Vielmehr würden die Symptome bearbeitet.

Die Rechtsanwältin ist davon überzeugt: „Alle haben verinnerlicht, dass sexualisierte Übergriffe stattfinden, sie werden normalisiert.“ Clemm verweist auf Studien, die zeigten, „dass jede dritte bis vierte Frau in Deutschland schon körperliche oder sexuelle Übergriffe in einer Partnerschaft erlebt hat“. Darüber hinaus gibt es die Fälle, bei denen nicht der – meist männliche – Partner die Tat begeht. Frauen mit Behinderungen oder Migrationshintergrund sowie queere Menschen sind hiervon besonders betroffen.

„Gewalt gegen Frauen stabilisiert das aktuelle System“

„Es wird nicht analysiert, woher dieser Frauenhass eigentlich kommt. Auch nicht, wie wir die Gesellschaft umbauen müssten, um geschlechtsbezogene Gewalt zu verhindern“, kritisiert Clemm. Denn: „Gewalt gegen Frauen ist fest verankert im Patriarchat, sie stabilisiert das aktuelle System.“ Für die Rechtsanwältin würde eine Ursachenbekämpfung damit einhergehen, dass Menschen – insbesondere Männer – ihre Privilegien aufgeben müssten. Das würde aber nicht passieren, da sich die Gesellschaft gut mit den bestehenden Verhältnissen eingerichtet hätte.

Das gesellschaftliche Mindset gründet laut der Juristin auf „frauenfeindlichen Ressentiments“. Damit sind geschlechtsspezifische Zuschreibungen gemeint, mit denen Menschen sozialisiert werden. Demnach seien Frauen emotionaler, sorgender, schutzbedürftiger und weniger stabil. Männer hingegen wird nachgesagt, leistungsfähiger, analytischer oder tatkräftiger zu sein. „In der Zeit, in der Frauen dagegen ankämpfen, haben Männer längst ihre Interessen durchgesetzt“, so Clemm.

„Klare politische Entscheidung“, das Problem nicht ernst genug zu nehmen

Aus ihrer Sicht sind Reformen des Sexualstrafrechts richtig und wichtig, gleichzeitig sei die Justiz „ein Abbild der Gesellschaft“ – sprich tendenziell frauenfeindlich. Clemm nennt im Gespräch mit dem Spiegel ein Beispiel: „Die Gerichtsverfahren sind so gestaltet, dass sie für Opfer von sexualisierter Gewalt schwer erträglich sind. Zum Beispiel müssen sie meist gemeinsam mit dem Angeklagten im Gerichtssaal sitzen. Doch während er schweigen oder lügen darf – was rechtsstaatlich selbstverständlich richtig ist –, muss das Opfer sich in einer eher feindlichen Situation befragen lassen. Videovernehmungen werden nur sehr selten zugelassen.“ Gemeinsam mit dem Täter im selben Raum zu sein, kann laut Clemm nicht angstbefreit sein.

Die Rechtsanwältin wünscht sich von der Politik, die Problematik ernster zu nehmen. Es sei eine „klare politische Entscheidung“, etwa neue Stellen für Staatsanwält:innen in Berlin zu schaffen, jedoch offenbar keine innerhalb der Abteilung Sexualdelikte. Auch auf Bundesebene behandelt nur das Familienministerium das Thema Gewalt gegen Frauen, anstatt das Innenministerium, wie es Clemm für richtig halten würde. „Es geht doch hier um die innere Sicherheit, schließlich ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung potenziell betroffen.“

Kritik am Plan der FDP, das Unterhaltsrecht zu reformieren

Der Vorstoß der FDP, das Unterhaltsrecht zu reformieren, bewertet die Expertin ebenfalls als problematisch für Frauen. Demnach sollen unterhaltspflichtige Eltern, die nach einer Trennung ihre Kinder zu 30 oder 40 Prozent mitbetreuen, weniger bezahlen.

Clemm sieht daran eine erhebliche Belastung von Frauen, die in Deutschland mehr als 80 Prozent der Alleinerziehenden ausmachen. „Statt Maßnahmen zu finden, wie man Väter, die keinen Unterhalt zahlen, reglementieren kann, sagt man, Frauen bräuchten Anreize zum Arbeiten oder könnten ihre Kinder nicht gut fördern“, resümiert die Rechtsanwältin. Das Unterhaltsrecht habe Clemm zufolge viel mit dem Thema Gewalt zu tun, da es um die „Aushöhlung des Sozialstaats“ gehe, die vor allem Frauen und Personen mit Migrationsgeschichte betreffe. „Viele von ihnen können der Gewalt nicht entkommen, weil sie finanziell von dem schlagenden Partner abhängig sind.“

Daher brauche es für diese Fälle, so die Juristin, mehr Frauenhausplätze und Beratungsstellen; Pflichtfortbildungen für alle Jurist:innen, die mit geschlechtsbezogener Gewalt in Kontakt kommen, sowie ausreichend fachkundige Therapeut:innen und Ärzt:innen.

Quelle: Spiegel

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