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Tödliche Proteste im Iran: Was du darüber wissen musst

Tödliche Proteste im Iran: Was du darüber wissen musst
Foto: Screenshot Twitter Natalie Amiri / ARD-Weltspiegel

Die Proteste nach dem Tod der 22 Jahre alten Mahsa Amini im Iran halten an. Die Gewalt nimmt zu, Menschen sterben – die Nachrichten dazu überschlagen sich. Vier Fragen und Antworten, die einen Überblick zur aktuellen Lage im Iran geben.

Seit nunmehr vier Wochen halten die Proteste im Iran an. Dabei nimmt die Gewalt Augenzeug:innen und Beobachter:innen zufolge zu. Denn die Führung geht inzwischen mit enormer Härte gegen Kritiker:innen des Regimes vor, lässt sie festnehmen. Menschen sterben – darunter Jugendliche. Insbesondere Frauen, die sich solidarisieren, und den Widerstand anführen, riskieren tagtäglich ihr Leben. Auslöser für die Demonstrationen war der Tod der 22-jährigen Mahsa Amini. Sie starb am 16. September, nachdem sie von der iranischen Sittenpolizei festgenommen worden war. Mahsa Amini, so wird berichtet, wurde als Jina Amini geboren, auch der Name Zina wird genannt. Unterschiedlichen Quellen zufolge wurde Aminis Eltern jedoch ihr kurdischer Rufname verboten. Kurd:innen bilden im Iran eine Minderheit, die sich immer wieder mit Repressionen konfrontiert sehen.

Was ist mit Mahsa Amini passiert?

Berichten zufolge hat die Sittenpolizei die junge Frau festgenommen, weil sie den Hidschāb in der Öffentlichkeit nicht korrekt getragen und somit gegen die islamische Kleiderordnung verstoßen habe. Die Menschenrechtsorganisationen Amnesty International spricht von einer „gewaltsamen Festnahme“, die iranische Polizei habe Amini demnach in ein Auto gestoßen und sie während ihres Transports in das Vozara-Gefängnis in Teheran geschlagen.

Auf der Polizeiwache soll Amini laut übereinstimmenden Berichten zusammengebrochen sein. Drei Tage später starb die 22-Jährige, nachdem sie ins Koma gefallen war. Die genauen Todesumstände sind bislang ungeklärt. Die iranische Polizei erklärte, dass Amini mit anderen Frauen auf eine Polizeidienststelle gebracht worden sei, um über die islamischen Kleidervorschriften unterrichtet zu werden. Dort sei sie in einem Besprechungsraum „plötzlich ohnmächtig“ geworden und ins Krankenhaus gebracht worden, wo sie verstarb.

Ein im öffentlichen Fernsehen gezeigtes Überwachungsvideo des Polizeireviers zeigt, wie eine Frau nach einem Gespräch mit einer Polizistin zusammenbricht. Die Polizei behauptet, die Frau habe einen Herzanfall erlitten. Sowohl die Polizei als auch das Staatsfernsehen bestätigte den Tod der Frau.

Laut dem Sender 1500tavsir, der über Menschenrechtsverstöße in Iran berichtet, soll sie einen Schlag auf den Kopf erlitten haben. Amnesty International fordert eine „unabhängige“ und „unparteiische“ Untersuchung des Vorfalls. In einem kürzlich veröffentlichten Abschlussbericht, behaupten die iranischen Behörden, Amini sei infolge einer Krankheit gestorben – und nicht an nicht an Schlägen und Misshandlungen, von denen Augenzeug:innen berichtet haben.

Warum hat Aminis Tod so heftige Proteste ausgelöst?

Die Nachricht über Aminis Tod in Polizeigewahrsam hat in kurzer Zeit Proteste in mehreren Städten im Iran ausgelöst.

Zunächst forderten Demonstrant:innen in Aminis Heimatstadt Saghes, die in der kurdischen Region im Nordwesten des Irans liegt, die Aufklärung der Todesumstände. Vor dem dortigen Gouverneursbüro skandierten sie und warfen mit Steinen, bereits da ging die Polizei mit Tränengas gegen die Demonstrierenden vor. Auch vor dem Krankenhaus in Teheran, in dem die 22-Jährige verstarb, versammelten sich Menschen.

In sozialen Netzwerken verbreitet sich die Nachricht über Amini rasant. Auf Twitter war der Hashtag #Mahsa_Amini zwei Tage nach ihrem Tod mit fast 1,5 Millionen Tweets an erster Stelle. Bereits zu diesem Zeitpunkt deutete sich an, dass sich der Zorn der Kritiker:innen nicht mehr nur gegen die Sittenpolizei im Land richtet, sondern gegen die iranische Führung. „Nieder mit der Islamischen Republik“ und „Tod dem Diktator“ sind inzwischen die meistgerufenen Slogans auf den Protesten, wie die Tagesschau und der ARD-Weltspiegel berichten.

Der politische Analyst und Leiter der Politikberatung Orient Matters in Berlin, David Ramin Jalilvand, schätzt im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung die aktuelle Lage wie folgt ein: Die Menschen im Iran seien „sich bislang in der Ablehnung der jetzigen Verhältnisse einig und überzeugt, dass das System der Islamischen Republik nicht mehr reformierbar sei, sowohl die Menschen in Iran als auch die in der Diaspora.“

Datenjournalist:innen der BBC haben versucht, das Ausmaß der Proteste zu dokumentieren. Eine Auswertung von mehr als 1000 Videos, Hashtags und Geo-Locations konnten täglich mehrere dutzende Proteste in verschiedensten Teilen des Landes nachweisen. Expert:innen sprechen von einer „neuen Dimension“ des Protests. Auch, weil die Orte neu sind: Immer mehr Videos zeigen Proteste von Schüler:innen, wie sie unter anderem das Bild des Revolutions- und Religionsführers Ayatollah Ali Chamenei und seines Vorgängers von Klassenzimmerwänden reißen.

Aufnahmen zeigen vorwiegend Frauen, wie sie sich auf offener Straße ihrer Kopfbedeckungen entledigen und sie demonstrativ verbrennen. Das Abschneiden der eigenen Haare ist zum Symbol des Freiheitskamfes und der Solidarität mit den Menschen im Iran geworden.

Warum schwindet der Rückhalt für die iranische Führung im Land?

Die Gründe, warum der Rückhalt für die iranische Regierung schwindet, sind komplex und historisch bedingt vielschichtig.

Zum einen gehen Iraner:innen auf die Straße, um für die Rechte der Frauen im Land zu kämpfen. Denn seit der Islamischen Revolution im Jahr 1979 gelten dort strenge Kleidungsvorschriften für Frauen – die Proteste setzen sich daher mitunter für Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und körperliche Unversehrtheit ein.

Zum anderen ächzt die Bevölkerung seit Jahren unter den ökonomischen Problemen des Irans. Auch wenn Proteste regelmäßig im Keim erstickt werden, flammen sie immer wieder auf. Korruption und Misswirtschaft, hohe Lebensmittelpreise, Wasserknappheit oder weil Arbeiter:innen und Rentner:innen Gehälter nicht ausgezahlt wurden, haben Menschen in der Vergangenheit auf die Straße getrieben, wie die Tagesschau schreibt. Aber auch Sanktionen der internationalen Staatengemeinschaft – etwa infolge des Atomabkommens, das seit 2018 auf Eis liegt – verschärfen die Lage im Land und den Unmut der Bevölkerung.

Zum Hintergrund: Das Atomabkommen soll (vereinfach gesagt) den Bau einer iranischen Atombombe verhindert. Dazu legt der Westen dem Staat mittels eines Vertrags strikte Kontrollen auf. Im Gegenzug sollen die Wirtschaftssanktionen gegen Teheran abgebaut werden.

Das Problem: Die aktuellen Proteste erschweren die Verhandlungen um einen neuen Vertrag – und könnten somit eine Verschärfung der wirtschaftlichen Situation zur Folge haben, sollte das aktuelle Regime bestehen bleiben. Die USA gaben bereits Strafmaßnahmen gegen sieben Regimevertreter:innen im Iran bekannt, die an der Unterdrückung der Protestwelle beteiligt sind. Die EU will bald nachziehen.

Kommt es zu einem Regime-Wechsel im Iran?

Das kann man zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Beobachter:innen sprechen von einer Zunahme der Gewalt durch iranische Behörden, auch die Gewaltbereitschaft auf Seiten der Demonstrant:innen steigt demnach.

Amnesty International dokumentiert die Gewalt gegen Demonstrant:innen im Iran. Sicherheitskräfte setzten etwa scharfe Munition, Schrotkugeln und andere Metallgeschosse ein. Es gebe zudem Berichte über massive Schläge sowie geschlechtsspezifische und sexualisierte Gewalt gegen Frauen, teilte mit. Amnesty habe zudem den Tod von Dutzenden Frauen, Männern und Kindern dokumentiert, gehe aber von einer noch höheren Zahl von Todesopfern aus. Staatsmedien berichten bislang von mehr als 40 Toten.

Vor der Sorge eines langfristigen Chaos oder sogar einem Bürgerkrieg ist laut dpa die Rede. Wegen der Situation müssen Händler:innen ihre Läden ganz oder früher schließen. Hinzu kommt die Internetsperre, die das Regime verhängt hat, und das nicht nur die Presse- und Informationsfreiheit einschränkt, sondern de facto auch alle Online-Geschäfte lahmgelegt hat.

Der Umsturz des Systems scheint bislang insofern unrealistisch, als dass es weder im In- noch im Ausland eine ernstzunehmende Opposition gibt, schreibt die dpa. „Wirklich gefährlich könnte es für die Islamische Republik in ihrer jetzigen Form werden, wenn es aus den Reihen der Revolutionsgarden einen Putsch gäbe“, glaubt Analyst Jalilvand. Laut ihm könnte die Folge eine Militärdiktatur sein. Ob sich diese dann wirklich zu mehr persönlichen Freiheiten führen würde, sei fraglich. Die kommerziellen Interessen der Garden und damit auch die ökonomischen Probleme großer Teile der Bevölkerung würden seiner Einschätzung nach bestehen bleiben.

Auch fehle es bislang an einer politischen Vision für das Land, hinter der sich die Mehrheit der Iraner:innen versammeln könne. „Die Menschen diskutieren darüber, wie ein Danach aussehen könnte. Sie erörtern dabei grundsätzliche politische Fragen ebenso wie konkrete Anliegen, etwa zu sozialer Gerechtigkeit oder zur Rolle des Staats in der Wirtschaft“, so Jalilvand weiter im Gespräch mit der SZ. Ein „Gamechanger“ wäre jedoch der Tod des geistlichen Oberhaupts Ali Chamenei, der auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist. Er leidet seit Jahren an Krebs.

Ein Einlenken der iranischen Führung ist aber nicht in Sicht. Vize-Innenminister Madschid Mirahmadi erklärte die Proteste sogar für beendet – und kündigte an, härter gegen die Demonstrierenden vorzugehen.

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