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Werte driften global auseinander: Forschende fürchten Konflikte

Studie über gloabe Werte
Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa // Mark/EPA/dpa

Vielfach wurde angenommen: Werden Länder wohlhabender, nehmen Toleranz und Offenheit zu. Analysen zeigen nun, dass Staaten Asiens und Afrikas diesem westlichen Weg keineswegs folgen.

Die Wertvorstellungen westlicher und anderer Gesellschaften unterscheiden sich einer Studie zufolge zunehmend. In den vergangenen 40 Jahren seien sich Länder im Zuge von Globalisierung, Massenmedien und der Verbreitung von Technologien zwar in vielen Aspekten ähnlicher geworden – kulturelle Werte zählten jedoch nicht zwingend dazu, berichten US-Forscher Joshua Conrad Jackson und Danila Medvedev im Fachmagazin Nature Communications über Ergebnisse wiederholter Umfragen unter rund 400.000 Menschen in 76 Ländern.

Demnach haben sich die Wertorientierungen insbesondere für Toleranz und Offenheit in den vergangenen vier Jahrzehnten zwischen Ländern auf verschiedenen Kontinenten auseinanderentwickelt. Innerhalb von Kontinenten wurden sie ähnlicher. Die Daten zeigen auch, dass sich die Wertorientierungen westlicher Länder mit hohem Einkommen, darunter auch Deutschland, besonders von denen anderer Länder unterscheiden.

Wohlstand sorgt nicht automatisch für liberale Werte

Eine Theorie besagt den Forschenden zufolge, dass mit zunehmender Modernisierung und ökonomischem Wohlstand weltweit verstärkt liberale, individualistische Werte, die persönliche Rechte und Freiheiten betonen, übernommen werden. Insbesondere in asiatischen und afrikanischen Ländern ist dieser Zusammenhang aber viel weniger ausgeprägt als im Westen, wie die Studie nun zeigt.

Die Entwicklung von Wohlstand bedeute daher nicht automatisch eine Angleichung von Werten, so die Forschenden. Der Wohlstand sei beispielsweise in Hongkong und Kanada zwischen 2000 und 2020 ähnlich gestiegen, die Akzeptanz von Homosexualität habe aber in Kanada schneller zugenommen (von 49 auf 74 Prozent) als in Hongkong (von 29 auf 44 Prozent). Auf hohe Leistungsbereitschaft von Kindern werde in Kanada inzwischen weniger (von 53 auf 47 Prozent), in Hongkong hingegen deutlich mehr Wert gelegt (von 19 auf 52 Prozent).

Zwei Autoren untersuchten 40 Werte

Die Forschenden Conrad Jackson und Danila Medvedev aus Chicago hatten Daten des World Values Survey zwischen 1981 und 2022 ausgewertet. Erfasst wurden kulturelle Unterschiede bei insgesamt 40 Werten, verbunden etwa mit Offenheit, Gehorsam und Glauben. Demnach gibt es große Differenzen etwa bei der Beurteilung, wie wichtig es ist, Kinder religiöse Überzeugungen zu lehren und sie zu Gehorsam zu erziehen.  

Während Menschen in Australien und Pakistan zum Beispiel vor Jahrzehnten ähnliche Ansichten bezüglich des Gehorsams von Kindern hatten, so haben sich diese im Lauf der Zeit auseinander entwickelt. In Pakistan stieg der Wert derer, die Gehorsam wichtig finden, von 32 auf 49 Prozent. In Australien sank der Wert jedoch von 39 auf 18 Prozent.

Auch beim Thema Scheidung werden die Unterschiede zwischen Australien und Pakistan größer. Sie entwickeln sich jedoch nicht in gegensätzliche Richtung, sondern nur unterschiedlich schnell. Zu Beginn der Erhebung hielten nur 45 Prozent der Australier:innen Scheidungen für vertretbar, jetzt sind es 74 Prozent. In Pakistan stieg die Akzeptanz nur von 10 auf 15 Prozent.

Zwar sehe er Einschränkungen bei der Vergleichbarkeit der Messbedingungen in den einzelnen Ländern, sagte Roland Verwiebe, Professor für Sozialstrukturanalyse und soziale Ungleichheit von der Universität Potsdam. „Gleichzeitig ist aufgrund der Verwendung von sehr vielen Datenpunkten von einer sehr hohen Robustheit der Ergebnisse auszugehen, und die berichteten Trends der weltweiten Divergenz von Werten halte ich für sehr plausibel.“ Es hätten sich neue Spaltungslinien zwischen westlich geprägten, sehr wohlhabenden europäischen Ländern einerseits und asiatischen und afrikanischen Staaten andererseits herausgebildet.

Forschende sehen Konfliktpotenzial

Die zunehmende Wertekluft könne Konsequenzen für die politische Polarisierung und internationale Konflikte haben, warnt das Autorenduo Joshua Conrad Jackson und Danila Medvedev.

„Wenn die kulturellen Differenzen bei Einstellungen und Werten zunehmen, die religiöse Intoleranz wächst und gleichzeitig die Bereitschaft zur Kooperation in wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fragen abnimmt, dann können Konflikte innergesellschaftlich oder auch zwischen Gesellschaften stark zunehmen, bis hin zu militärischen Auseinandersetzungen“, erklärte Verwiebe.

Zudem gebe es eine weitere wesentliche Entwicklung: „Die liberalen Demokratien europäischer Prägung befinden sich weltweit zunehmend in der Defensive; in Teilen nimmt ihre Akzeptanz auch in stark demokratisch geprägten Gesellschaften deutlich ab, etwa in den Niederlanden, Frankreich, den USA und Deutschland.“ Die Demokratie beruhe auf dem Ausverhandeln von Interessendifferenzen, auf Akzeptanz von Meinungsunterschieden. „Ist die Demokratie auf dem Rückzug, nimmt die Intoleranz zu.“

Auch Constanze Beierlein von der Hochschule Hamm-Lippstadt erklärte, es sei weltweit zu sehen, dass Demokratien als Ausdruck emanzipatorischer Werte unter Druck geraten und dass auch in Europa autoritäre Einstellungen und Parteien Zulauf finden, in Deutschland etwa die AfD. „Wir haben bereits erlebt, dass sich europäische Länder, wie beispielsweise Ungarn, dann politisch umorientieren und auch den Kontakt zu anderen autoritären Regimen ausbauen.“

Wenn Werte wie nationale Sicherheit und Dominanz gegenüber anderen Ländern im Mittelpunkt politischen Handelns stünden, habe das auch direkte Auswirkungen auf Deutschland, so Beierlein, Leiterin des Lehrgebiets Kulturvergleichende Sozialpsychologie und Diagnostik. Etwa wenn es um Ziele wie Friedenssicherung, Umweltschutz und Menschenrechte gehe, die nur gemeinsam zu erreichen seien.

Kritikpunkte an der Studie

Beierlein äußert laut Standard aber auch Kritik an der Studie, da diese streng genommen keine Werte gemessen habe, sondern Einstellungen und Verhaltensabsichten. Werte können sich vom konkreten Verhalten aber unterscheiden und würden in der Psychologie als stabiler angesehen als Einstellungen.

Christian Welzel, Leiter des Zentrums für Demokratieforschung an der Leuphana Universität und Vizepräsident der World Values Survey Association, warnt im Kurier ebenfalls davor, die Diskrepanzen zwischen den Werten überzubetonen.

„Internationale Kooperation ist nicht das Problem, weil es hier nicht um Werteunterschiede, sondern um Interessenkonflikte geht“, sagt Welzel und nennt als Beispiel den Krieg in der Ukraine. Deren Bevölkerung habe in der World Values Survey sehr ähnliche Wertvorstellungen wie die russische, doch geopolitisch hätten beide Länder völlig gegensätzliche Interessen. Problematisch seien unterschiedliche Wertvorstellungen vor allem beim Thema Migration. Welzel spricht hier von einer „Herausforderung an die Integrationspolitik“.

Weitere Quellen: Standard, Kurier

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